Vater Himmel, Mutter Erde

Wolf-Dieter Storl ist der wohl bekannteste Kräuterkundige Deutschlands. Seine Bücher zu verschiedenen Pflanzenthemen sind Bestseller und sein Wissen über Pflanzen und ihre Heilwirkung ist mehr als umfangreich. Sein ursprüngliches Studiengebiet ist aber die Anthropologie. Während seiner Studien- und Lehrtätigkeit in den USA lebte er längere Zeit bei den Cheyenne-Indianern, deren Weltbild ihn stark beeindruckte und beeinflusste. Dirk Grosser sprach mit ihm über den Ursprung des Menschen, die Entwicklung des Bewusstseins und den Weg der Spiritualität von den Anfängen bis heute…

newsage: Wie haben Menschen in der Frühzeit ihre Spiritualität gelebt? Sie war ja offenbar ein Teil des alltäglichen Lebens. Das ganze Sein war durchsetzt von der Begegnung mit der Anderswelt, dem Spirituellen…
Storl: Ihr Leben, das Leben überhaupt, war von Spiritualität durchdrungen. Die Einteilung in profan und heilig kannten sie nicht. Sie brauchten keine Tempel und Kirchen. Es ist, wie es im Tao Te King des Laotse heißt: Erst als der Weg verloren ging, tauchte die Tugend auf; als die Tugend verloren ging tauchte die Güte auf; als die Güte verloren ging tauchte die Gerechtigkeit auf; als die Gerechtigkeit verloren ging, tauchte die Moral auf. Die Moral, sagt Laotse, der chinesische Meister, ist eine Verkümmerung von Vertrauen und Treue und der Anfang der Verwirrung. Das Tao Te King ist uralt, und es basiert vermutlich auf noch älterem schamanischen Wissen. Es spricht von dieser Frühzeit, in der man Begriffe wie Moral, Gerechtigkeit, Tugend und so weiter nicht brauchte, auch nicht Spiritualität, weil man ganz natürlich tugendhaft und spirituell war. Die Erinnerung an diese Zeit schlägt sich wahrscheinlich in den Sagen um das Goldene Zeitalter nieder.

newsage: Stimmt es, dass es Naturvölker gibt, die kein Wort für Natur haben, weil sie es nicht nötig haben, sich davon zu abstrahieren?
Storl: Das kommt darauf an, also die Germanen hatten auch kein Wort für Natur, aber die hatten ein Wort „Mittelerde“, Mid Earth, Midgard, der Garten in der Mitte, der Ort, wo sie und all die Tiere, Menschen und die Kräuter und Bäume und so weiter zu Hause sind. Darüber hinaus gab es Utgard, wo die Geister sind, die Dämonen, Trolle, Götter oder die Toten. Natur heißt ja einfach „das Geborene“, das Wort kommt aus dem Lateinischen. Im Chinesischen umschreibt man das Wort Natur mit dem Begriff Tsu Jan, das Spontane, das, was von alleine geschieht. So etwa, wie die Wolken vorüberziehen und das Gras von alleine wächst, ohne menschliches Zutun. Im Tsu Jan steckt mehr Weisheit, als in unserem gezwungenen Denken. Natur ist das ursprüngliche, die ewigen Rhythmen der Jahreszeiten, der Reigen der Sterne und der Planeten, das spontane Wachstum des Grases und das Ziehen der Wolken über den Himmel. Daran kann man sich orientieren, das ist der Weg zurück zur Spiritualität.

newsage: Welche Rolle spielten die Zyklen der Natur, wie die Jahreszeiten?
Storl: Ich sehe das selbst hier im Garten: Jetzt liegt noch ein bisschen Schnee auf den Beeten, aber sobald der weg ist, muss ich hingehen und umgraben. Wenn ich es nicht tue, kommen die Unkräuter – die Wildkräuter sagt man ja heute – und überwuchern alles. Man kann zwar viele Wildkräuter essen oder als Medizin nehmen, aber so viel kann man auch nicht essen und so viel Medizin braucht man vielleicht gar nicht. Man muss immer da sein. Man muss zur rechten Zeit säen. Die Natur ist voller Rhythmen. Die ganze Natur tanzt im Einklang mit der Sonne und mit dem Mond. Der Mensch ist vollkommen eingebunden in diese Rhythmen, und diese Rhythmen sind Ausdruck dieses göttlichen Tanzes. Es sind göttliche Rhythmen.

newsage: Wurden diese Rhythmen auch schon in der Frühzeit verstanden oder kam das erst mit dem Bewusstsein für Aussaat- und Ernterhythmen auf?
Storl: Sicherlich schon immer war man sich dieser Rhythmen, dieses Herzschlags der Mutter Erde, dieses Reigens der Wandelsterne bewusst. Die Tiere, die Büffel, die Hirsche haben ihre jahreszeitlichen Wanderungen, die Zugvögel fliegen fort und kommen wieder, die Lachse schwimmen flussaufwärts zum Laichen, die Frösche feiern Hochzeit im Tümpel im Frühlingsvollmond, die wilden Erdbeeren reifen, dann die Himbeeren und Heidelbeeren, dann später im Frühherbst die Brombeeren und Holunderbeeren. Grassamen und Piniennüsse müssen nun gesammelt werden. Das macht das Leben aus und die Menschen, die steinzeitlichen Jäger und Sammlerinnen, waren in diese Rhythmen eingebunden und kannten sie. Schon lange vor der Zeit als man Aussaat- und Ernterhythmen beachten musste, kannte man das.

