Stress ist heutzutage ein so verbreitetes Phänomen, dass man glauben könnte, wir hätten verlernt, wie man abschaltet. Vielleicht, weil wir zu sehr versuchen, uns dem Tempo unserer hochtechnisierten Welt anzupassen. Erst wenn wir wieder unserem eigenen Rhythmus von An- und Entspannung folgen, können wir aufatmen und auftanken.
Stresssymptome bis hin zu Burnout häufen sich derzeit. Das Thema beschäftigt beinahe jeden – und das sollte es auch, denn nicht selten führen die Beschwerden zu ernsthafteren Erkrankungen. Die Prozesse in unserer wirtschaftlichen und sozialen Umwelt werden ständig optimiert, damit sich die Dinge „rechnen“. Fast alles wird unter dem Blickpunkt der Effizienz betrachtet. Beim Menschen erzeugt dies eine unterschwellige Angespanntheit – Angst vor Verlust der Lebensgrundlage und des sozialen Halts. So versucht man, mitzuhalten, sich den Anforderungen immer wieder anzupassen. Stress ist damit vorprogrammiert.
Unsere Abkopplung von natürlichen Rhythmen schadet Körper und Geist. Die beste Methode, mit den heutigen Herausforderungen umzugehen, ist der Weg nach innen. Innen liegen zum einen unsere eigenen psychologischen Unzulänglichkeiten, die Stress erzeugen können und die es zu ermitteln gilt. Zum anderen können wir noch tiefer in uns Stille finden – die wahre Quelle unserer Energie.
Wer zu sehr im Außen ist, sich von den vielen Reizen und Anforderungen wie ein Blatt im Wind herumwirbeln lässt, verliert die Verbindung zu sich und seinem eigenen Rhythmus. Jeder stellt dabei einen individuellen Konstitutionstyp dar, der berücksichtigst werden sollte. Der eine ist eher ein tatkräftiger Mensch, der starke Reize braucht, die gefolgt sind von kurzen, aber drastischen Ruhepausen; der andere ist eher der ausdauernde Typ, der ein gleichmäßiges, weniger extremes Auf und Ab an Reizen und Ruhepausen benötigt. Fakt ist: Ruhepausen braucht jeder. Niemand kann durchgehend aktiv sein. Je besser dabei jemand in Zeiten der Ruhe abschalten kann, umso schneller sind seine Energiereserven wieder aufgefüllt.
Stille
Genau in diesem Sachverhalt liegt ein erster spiritueller Aspekt: Inwieweit sind wir fähig, still zu sein? Stille bzw. das Stillwerden ist in fast allen religiösen Traditionen von Bedeutung. In der christlichen Tradition spricht man von „Gebet“, ein Schamane würde vielleicht von „Trance“ sprechen, die Buddhisten sagen „Meditation“. Allen gemein ist: Die alltäglichen Gedanken sollen zur Ruhe kommen, bis die wahre innere Natur des Menschen sich offenbart und eine Verbindung schafft zu der Kraft, die manche „Gott“, andere „Buddha“ und wieder andere „Spirit“ nennen.
Wie steht es also um unsere Fähigkeit, still zu werden? Tatsächlich ist es so, dass die wenigsten Menschen mit Leichtigkeit ihre inneren Gespräche abstellen können. Wer sich schon einmal in der Mediation geübt hat, weiß, wie wenig Stille man zwischen all den auftauchenden Gedanken erreicht. Deshalb besteht eine der grundlegenden Mediationsübungen, die man immer wieder in einschlägigen Ratgebern findet, darin, dass man seine Gedanken einfach nur beobachtet und vorüberziehen lässt – wie Wolken am Himmel.
Gedanken triggern in uns die Tendenz zur Anhaftung. Sie erregen unsere Aufmerksamkeit, da sie sich immer mit der Vergangenheit oder der Zukunft auseinandersetzen. Und in diese Richtungen spinnen sich die Fäden der Assozia-tionen leicht weiter. Ein Gedanke folgt auf den anderen. Die Vergangenheit löst dabei Emotionen der Reue, der Nostalgie, die Zukunft Hoffnung oder Angst aus. Gedanken, die sich hingegen mit dem Hier und Jetzt befassen, sind sehr kurzlebig. Meist sind es Beobachtungen im gegenwärtigen Augenblick. Schnell springen sie vom Augenblick in eine Überlegung, die mit dem Jetzt nichts mehr zu tun hat.
