Gesicht eines Mannes

Der ganz normale Wahnsinn

Obwohl wir viel Wissen darüber gesammelt haben, wie unsere Welt ein besserer Ort sein könnte, handeln wir nicht immer nach diesem Wissen. Als seien wir ein bisschen gespalten oder schizophren und unfähig, nach unseren Überzeugungen zu handeln. Auf diese Weise sind in der Welt viele Missstände entstanden. Eine genaue Betrachtung der Lage zeigt, dass das Problem nicht in der Welt, nicht beim anderen, sondern in unserem eigenen Geist liegt.

Gesicht eines MannesDer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung traf 1932 in New Mexico den Indianerhäuptling Mountain Lake. Als Jung ihn nach seiner Meinung über die Europäer fragte, die sein Land erobert hatten, war seine Urteil vernichtend: »Die Weißen wollen immer etwas. Sie sind immer unruhig und rastlos. Wir wissen nicht, was sie wollen. Wir verstehen sie nicht. Wir denken, dass sie verrückt sind.«

Es gibt durch die Geschichte hindurch viele ähnliche Berichte, die zeigen, wie verrückt die Menschen der westlichen Welt auf indigene Völker gewirkt haben. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Welten, die aufeinanderprallten, waren grundlegend und – für die Indigenen – in etlichen Fällen fatal. Zu den wichtigsten Unterschieden zwischen den vermeintlich zivilisierten und den indigenen Völkern zählen, dass letztere kaum Besitz kennen und die Dinge teilen; sie fühlen sich stärker voneinander und von der Erde abhängig und sind keine Sklaven der Zeit. Außerdem können sie völlig gegenwärtig sein – und warten. Das sind einige der Unterschiede, die zwei völlig unterschiedliche Weltbilder entstehen lassen!

Zwei unterschiedliche Weltanschauungen

Ethnologen haben seit jeher die andere Zeitwahrnehmung indigener Völker hervorgehoben. Ihr Zeitverständnis scheint weniger linear als vielmehr zyklisch angelegt zu sein. Man nimmt an, dass das In-die-Zukunft-Planen und das Vorräte-Anlegen mit dem Ackerbau entstand, bei dem es leichter wurde, mehr als nötig anzubauen und zu lagern. Durch die Möglichkeit des Hortens könnte der Wettbewerb entstanden sein. Die langfristigen kollektiven Wirkungen davon münden vielfach in Krieg, sozialer Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Dominanz.

Die meisten indigenen Völker der Erde gründen ihre Weltanschauung auf der Überzeugung, die ganze Welt und alles, was auf ihr lebt, sei von lebendiger Kraft durchdrungen. Sie scheinen mehr zu sehen als die meisten von uns – Seelen und Energien, wohin man schaut –, und agieren in Harmonie mit dem, was sie wahrnehmen. Sie wissen, dass alles gedeiht und vergeht und wieder entsteht – und so vertrauen sie auf die Kreisläufe der Natur.

Aber wie kam es zu diesen Unterschieden, die so folgenreich sind? Was hat uns von der Natur entfremdet und dazu gebracht, Materielles oft mehr zu schätzen als das Gefühl des Lebendigen?

Ein »überentwickeltes Ego«

Unser Grundproblem, so behauptet der britische Autor und Psychologe Steve Taylor, besteht darin, dass mit unserem Geist tatsächlich etwas nicht stimmt. Wir leiden ihm zufolge an einer grundlegenden psychischen Störung, die dieses dysfunktionale Verhalten erzeugt, sowohl als Individuen als auch als Spezies. »Wir sind alle leicht irre – aber weil dieser Irrsinn ein uns wesenhafter ist, bemerken wir ihn nicht. Ich nenne diese Störung »Humanie«, eine Fehlfunktion und Fehlentwicklung eines »überentwickelten Ego«, schreibt er in seinem Buch »Verrückte Welt«.

