Krebs als Chance

»Ich denke, also bin ich, was ich denke«, sagte sich Kerstin Chavent, nachdem sie den ersten Schock nach der Diagnose Krebs überwunden hatte. Und sie begann ihre Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen. Sie lernte sich ihrer Angst zu stellen und sich im inneren Dialog selbst zu erforschen – und damit ihre Krankheit zu überwinden. Ihre Erfahrungen hat sie nun in ihrem Buch »Krankheit heilt« zusammengefasst, einem teils autobiografischen Ratgeber, der zeigt, wie wir durch Krankheit und Krisen zur heilenden Selbsterkenntnis gelangen können.

omega-48-49.inddDie Diagnose »Krebs« wird auch heute noch von vielen Menschen als eine Art Todesurteil empfunden, obschon es inzwischen möglich ist, zahlreiche Formen der Krankheit mit modernen medizinischen Verfahren zu heilen. Doch auch im Rahmen der besten Behandlung spielen die eigene Psyche und unser Umgang mit Diagnose und Krankheit eine entscheidende Rolle und können uns darüber hinaus ganz neue Dimensionen erschließen. Krisen und Krankheiten können tatsächlich einen außerordentlichen wichtigen Beitrag zu unserer eigenen seelischen und spirituellen Entwicklung leisten – wenn wir uns den Möglichkeiten öffnen.

Ich selbst erkrankte im zarten Alter von 15 Jahren an einem bösartigen Lymphom und ähnlich wie Kerstin Chavent, die 2012 an Brustkrebs erkrankte, entschied ich mich nach einer ersten, durch die Diagnose ausgelöste Schockstarre, nicht zu verzweifeln, sondern das Beste aus der Situation zu machen. Nicht aufzugeben und den Krebs als Chance zur Entwicklung zu erkennen und diese auch wirk- lich zu ergreifen. Etwas, was mich zum Schamanismus führte, wo ja der Schamane seine Initiation auch meist über eine schwere Krankheit erfährt und infolge zum »geheilten Heiler« wird.

Doch zurück zu Kerstin Chavent. Sie schreibt: »Ich möchte bewusst erleben, was mit mir geschieht, und an meiner Erfahrung wachsen. Ich möchte meine Krankheit nicht vor den anderen verbergen und spreche offen darüber. Krankheit ist keine Schande, und ich möchte nicht, dass sie Angst macht. Ich spreche offen von ‚meinem‘ Tumor, ‚meinem‘ Krebs. Das heißt nicht, dass ich ihn mir aneignen möchte, aber dass ich ihn in Beziehung zu mir sehe. Mein Körper hat ihn gemacht – vielleicht kann mein Körper ihn auch wieder reparieren? Mir wird klar, dass meine Heilung nicht allein aus der traditionellen medizinisch-chemischen Behandlung bestehen kann. Ich lebe mit dem Paradox, dass das, was mich einerseits retten soll, auf der anderen Seite vergiftet und schwächt.«

Mit ihrem Buch möchte Chavent anderen Menschen Mut machen, sich diesem Paradox zu stellen. Den ersten, mehr biografischen Teil ihres Werkes sieht sie als Einladung an andere Betroffene, sich selbst mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen – denn sehr viele Krebserkrankungen haben ihre Wurzeln in unserer eigenen Biografie. Natürlich ist jeder Mensch, jede Geschichte anders, und deshalb ist es müßig, hier detailliert darauf einzugehen.

Denn es geht, und da stimme ich mit Chavent überein, vor allem darum, »sich über das Erleben darüber klar zu werden, wer wir im Grunde unseres Wesens sind, und uns so anzunehmen, unperfekt-perfekt, wie wir uns in diesem Augenblick wahrnehmen.« Dieses Annehmen, welches gleichzeitig eine schonungslose Offenheit gegenüber uns selbst ist, öffnet uns die Türen zu echter Entwicklung oder zu einem spirituellen Wachstum, das dann quasi das Wachstum der Tumoren ersetzen kann.