Stille ist eine ungemein wertvolle Hilfe, wenn man sich von Stress befreien will. „Stress entsteht im Wesentlichen dadurch, dass der Geist woanders ist als der Körper“, schreibt die Autorin Regina Bönsel, die seit Jahren das „spirituelle Stressmanagement nach Sri Sri Ravi Shankar“ praktiziert und lehrt. Sie begegnete dem spirituellen Lehrer 1987 und war nach anfänglicher Skepsis von seinen Lehren, die auf hinduistischer Tradition, Yoga und Meditation beruhen, begeistert. Der erste Schritt zu einer stressfreien Lebensart besteht dabei im Akzeptieren des Stresses. Regina Bönsel rät, den Stress zuallererst willkommen zu heißen. Denn wer denkt: „Ich muss den Stress loswerden“, gerät in nur noch größeren Stress. Das Annehmen der gegenwärtigen Lage bringt einen hingegen ins Hier und Jetzt.
Was will ich?
Um in unserer komplexen Welt zurechtzukommen, ist es gut, wenn man das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden kann. Dazu muss man zunächst einmal wissen, was man selber will. Eine stete Selbstbeobachtung bringt uns diesem Ziel näher. Durch Selbstbeobachtung schaffen wir eine grundlegende Voraussetzung für Veränderung: Sie schafft Distanz zum Geschehen und zu dem, was Sri Sri Ravi Shankar das „kleine Ich“ nennt. Dieses kleine Ich, das Ego, tendiert dazu, sich mit seinen Gedanken zu identifizieren. Es ist sozusagen diese Gedanken. Mittels des über Jahre entstandenen Selbstbildes, das eigentlich nur durch Gedanken aufrechterhalten wird, vergleicht es sich mit anderen, wähnt sich in verschiedenste Probleme involviert und meint, ständig etwas tun zu müssen, da es die Kontrolle über das Leben des vermeintlichen Selbst behalten will.
Wenn wir beginnen, weniger auf unsere Gedanken zu achten, und unserem Gefühl und dem Leben selbst stattdessen wieder mehr vertrauen, entfernen wir uns schrittweise vom Ego. Nur der Verstand will uns stets einreden, dass wir Kontrolle über alles haben können, dass Gefahren lauern, weil wir getrennt sind von der Welt. Solche Überzeugungen werden in der Selbstbeobachtung enttarnt. Je besser wir uns dabei erkennen, umso weniger tappen wir in die Falle solcher Gedanken.
Es ist mehr die persönliche Wahrnehmung der Außenwelt und unsere Reaktionen darauf, die zu einem körperlichen Spannungszustand führen. So kann eine ständige Unstimmigkeit zwischen Innen- und Außenwelt bestehen. Machen Sie sich daher bewusst, was sich gerade in Ihnen abspielt. Selbstbeobachtung und Gegenwärtigkeit lassen Sie das innere Hin- und Hergerissensein erkennen.
Ein anderer Weg, um sich vom Ego zu entfernen, besteht im Dienen. Wenn wir uns in den Dienst eines Menschen oder eines wohltätigen Zwecks stellen, müssen wir uns ganz konkret in den Hintergrund begeben.
Meditation
Regelmäßiges Meditieren ist das Mittel erster Wahl, um still zu werden und in Kontakt mit dem eigenen innersten Kern zu kommen. Die in der Meditation erfahrene Stille, die mit Übung immer leichter erreichbar wird, überträgt sich mit der Zeit auf das alltägliche Leben, so dass auch hier die Gegenwärtigkeit zunimmt. In der Meditation, der Stille, kommen wir mit etwas in Kontakt, was unter unserer Oberfläche liegt: mit unserem tieferen Wesen, dem uns innewohnenden Wissen. Sri Sri Ravi Shankar sagt, dass unser Wesen im Grunde Stille ist. Die Meditation beschreibt er folgendermaßen:
„Anstrengung ist die Sprache des Körpers. Loslassen ist der Schlüssel zum Geist. Meditation ist die Kunst, nichts zu tun. Meditation heißt nicht Konzentration, sie ist das Gegenteil. Konzentration ist das Ergebnis von Meditation. Für alles im Leben benötigen wir Anspannung, nur nicht für Meditation. Loslassen ist die Sprache des Geistes.“
Atmung
Die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und zum Gewahrsein lässt sich auch durch den Atem steigern. Beginnt man im Zuge der Selbstbeobachtung, in sich hineinzuspüren, so wird man in der augenblicklichen Atmung einen guten Indikator für seinen Zustand erkennen. In Stressituationen verflacht sich beispielsweise die Atmung, manchmal halten wir den Atem ganz an. Mit gezielten Atemübungen kann man hier gegensteuern. Negative Gefühle, die sich im Laufe des Tages angesammelt haben, kann man z.B. mit einer tiefen Atmung loslassen. Durch die Atmung nehmen wir nämlich nicht nur physisch Energie auf. Auch emotionale Energie lässt sich mit der Atmung leiten.