Das klingt drastisch, aber auf irgendeine Art und Weise haben wir vielleicht so eine leise Ahnung, dass zumindest etwas dran sein könnte an Taylors Sichtweise. Einen Unterschied zu unserem Alltagsbewusstsein bemerken wir z.B. in diesen seltenen Momenten, die uns unweigerlich innehalten lassen. Unvermittelt schauen wir aus dem Fenster, ein Vogel blickt uns aus einem Baum an: Und plötzlich bleibt die Zeit stehen. Für einen Moment haben sich die Gedanken in Luft aufgelöst.

Sicher ist Ihnen auch andererseits schon einmal aufgefallen, wie unbewusst wir vieles tun. Wir essen z.B. und sind oft im Nu fertig. Manchmal bemerken wir dann plötzlich, dass wir die letzten Bissen einfach verpasst haben. Wir haben zwar etwas gegessen, aber wir haben es nicht wirklich geschmeckt. Es ist, als ob uns etwas drängt, die Aufmerksamkeit ständig auf etwas zu richten. So greifen wir nach der Zeitschrift, nach dem Handy oder schalten den Fernseher oder das Radio an. Den ganzen Tag sind wir auf die Weise überall, nur nicht hier.

Die vielfältigen Wege der Zerstreuung führen uns jedoch allesamt weg von uns selbst, weg von unserem Innersten, mit dem wir uns eher ungern befassen. Zuviel »innere Zerrissenheit«, wie es Taylor nennt, begegnet uns dort. Aus demselben Grund nehmen so viele Menschen Drogen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Stars und reiche Menschen im Verhältnis mehr Drogen nehmen und mehr zu Depressionen oder anderen psychischen Störungen neigen als der »Normalbürger«. Sie sind also keineswegs glücklicher als weniger bekannte und weniger wohlhabende Menschen. Wir kennen Stars und Sternchen meist nur in der Hochphase ihres Ruhms. Oft enden ihre Karrieren jedoch in der Sucht. Vielleicht liegt es daran, dass die Leute, die uns von den Medien als nachahmenswerte Vorbilder vorgeführt werden, durch Ruhm und Ansehen ein völlig »überfüttertes« Ego haben, welches jenes für das Ego typische Gefühl der Trennung von der Welt noch größer werden lässt.

Es ist schon seltsam, dass die Mehrheit von uns unfähig ist, einfach mit sich selbst zu sein. Warum sollten wir den Großteil unserer Zeit in passiver tumber Versunkenheit verbringen? Finden wir uns wirklich so anstrengend? Die von Steve Taylor postulierte »Humanie« ist aus der sogenannten »Ego-Abtrennung« entstanden. Der westliche Mensch fühlt sich vom anderen und von der Welt getrennt, gefangen in seinem Kopf, in dem er Selbstgespräche führt. Das Gedankengeschwätz errichtet dabei eine Barriere zwischen ihm und der eigentlichen Erfahrung. Also erfährt er die Welt lieber nicht über sein normales Bewusstsein, sondern schaltet ab. Das Hintergrundrauschen der Gedanken, das sonst stets dieses leichte Unbehagen verbreitet, verstummt.

Schizophrenie?

Aber haben Sie sich jemals gefragt, mit wem Sie da eigentlich innerlich Gespräche führen? Wer ist die andere Stimme? Ist das nicht tatsächlich ein wenig schizophren? Und auf diesem Phänomen baut unser ganzes Identitätsgefühl auf!? Unser inneres Plappermaul ist, genau betrachtet, die meiste Zeit eher griesgrämig drauf und extrem anfällig für Kränkung. Bestimmte Situation gehen ihm immer wieder durch den Kopf, während es sich in Rechtfertigungen und imaginären Szenarien der Macht ergeht. Doch zeigt dies eigentlich nur, wie ohnmächtig und unsicher sich unser »Mind« fühlt.

Auffällig ist auch, dass sich dieses endlose Gespräch im Inneren nur schwer abstellen lässt. Gerade Anfänger der Meditationspraxis sind erstaunt, wie hartnäckig das Gedankengeschwätz ist. Das verselbstständigte »Denken« hat dabei wenig mit logischem Nachdenken zu tun. Vielmehr handelt es sich um ein stetiges Bewerten und Vergleichen, ein Hin und Her zwischen Gut oder Schlecht. Tatsächlich erschwert es sogar den Einsatz der rationalen Kräfte, denn wenn wir uns etwas genau überlegen müssen, lenkt es unsere Aufmerksamkeit immer wieder ab.