»Untersuchungen von Spontanheilungen von Krebskranken zeigen«, resümiert Kerstin Chavent, »dass alle betroffenen Patienten eine radikale Bewusstseinsveränderung erlebt haben. Sie sahen sich nicht mehr isoliert und eingeschlossen in ihre Krankheit, sondern waren sich dessen bewusst, dass Heilung gleichzeitig in ihrem Inneren und jenseits der persönlichen Grenzen stattfindet. Sie haben es geschafft, die Grenzen einer dualistischen Weltsicht zu überschreiten.« »Krankheit und Leid können uns dahin führen, zu verstehen«, erklärt sie weiter, »dass wir gleichzeitig begrenzt und unendlich sind. Dieses Wissen steckt in jedem von uns, wir haben es nur vergessen. Um die Einheit zu erkennen, muss man die Trennung erfahren. Dafür leben wir. Leben ist Entwicklung, Expansion, Verschiedenartigkeit. Nur wenn wir uns darüber bewusst werden, können wir auch erfahren, dass wir letztlich nicht abgesondert und anders sind, sondern miteinander vereint. Jede einzelne Zelle unseres Körpers trägt das Universum in sich, nichts existiert außerhalb von uns, was es nicht auch innerhalb von uns gibt. Was für das unendlich Große gilt, ist ebenso für das unendlich Kleine gültig.
Wir sind gleichzeitig getrennt und eins!«

Es ist nicht bloß diese philosophische Tiefe, die den Wert von Chavents Buch ausmacht. Jenseits großer Gedanken und Erkenntnisse ist es vor allem im zweiten Teil gespickt mit Hinweisen auf Metho- den, Ansätze und Wege, die ihr – jenseits von positivem Denken – selbst weitergeholfen haben: neben Visualisierungen und Meditation vor allem das heilende, aufrichtige Gespräch mit sich selbst. Zudem enthält es eine Vielzahl von Inspirationen und praktischen Übungen. Ein ausführlicher Überblick über verschiedenste Ansätze zum ganzheitlichen Heilen dient außerdem dazu, wirklich an die eigenen Selbstheilungskräfte zu glauben und sich selber von seinen eigenen Möglichkeiten zu überzeugen.

Chavents Werk ist übrigens kein Aufruf, konventionelle schulmedizinische Therapiemöglichkeiten abzulehnen – im Gegenteil, es ist ein Bekenntnis dazu, die eigenen Selbstheilungskräfte zusätzlich anzukurbeln und die Krankheit als eine Chance zur Heilung und zur Entwicklung zu nutzen. Einer der Schulmediziner, der mich vor mehr als 30 Jahren behandelte, gab bereits damals offen zu, dass die Einstellung des Erkrankten ein ganz wesentlicher Faktor in Sachen Heilungschance sei. Kerstin Chavent geht noch einen Schritt weiter und betont: »Heilung erfolgt über eine Erweiterung des Bewusstseins und das Erschaffen eines neuen Gleichgewichts. Dazu muss man nicht direkt etwas tun, sondern vor allem offen und aufmerksam sein.« Aufmerksam für die Chancen, die sich uns auftun und die sich zum Bei- spiel in Gestalt dieses Buches zeigen.

Kerstin Chavent
Jahrgang 1964, studierte in Hamburg Romanistik und Pädagogik. Seit 1999 lebt die Autorin in Südfrankreich und arbeitet als Übersetzerin und Sprachlehrerin. Im Jahr 2012 erkrankte sie an Brustkrebs. Sie überstand alle Behandlungen und arbeitet seit 2013 für die Association Tonglen, die Menschen begleitet, die sich durch Krankheit oder andere radikale Lebenseinschnitte im Umbruch befinden.

Buchtipp
Kerstin Chavent
Krankheit heilt
Vom kreativen Denken und dem Dialog mit sich selbst

135 Seiten, € 12,95
ISBN: 978-3-930243-71-6
Omega-Verlag