Die visionäre Kunst des Alex Grey

„Theosis“ (Ausschnitt), 1986, Acryl auf Leinen, 152 x 457 cm

Menschliche Körper, in die wir wie mit einem Röntgenblick hineinsehen können – in denen wir Knochen, das Netz der Blutgefässe und Nerven genauso erkennen wie die feinstofflichen Energiesysteme, die den Mikro- mit dem Makrokosmos verbinden, unseren Körper mit dem allgegenwärtigen und alles durchdringenden Prana versorgen. Und in alle Richtungen über unseren Körper hinaus verläuft ein leuchtendes Netzwerk von Energiezellen wie ein kosmisches Bewusstseinsgitter, das alles mit allem verbindet. Am unteren Ende der Wirbelsäule ruht die spirituelle Kraft wie eine aufgerollte Schlange, die vor unseren Augen erwacht und aufsteigen will. Und auf einem anderen Gemälde tritt uns die Seele entgegen: Geläutert im Feuer der Bewusstheit, steigt sie auf, um sich, ihre Mitmenschen und ihre Umwelt als Aspekt Gottes zu erfahren.

„Beten“, 1984, Öl auf Leinen, 91 x 122 cm

Egal welches der mehr als lebensgroßen Gemälde des New Yorker Künstlers Alex Grey wir betrachten, es verfehlt seine Wirkung nicht: Wir werden gleichsam in es hineingesogen, haben das Gefühl, in unser „eigenes Inneres“ zu schauen, einem Teil von uns selbst zu begegnen. „Es sind … kulturübergreifende, hybride, mystische Bilder“, erklärt Alex Grey in seinem Buch Sacred Mirrors. „Ich bin überzeugt, dass es eine das Bewusstsein überschreitende Welt der Archetypen gibt, aus der alle spirituellen Bilder hervorgehen. Aufgabe des visionären Künstlers ist es, die höheren spirituellen Seinszustände an sich zu erfahren und diese Erfahrung – in Form von Energie und Bildern – in sein Schaffen einzubringen.“ Und diese Mission erfüllt Grey, indem er seine Arbeiten mit einer bedingungslosen Intensität durchtränkt, nicht nur was die beträchtliche Arbeit und das handwerkliche Können anbelangt, die sich in den anatomisch detailgetreuen riesigen Darstellungen zeigen, sondern mehr noch im Hinblick auf die kosmologische Sicht von Körper, Geist und Seele, die in dem in den Jahren 1979 bis 1989 entstandenen Zyklus „Sacred Mirrors“ reinsten künstlerischen Ausdruck finden.

Alex Greys Kunst ist aber keine spirituelle Kunst, wie wir sie kennen. Sie stellt einen Weg der Selbstentfaltung dar, der die Polaritäten des menschlichen Lebens aufnimmt und vereint. Seine Bilder beschränken sich nicht allein auf Szenen des geläuterten Menschen, der lichte Höhen erklimmt. Ihre Kraft liegt darin, dass er uns die gesamte Bandbreite der menschlichen Erfahrung vor Augen führt und sie mit seiner „Vision vom kosmischen Bewusstseinsgitter“ verbindet. Diese Kunst ist beunruhigend – weil anatomisch detailgetreu und korrekt wie ein medizinisches Lehrbuch – und erhaben zugleich und der Künstler ist eine Art Schamane, ein geheimnisvoller Heiler der Gruppenseele und der dunklen Seiten, die unsere hypertechnologische, körperlich und spirituell entfremdete Kultur gegenwärtig durchläuft.

