Frau und Mann

Tantra ist Friedensarbeit

Im Gegensatz zu den anderen Sinnesorganen, welche sich im Gesicht befinden, ist unser Tastsinn über den ganzen Körper verteilt. Und doch ist der Tastsinn der Sinn, welcher am wenigsten kulturelle Anerkennung erhält. Unsere Zivilisation feiert Maler, Bildhauer, Komponisten, Musiker, Parfümeure, sogar Sterneköche. Doch die Qualitäten von Berührungskünstlern sind in Presse, Funk und Fernsehen weitgehend unbekannt. Sie werden höchstens hinter vorgehaltener Hand erwähnt. Vielleicht weil wir Berührung nicht kollektiv erleben können. Berührung ist per se intim!

tantragen

Die moderne Welt speist unsere vier im Gesicht lokalisierten Sinnesorgane großzügig. Reich und Arm, Alt und Jung, Mann und Frau erhalten Tag für Tag ein breit gefächertes Angebot von Bildern, Geräuschen, Gerüchen jeder erdenklichen Art – meist mehr, als ihnen lieb ist. Wir teilen auch den Geschmack – von gerösteten Mandeln und bis hin zum Kantinenessen – mit oftmals Tausenden von Menschen. Und doch waren wir nie so einsam, seelisch so ausgehungert wie in unserer Zeit. Offenbar sind die vier öffentlich gepflegten Sinne nicht in der Lage, uns nachhaltig zu befriedigen – selbst wenn wir uns die schönsten Kinofilme ansehen und den wunderbarsten Konzerten lauschen.

Den wichtigsten, den fünften Sinn – das Tasten – haben wir schlichtweg verkümmern lassen. Und noch schlimmer als diese Verkümmerung ist, gar nicht mehr berührt zu werden. Menschen, die einander nicht mehr berühren, entfremden sich voneinander. Im Altertum nannte man nur die Ausgestoßenen »Unberührbare« – in meiner Paartherapiepraxis bei München habe ich fast jede Woche mit »unberührbaren« Paaren zu tun, Menschen, die darunter leiden, dass sie sich nicht mehr anfassen.

Wie kreatürlich der Tastsinn ist, zeigt sich bereits dadurch, dass er sich beim Embryo  ausbildet, bevor alle anderen Sinne hinzukommen. Später sind wir lebensfähig, auch ohne etwas sehen, hören oder riechen zu können – doch nicht ohne Berührung: Babys, die nicht berührt werden, sterben.

Doch eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Wenn wir den Tastsinn nicht nähren, leiden die anderen vier Sinne mit – so wie ein Rad, das nicht rund läuft. Dass der Tastsinn nicht ausreichend stimuliert wird, ist ein Grundübel nicht nur der meisten zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern unserer gesamten Kultur. Ist die heute übliche Tendenz  zur »Vermassung« dafür verantwortlich, dass wir den Tastsinn so stiefmütterlich behandeln?

Spannende Filme, wundervolle Klänge, betörende Düfte und köstliche Speisen werden dem modernen Menschen als Massenware an jeder Straßenecke für kleines Geld angeboten, ohne dass der Betreffende dafür aus dem Schatten seiner Anonymität heraustreten müsste. Um erfüllende Berührung zu erfahren, muss der Mensch jedoch mehr von sich preisgeben als den Inhalt seiner Brieftasche: sich selbst. So ist der Tastsinn der einzige Sinn, der das Heraustreten des Individuums aus der anonymen Masse gleichermaßen erfordert wie bestätigt.

Die Qualität von menschlichen Beziehungen, ja, von unserem gesamten Dasein, hängt stärker als alle Worte von der Qualität der Berührung ab, die dabei erfahren wird. Als einzig reziproker Sinn – man kann nicht berühren, ohne berührt zu werden – ist Berührung auf Gegenseitigkeit angewiesen. Bereits bei der Kindererziehung und auch im Erwachsenenalter ist Berührung das am nachhaltigsten wirkende Kommunikationsmittel – geht doch Berührung im wahrsten Sinn des Wortes »unter die Haut«.