Das vielleicht größte Problem des geschwätzigen Denkens ist tatsächlich seine Negativität. Einige negative Gedanken sind uns so zur Gewohnheit geworden, dass sie ein Muster in unserem Geist bilden, dass sich immer wieder über bestimmte Erfahrungen legt. Der Grund für diese Negativität liegt Steve Taylor zufolge darin, dass die Atmosphäre unserer Psyche aufgrund unserer Ego-Isolation negativ aufgeladen ist. Hinzu kommt, dass wir entsprechende Gedankenmuster von Kindheit an von den Eltern »erlernen«.

Die Wirkung eines besonders redseligen Geistes hat sogar schwerwiegende Folgen. Psychologischen Untersuchungen zufolge zeigen sich Menschen, die mehr Zeit mit einem umherschweifenden Geist verbringen, anfälliger für Depressionen und können sich nur schwer entspannen. Der positive Aspekt an der Sache ist allerdings: Weil unser Geist so formbar ist, kann er auch in positive Bahnen gelenkt werden. Deshalb sind Methoden wie die kognitive Verhaltenstherapie oder NLP wirksam. Wenn wir also schon nicht den Großteil unsere Zeit in Stille verbringen können, lassen sich zumindest unsere Gedankenmuster so umformen, dass sie uns dienlicher sind. Das Gedankengeschwätz ist kein Problem mehr, wenn wir uns nicht damit identifizieren. Es genügt bereits, Abstand dazu zu gewinnen und sich bei entsprechenden Gedanken zu sagen: »Schau mal, schon wieder ein negativer Gedanke.«

Ein Hoffnungsschimmer

Methoden, die die Stille fördern, sind die beste Möglichkeit, die Welt wieder durch ungetrübte Augen zu sehen. Sich der wohltuenden Natur hinzugeben oder sich ins Laufen, Werken oder anderweitige Tätigsein zu vertiefen – das alles hat erwiesenermaßen therapeutische Wirkung. Die Achtsamkeit bei allen Aktivitäten beizubehalten – das wäre schließlich die ideale Grundhaltung zum Leben, die uns wieder vollends mit unserem gesamten Daseins- und damit einem verfeinerten Wahrnehmungsspektrum verbindet.

Auch wenn es utopisch erscheint, dass solche Zustände bleibend sind, versuchen sollten wir es unserer psychischen Gesundheit zuliebe auf jeden Fall. Die meisten politischen und religiösen Utopien sind nicht gescheitert, weil die Ideen schlecht gewesen wären, sondern weil es zu Streitigkeiten um Macht und Besitz kam. Die menschliche Gesellschaft spiegelt immer nur die menschliche Natur wider. Wenn wir uns von innen heraus neu ausrichten, verändert sich das Äußere entsprechend. Dann wird aus einer Welt der Feindseligkeit, des Misstrauens – schlicht der Egomanie – eine Welt der Verbundenheit und Harmonie.

Genau dort, wo heute die größte »Humanie« herrscht, sind inzwischen viele Hoffnungsschimmer zu erkennen. Die Öko- und Frauenbewegung, die Integration von Menschen, die anders sind oder denken, und ein wachsendes Interesse für bewusstseinserweiternde sowie ganzheitliche Themen sind treibende Kräfte in eine vielversprechende Richtung. Die Werkzeuge für eine bessere Welt halten wir alle in den Händen. Jetzt liegt es an uns, eine positive Synthese aus modernem Fortschritt und althergebrachtem Wissen zu schaffen.

Steve Taylor
Steve Taylor ist Autor mehrerer Bücher über Psychologie und Spiritualität. Er lehrt Psychologie an der Leeds Metropolitan Universität in Großbritannien.

Buch-TIPP
Steve Taylor
Verrückte Welt – Zurück zu Harmonie und mentaler Gesundheit
360 Seiten, € 18,95
ISBN: 978-3-89901-703-8
Verlag J. Kamphausen

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