Nicht-Tun als Weg zur wahren Welt

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Diese Volksweisheit trifft nicht nur auf unser alltägliches Verhalten zu, sondern auch auf unsere Selbst- und Weltwahrnehmung. Wir sind voll von fest zementierten Glaubenssätzen und Meinungen, die wir zunächst erlernt und dann durch endlose Wiederholung zur »Wahrheit« erklärt haben – eine »Wahrheit«, die wir mit Zähnen und Klauen verteidigen, wenn irgendwer oder irgendwas an unserem Käfig rüttelt.

nicht-tun-26-29.inddUnsere Routinen und gewohnten Muster geben uns Sicherheit, verstellen uns aber auch den Blick auf die wahre Welt hinter unserer vorgefertigten Weltanschauung. Der Königsweg zum Durchbrechen dieser Muster ist das Nicht-Tun, eine Technik der toltekischen Schamanen, die unsere Wahrnehmung und unser Leben von all den lästigen Gewohnheiten befreien kann.

Unser gesamtes Tun ist auf Routinen aufgebaut. Wir stehen gewöhnlich zu einer bestimmten Zeit auf, frühstücken zur gleichen Zeit am selben Ort, gehen zur Arbeit, nehmen zu einer festen Zeit unser Mittagessen ein, schlafen zur selben Zeit im selben Bett u.s.w. Natürlich unterscheiden sich diese Routinen von Person zu Person und variieren im Laufe der Woche – und doch ist alles auf gewisse Weise vorherbestimmt, was uns eine scheinbare Sicherheit gibt, auf die wir uns nur allzu gerne verlassen. Doch wehe, unser Auto steht einmal nicht an seinem gewohnten Ort, wenn wir von der Arbeit kommen, oder wir finden unsere Schlüssel nicht – schon gerät unsere ach so sichere Welt ins Wanken und wir in emotionalen Aufruhr. Unsere Routinen sind unser Schild, doch gleichzeitig sind wir ihre willfährigen Sklaven, die hilflos nach ihrem Meister schreien, wenn einmal etwas aus dem Ruder läuft.

Routinen dominieren jedoch nicht nur unser tägliches Verhalten, sondern auch unser Denken und unsere Wahrnehmung. Unsere Gedanken ziehen in Form eines inneren Dialogs ihre gewohnten Kreise, wie eine Fliege, die monoton brummend um eine Lampe schwirrt, und unser Blick richtet sich auf die vertrauten Landmarken und Dinge unserer Welt und ist nicht bereit, Neues aufzunehmen. Experimente der modernen Gehirnforschung zeigen, dass wir z.B. nicht in der Lage sind, einen Gorilla wahrzunehmen, der in einem Film mitten durch eine Gruppe von Basketball spielenden Menschen spaziert. Erst wenn wir denselben Film zum zweiten Mal sehen und explizit auf den Gorilla hingewiesen werden, ist er plötzlich ganz klar da und wir fragen uns verblüfft, wie es bloß sein kann, dass wir so unaufmerksam waren.

Dabei hat unsere Blindheit weniger mit mangelnder Aufmerksamkeit als mit festen Wahrnehmungsgewohnheiten zu tun, die alles ausblenden, was nicht in das vorgegebene Muster passt (die sog. »selektive Aufmerksamkeit«). Hütchenspieler und Bühnenmagier machen sich die Schwächen unserer Wahrnehmungsroutinen seit jeher zunutze, um ihr Publikum zu begeistern oder den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.