newsage: Was können wir von den indigenen Völkern heute lernen? Was können wir annehmen?
Storl: Was wir annehmen können, ist, dass wir uns immer wieder auf unsere Wurzeln besinnen. Darauf, dass wir wirklich Naturwesen sind, dass die Natur heilig, wirklich heilig ist. Wir müssen uns erinnern an Mutter Erde, Vater Himmel. Denn wir verlieren immer mehr den Weg. Wir machen sehr vieles Intelligentes, was sich aber später als sehr zerstörerisch erweist. Wir verlieren das Natürliche, was sich über Jahrmillionen harmonisch entwickelt hat. Das Gras wächst, die Wolken ziehen vorbei, doch wir sehen das gar nicht mehr. Mir fällt das immer auf, wenn ich mit Leuten spazieren gehe, die nehmen gar nichts mehr war, keinen Vogel, kein Gras. Die marschieren durch die Natur und im Kopf läuft dann so eine Gedankenmaschinerie. Die laufen am Leben vorbei.

Bei den Naturvölkern habe ich gelernt meine eigenen kulturellen Wurzeln wieder zu verstehen. Dadurch konnte ich mich selber und mein eigenes Wesen besser verstehen. Alles was da bruchstückhaft als alter Aberglaube, ländliches Brauchtum, Sage und Märchen vor mir lag, fügte sich zusammen, wie Teile eines zerbrochenen Tontopfs, den ein Archäologe bei einer Ausgrabung findet. Wurzeln sind wichtig für den Baum, kulturelle Wurzeln für den Menschen.

newsage: Hast du Veränderungen an dir bemerkt, nachdem Du jahrelang bei den Cheyenne gelebt hast, z. B. dein Verhalten gegenüber anderen Lebewesen? Hast du dich verändert?
Storl: Mein Aufenthalt dort hat mich befreit von diesem distanzierten, mitleidlosen, gefühlslosen, kalten, herzlosen Beobachten. Mir sind die Pflanzen viel nähergekommen, Pflanzen als Pflanzenvolk, als grünes Volk. Das klingt irrational, ist es auch im gewissen Sinn, aber die Cheyenne haben damit überlebt. Und sie haben die Fähigkeit, hinter die Erscheinungen zu gehen. Wir gehen hinter die Erscheinungen mittels Mikroskopen und durch Experimente und so weiter, aber das ist etwas anderes als ein geistiges Bild einer Pflanze als Geistwesen, das sich verkörpert, zu erleben.

newsage: „Die Wurzeln in der Erde und die Äste im Himmel“. Braucht man die Wurzeln in der Erde, um sich zum Himmel, also zum Jenseitigen strecken zu können?
Storl: Traditionell wird das vielerorts umgekehrt gesehen, da heißt es, der Mensch wurzelt im Himmel. Im Rgveda gibt es einen Baum, Asvattha heißt der, der hat seine Wurzeln im Himmel und seine Blätter unten. Jedes Blatt enthält die Veden, also die Urweisheit. Wer das weiß, der weiß alles. Und das ist auch so ein Bild, das man im ethnologischen Vergleich immer wieder findet. Die australischen Ureinwohner haben ein Ritual, bei dem sie einen Baum entwurzeln und umgekehrt in die Erde stecken, den Baum dann mit Ocker oder Blut anmalen, und das symbolisiert den Menschen. Bei den Anthroposophen gibt es das Bild, dass die Pflanze im ursprünglichen Verhältnis zu Himmel und Erde ist. Deren Fortpflanzungsorgane erblühen nach oben und der Kopf, also die Nervenfasern, sind ihre Wurzeln, die die Erde wie Sinne durchtasten und Eindrücke aufnehmen. Unten ist der aufnehmende Pol, und oben ist der ausscheidende Pol, wo sich die Pflanze vermehrt. Beim Tier ist das Ganze mehr oder weniger horizontal angesiedelt, es nimmt eine Zwischenposition ein. Der Mensch ist wie eine umgekehrte Pflanze. Da sind die abgebenden, die duftenden, verduftenden und fortpflanzenden Organe unten und die aufnehmenden Sinne sind oben, und in der Mitte ist wie bei den Pflanzen der Ausgleich, das Ein- und Ausatmen. Und so war auch das entsprechende Menschenbild, dass die Wurzeln im Himmel sind und die Zweige auf der Erde.

newsage: Müssten wir heute nicht versuchen, dieses Bild umzukehren? Die Wurzeln in der Erde zu haben, erscheint mir persönlich sinnvoller…
Storl: Natürlich sind wir auch mit der Erde verwurzelt – diese Mutter, diese Mater, stellt die Materie zur Verfügung, dass sich die Archetypen, die Geister der Menschen, Tiere und Pflanzen verkörpern können. Sie macht unser kostbares Dasein möglich. Auch unsere Ahnen sind in der Erde begraben. So können wir beide Bilder akzeptieren, die sind ja kein Widerspruch, wir haben unsere Wurzeln im Himmel wie auch in der Erde.

Die Worte „human“ und „Homo“, wie in Homo sapiens beruhen ja auf dem lateinischen Begriff humus, also „Erde“, „Erdboden“. Wir sind Kinder der Erde, Erdgeborene und als solche sterblich. Unser Körper ist ein Geschenk der Erde und wir müssen ihn wieder zurückgeben.

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