Ein interessanter Grundlagenversuch einer Universität in Indiana/USA zeigte dies eindrücklich: Probanden sollten alleine durch Berührung an ihnen unbekannte Personen, welche die Augen verbunden hatten, acht verschiedene Grundemotionen übertragen (Verachtung, Trauer, Liebe etc.). In über zwei Drittel aller Fälle wurde die Emotion richtig gedeutet. Berührung ist also offenbar nicht nur ein Nebenprodukt, sondern ein Hauptinformant jeder zwischenmenschlichen Kommunikation.

Ich möchte Ihnen dazu eine Übung vorstellen:

Tantra-übungen
Heben Sie beide Arme ein wenig. Schließen Sie die Augen und fühlen Sie in sich hinein. Nun übertragen Sie dem linken Arm mit Ihrer rechten Hand die Qualität von Verachtung, einfach durch die Art und Weise, wie Ihre rechte Hand Ihren linken Arm berührt, so als würde dieser Arm jemand anderem gehören. Danach halten Sie inne. Fühlen Sie in Ihren Körper hinein! Versuchen Sie wahrzunehmen, was diese kurze Berührung in Ihrem Körper ausgelöst hat und wie sie in Ihnen nachschwingt.

Es kann sein, dass dabei alte Bilder aus Ihrer Vergangenheit erinnert werden, vielleicht an eine Zeit, in der Sie abgelehnt wurden. Öffnen Sie Ihr Herz für diese Erfahrung. Dehnen Sie sich in ihr aus und erleben Sie, wie diese automatisch dadurch verfliegt. Es kann auch sein, dass Ihre Täterperspektive erinnert wird und Situationen bewusst werden, in denen Sie andere Menschen von sich gestoßen haben. Wie fühlt sich dies an? Hart, schroff, unangenehm? Nehmen Sie auch diese Empfindungen in Ihr Herz auf – erleben Sie, wie diese sich ebenfalls auflösen.

Nun übertragen Sie mittels Berührung der rechten Hand an den linken Arm die Qualität von Liebe und Achtsamkeit in einer Haltung von: »Du bist wertvoll, du bist es wert, berührt zu werden.« Halten Sie diese Berührung für etwa eine Minute aufrecht. Dann spüren Sie wieder nach: Wie fühlt es sich für den linken Arm an, Liebe und Achtsamkeit zu empfangen? Gibt es Bilder oder Erinnerungen, welche nun bewusst werden? Und wie fühlt es sich an, die Qualität von Liebe und Achtsamkeit in eine Berührung zu legen?

Indem wir einen Menschen liebevoll und achtsam berühren, signalisieren wir ihm: Du bist es wert, berührt zu werden. So berühren wir über die Haut nicht nur den Menschen, sondern seine ganze Existenz, seine Einzigartigkeit, seine Würde  unmittelbar. Wir bestätigen und wertschätzen ihn als individuelles Mitglied der globalen menschlichen Familie. Genau dieses und noch vieles darüber hinaus vermag eine Tantra-Massage zu leisten.

Tantra bedeutet im Sanskrit wörtlich »ausdehnen, verweben« – vielleicht ein Hinweis für die mittels Tantra erfahrbare allumfassende Verbundenheit mit der gesamten Existenz. Grundlegend für die Philosophie des hier gemeinten Tantra1 ist die heilige hinduistische

Schrift Vijnana Bhairava Tantra. In ihr erläutert der Gott Shiva (Repräsentant für das höchste männliche Prinzip) Shakti (Repräsentantin für das höchste weibliche Prinzip) 112 Methoden, mit deren Hilfe man sich selbst als Ausdrucksform des Göttlichen erleben und begreifen kann. Hierbei wird im Gegensatz zu den meisten westlichen Religionen das Sinnliche nicht ausgeklammert, sondern zur Veredelung und Höherentwicklung des Bewusstseins genutzt. In dem Zusammenhang möchte ich eine liebe Kollegin, Tantra-Massagelehrerin Pamela Behnke, zitieren: »Tantra ist weder Wissenschaft noch Religion, sondern ein umfassender spiritueller Weg der Erfahrung. Eine Art, das Leben zu betrachten. Tantriker wird man niemals durch Lesen, sondern nur durch Erfahrung. Tantra vermittelt vor allem eine neue Sichtweise, die mehr Bewusstsein und Liebe ins Leben bringt.«

Das kosmische Bewusstsein, die »Erleuchtung«, an die man in anderen Religionen »glauben« muss, lässt sich mittels tantrischer Rituale, z. B. der Tantra-Massage, ungewöhnlich schnell und natürlich im eigenen Körper erfahren. Ziel der Tantra-Massage ist jedoch nicht die »Erleuchtung« (diese ist nur ein »Nebenprodukt«). Ziel ist das Begreifen der Welt und die Begegnung von Mensch zu Mensch aus einer Haltung der Fülle – wie König und Königin, die ihre Schätze miteinander teilen (im Gegensatz zu der Begegnung zweier Bettler, die versuchen, einander zu bestehlen).