„Heiliges Feuer“ Triptychon, 1986-87, Öl auf Leinen, 549 x 229 cm

Die „Sacred Mirrors“ sind eine Art persönlicher Apotheose in Greys Kunst, in ihnen zeigen sich die visuellen und die metaphysischen Erkundungen vieler Jahre. Greys Jugend und sein frühes Erwachsenenalter waren nach eigenen Aussagen durchdrungen von einem Gefühl der Sinnlosigkeit. Die frühen Werke spiegeln seine Lebensangst und die Ernüchterung wider, die Vietnam, Watergate, Nietzsche und die psycheledische Bewegung bei ihm hinterlassen haben. In den frühen 70er-Jahren wandte er sich der Performance-Kunst zu, die oft grausige und in unserem Wertsystem tabuisierte Sachverhalte zutage förderte und doch stets nur Hilfsmittel und zugleich Ausdruck seines Suchens waren. In den späten 70er-Jahren arbeitete Grey in einem anatomischen Institut, half bei der Präparation von Leichen und studierte so den menschlichen Körper und seine Anatomie, doch diese Arbeit führte ihn in eine Krise, in der er sich selbst als Künstler und als menschliches Wesen neu finden musste. Und am Ende dieses Bewusstwerdungsprozesses standen die 21 Bilder des Zyklus „Sacred Mirrors“ – als Dokumentation einer bewegenden Reise durch die verschiedenen Dimensionen des Menschseins.

„Stillen“, 1983-86, Öl auf Leinen, 76 x 102 cm

Diese Arbeiten entfalten ihre Kraft, wenn der Betrachter eines nach dem anderen auf sich wirken lässt: die verschiedenen anatomischen Systeme des menschlichen Körpers, die den Körper in seiner erstaunlichen Komplexität zeigen; die realistischen nackten Darstellungen von Frauen und Männern verschiedener Rassenzugehörigkeit; das feinstoffliche und das spirituelle Energiesystem und das kosmische Bewusstseinsgitter; die Leere, in der das eigene Sein dem gestaltlosen Urzustand entgegentritt; die spirituellen Wesen – Bodhisattva Avalokiteshvara, Buddha, Christus und Sophia –, die den Zustand des vollkommenen Bewusstseins verkörpern, und die spirituelle Welt, in der Gott seinen Sitz in unserem eigenen Selbst hat.

Die Bildfolge „Entwicklung der Seele“, die im Anschluss an „Sacred Mirrors“ entstand, zeigt ein sich entwickelndes Ich-Bewusstsein. Der physische, sterbliche Prozess unseres Lebens wird in einen metaphysischen Zusammenhang gestellt, der Körper, Geist und Seele ebenso berücksichtigt wie die Verbundenheit aller Geschöpfe.

Aus jedem von Alex Greys Werken spricht eine ungeheure Liebe zum Detail,und jedes besitzt eine starke auffordernde Kraft: Wer die Gemälde betrachtet, dem eröffnen sich neue Erfahrungswelten, ein Verstehen, das die Grenzen des Bewusstseins übersteigt, und ihn in das Reich des Unbekannten, Unerforschten eintauchen lässt … Und darin liegen die eigentliche Schönheit, die Wahrheit und der Frieden seiner Kunst.

Alex Grey, 1953 in Columbus, Ohio, als Sohn eines Grafik-Designers geboren, ist ein US-amerikanischer Künstler. Er studierte am Columbus College of Art and Design und besuchte die Boston Museum School. Fünf Jahre arbeitete er in der anatomischen Abteilung der Harvard Medical School und studierte den menschlichen Körper und seine Anatomie. Alex Grey lehrte zehn Jahre lang anatomisches Zeichnen und Plastizieren an der New Yorker University. Heute gibt er Kurse für spirituelle Malerei an verschiedenen Instituten in den USA. Er lebt mit seiner Frau Allyson und der gemeinsamen Tochter, der Schauspielerin Zena Grey, in New York City. Seine Bilder wurden bereits in zahlreichen namhaften Galerien und Museen in den USA, in Deutschland, Frankreich, Kanada und Brasilien ausgestellt. Den Zyklus „Sacred Mirrors“ kann man ununterbrochen in Alex Greys Galerie „COSM – Chapel of Sacred Mirrors“ in New York City sehen.

BUCH-TIPP
Grey, Alex
Sacred Mirrors
103 Seiten, € 24,90
ISBN: 978-3-939570-24-0
Hans-Nietsch-Verlag