„Der einfachste Weg, positiv auf die verschiedenen Stimmungslagen Einfluss zu nehmen, geht über den Atem“ – diese Erkenntnis findet man auch in dem uralten Text zum „achtfachen Pfad des Yoga“ nach Pantanjali. Atemübungen sind demnach das kraftvollste Werkzeug, um alle Stimmungsschwankungen zu meistern, gefolgt von den Asanas, den Körperübungen, und der Meditation. Richtig atmen bedeutet, tief zu atmen, das ganze Lungenvolumen zu nutzen. Um Anspannung oder Negativität loszuwerden, empfiehlt sich folgende Atemübung:
Diese Übung dauert etwa 5 bis 8 Minuten. Sie können sie im Sitzen oder im Liegen ausführen, draußen in der Natur, im Büro oder zu Hause bei geöffnetem Fenster. Sobald Sie etwas Übung haben, können Sie sie auch während eines Spaziergangs machen. Atmen Sie durch die Nase tief ein und halten Sie den Atem so lange an, wie es angenehm für Sie ist (3 bis 5 Sekunden). Atmen Sie dann durch den offenen Mund mit einem langgezogenen Haaahhh-Laut aus. Wiederholen Sie diese Übung 10- bis 15-mal, wenn Sie mögen, auch öfter. Dies ist eine der einfachsten Übungen, um uns von allem Belastenden zu befreien und gleichzeitig Raum und Weite in uns zu schaffen, damit Neues entstehen kann. Stellen Sie sich vor, wie Lebenskraft mit dem Einatmen in Sie hineinströmt und jede Zelle damit anreichert, während Sie die Luft anhalten, um dann mit dem Ausatmen und dem Haaahhh-Laut alles Belastende abzugeben.
Yoga
Neben Meditation, Gewahrsein und Atemübungen ist das Praktizieren von Yoga-Übungen eine sehr gute Methode, Stress abzubauen. Die verschiedenen Asanas lenken die Aufmerksamkeit auf den Körper, der immer im Jetzt ist. Sie entlasten und harmonisieren die verschiedenen Körpersysteme, die für unterschiedliche energetische Abläufe zuständig sind. Die Übungen lassen sich jederzeit machen und reichen von ganz leichten Bewegungsabläufen bis hin zu schwierigen „Verrenkungen“. In ihrem Buch hat Regina Bönsel eine Reihe von einfachen Übungen zusammengestellt, die auch am Arbeitsplatz gemacht werden können. Sie lösen Verspannungen, die z.B. typisch sind für das Arbeiten am Schreibtisch.
Sri Sri Ravi Shankar hat viele weitere praktische Ratschläge zum Umgang mit unserem turbulenten Leben und unserem aufgeregten Geist. So stellt er eine Reihe von mentalen Konzepten vor, die uns zu einer anderen Sichtweise der Dinge verhelfen. Er erläutert z.B., wie wir unser Leben in einem größeren Zusammenhang sehen, uns der Vergänglichkeit des Lebens bewusst werden und Vorurteile überwinden können oder mit Humor zu mehr Gelassenheit finden. Er kennt auch die Angst vieler westlicher Menschen, Fehler zu machen, und erklärt ganz wunderbar, wie wir unseren Perfektionsdrang mildern können. Lesen Sie abschließend seine Ausführung dazu:
„Erwarten Sie keine Perfektion! Oft werden Sie wütend oder unglücklich, weil Sie nach Perfektion fiebern. Wenn Sie ein Perfektionist sind, neigen Sie ganz bestimmt auch zur Wut. … Perfektion ist für den Erleuchteten ganz normal. Wenn wir uns freuen, erwarten wir keine Perfektion. Wenn Sie Perfektion erwarten, dann sind Sie nicht an der Quelle der Freude. Die Freude ist die Erkenntnis, dass man von der Weisheit nicht freinehmen kann. Die Welt scheint oberflächlich unzulänglich zu sein, aber unter dieser Oberfläche ist alles perfekt. In dieser Welt kann nicht alles immerzu perfekt sein.
Selbst die besten, höchsten Handlungen, die mit der allerbesten Absicht ausgeführt wurden, werden eine kleine Unzulänglichkeit haben. Das ist ganz normal. Leider konzentriert sich unser Geist nur allzu gern auf die Unzulänglichkeiten und hält an ihnen fest. Dadurch werden unsere Stimmung, unser Geist unzulänglich und unsere Seele hält an diesem Nonsens fest. Wir müssen aus diesem Kreislauf aussteigen und von innen her stark und mutig werden.“
Atempause Jetzt! Spirituelles Stressmanagement nach Sri Sri Ravi Shankar
127 Seiten inkl. CD, € 14,95
ISBN: 978-3-89901-422-8
Verlag J. Kamphausen