Im Gegensatz zur landläufigen Meinung zielt die Tantra-Massage  nicht auf sexuelle Befriedigung, sondern auf Achtsamkeit in der berührenden Begegnung mit einem Du. Nicht einzelne Griffe (»Techniken«) stehen im Vordergrund (wenngleich diese ebenfalls in Tantra-Massage-Kursen unterrichtet werden), sondern die Fähigkeit,  Qualitäten von Berührung zu übertragen: achtsam, respektvoll und natürlich auch sinnlich. Oftmals können sich hierbei seelische Verkrustungen und Panzerungen lösen. Das Leben kann wieder als farbenprächtig, wohlklingend und genussvoll  erlebt werden – der erweckte Tastsinn informiert die anderen Sinne über die Schönheit des Lebens.

Die praktische Durchführung der Tantra-Massage gleicht einer gemeinsamen Meditation, zu der man sich verabredet und welche die Massagepartner an einen inneren Zufluchts- und Auftankort des Friedens und der Fülle trägt – unbelastet vom Lärm der Welt. Dabei gelten einige Grundregeln (siehe Kasten rechts).

Tantra-Grundregeln
  • Der Rahmen der Tantra-Massage wird durch ein Vorgespräch klar abgesteckt und ist somit geschützt.
  • Die Berührung innerhalb einer Tantra-Massage ist absichtslos und bedingungslos.
  • Der Massierte muss sich keine Sorgen darüber machen, ob er für den Masseur attraktiv ist. Er bekommt den Raum, sich während des tantrischen Rituals ganz seinen Empfindungen hinzugeben. Er kann insbesondere sicher sein, dass keine sexuellen Übergriffe stattfinden.
  • Der Masseur erfüllt das tantrische Ritual in einer Haltung der Achtsamkeit und Hingabe, ohne aus der Massage einen persönlichen Vorteil ziehen zu wollen – das Ritual ist ihm Erfüllung genug.

Oft habe ich erlebt, dass ich in schwierigen Stunden, in denen weder Psychotherapie noch Bewusstseinstechniken Trost gaben, nach einer einzigen Tantra-Massage die Schönheit des Lebens wieder genießen und anstehende Probleme durch eine befreite Perspektive bewältigen konnte. Zugleich bin ich zutiefst berührt von dem tiefen Ausdruck inneren Friedens, den ich auf dem Gesicht meiner Partnerin nach einer Tantra-Massage sehe. So weiß ich aus aktiver wie passiver Erfahrung: Tantra-Massage hilft selbst da, wo alles andere versagt!

In unserer hektischen, modernen Zeit ist es für den Einzelnen immer schwerer, in der eigenen Mitte und im inneren Frieden zu bleiben. Das Tantrische Ritual, wie es das Buch »Tantra-Massage«, das ich gemeinsam mit Tomas Langhorst geschrieben habe, vorstellt, liefert den Rahmen, um sich unabhängig von der aktuellen Befindlichkeit miteinander an den inneren Frieden, Liebe und die eigene Göttlichkeit zu erinnern. Die Tantra-Massage löst alle möglichen Beschwerden und macht glücklich – man muss lediglich damit anfangen. Jedes Mal, wenn ich von einer Gruppenarbeit müde, aber überglücklich nach Hause fahre, fühle ich tief in meinem Inneren: Tantra ist Friedensarbeit.

Buchtipp:
tantrabuch
Klaus Jürgen Becker
Tantra-Massage Gemeinsam sinnliche Kraftquellen entdecken
200 Seiten
€ 19.90
ISBN 978-3-86264-003-4
Hans Nietsch Verlag
Weitere Informationen
Regelmäßige Tantra-Massagekurse bei München mit K. J. Becker:
www.tantralandsberg.de
www.imliebesfluss.de