»Es bricht die neue Welt herein
Und verdunkelt den hellsten Sonnenschein,
Man sieht nun aus bemoosten Trümmern
Eine wunderseltsame Zukunft schimmern,
Und was vordem alltäglich war
Scheint jetzo fremd und wunderbar.« Novalis (Astralis)

Die mexikanischen Schamanen aus der Tradition der Tolteken, welche die Bemeisterung der Wahrnehmung und Bewusstheit zu einem ihrer zentralen Ziele gemacht haben, behaupten sogar, dass der Durchschnittsmensch gar nicht mehr in der Lage sei, die wahre Welt wahrzunehmen, sondern lediglich die Welt des menschlichen Tuns. »Tun ist das, was den Stein zu einem Stein und den Busch zu einem Busch macht«, erklärt der Meisterschamane Don Juan Matus seinem verblüfften Schüler Carlos Castaneda den Vorgang. »Die Welt ist die Welt, weil du weißt, welches Tun erforderlich ist, sie dazu zu machen. Würdest du sie nicht durch Tun zu dem machen, was sie ist, dann wäre die Welt anders.«

Tatsächlich verleihen wir unserer Welt und den Dingen in ihr erst durch unsere gerichtete Wahrnehmung ihre Bedeutung und ihren Sinn – etwas, das die Phänomenologie als Intentionalität kennt und die Hirnforschung als selektive Aufmerksamkeit beschreibt. Was in beiden wissenschaftlichen Disziplinen jedoch meist unerwähnt bleibt, ist, wie allumfassend und exklusiv dieser Vorgang ist. Von unserer Kindheit an sind wir dazu verdammt, im Aufmerksamkeitskarussell stets dieselben Bahnen zu ziehen, bis uns der Tod aus unserem Wahrnehmungselend erlöst. Oder doch nicht?

Befreite Wahrnehmung durch Nicht-Tun

Die toltekischen Schamanen haben dem Tun das Nicht-Tun als eine Art Gegengift entgegengestellt, einen willentlichen Akt zur Durchbrechung jeglicher Routinen, der nicht nur unsere Wahrnehmung, sondern auch all die Energie befreit, die in unseren Gewohnheiten gebunden ist. Da dieses Nicht-Tun in unseren alltäglichen Begriffen nicht leicht zu erklären und primär eine praktische Angelegenheit ist, kann ich es jedem Leser nur empfehlen, es selbst auszuprobieren, indem Sie alltägliche Routinen im Tagesablauf durch brechen: Verzichten Sie zum Beispiel für eine Weile auf regelmäßige Mahlzeiten und essen Sie nur dann, wenn Sie wirklich hungrig sind – und nur das, worauf Sie wirklich Lust haben. Wenn Sie abends zu Bett gehen, schlafen Sie doch einmal eine Woche lang mit dem Kopf am Fußende. Wünschen Sie auf Ihrem Weg zur Arbeit wildfremden Menschen einen guten Morgen oder suchen Sie eine alternative Strecke zum Arbeitsplatz.

Natürlich kann man in unserer modernen Welt der allgegenwärtigen Zwänge und scheinbaren Notwendigkeiten nicht alle Routinen umgehen, aber man kann einen Unterschied machen. Am besten notieren Sie dazu erst einmal all ihr typischen Gewohnheiten, markieren die, die Ihnen besonders lästig sind, und überlegen, wie Sie diese durchbrechen oder ändern können. Jedes Tun beruht auf einer Kette von Handlungen, und wenn in dieser Kette nur ein Glied fehlt, bricht das Ganze wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Genau das ist Nicht-Tun, ein ganz einfaches Mittel, um sich von ungewollten Gewohnheiten zu befreien.

»Wir führen ständig einen inneren Dialog. Ich will dir sagen, worüber wir mit uns selbst sprechen. Wir sprechen über unsere Welt. Tatsächlich halten wir unsere Welt mit unserem inneren Dialog aufrecht. Wann immer wir aufhören, mit uns selbst zu sprechen, ist die Welt stets so, wie sie sein sollte. Wir erneuern sie, wir stecken sie mit Leben an, wir halten sie aufrecht mit unserem inneren Dialog. Und nicht nur das, wir wählen auch unsere Wege, indem wir mit uns sprechen. Aber wir wiederholen dieselbe Wahl immer wieder bis zu dem Tag, an dem wir sterben, weil wir immer und immer wieder, bis zu dem Tag, an dem wir sterben, denselben inneren Dialog führen. Ein Krieger ist sich dessen bewusst und bemüht sich, diesen Dialog einzustellen.« Don Juan Matus

Wenn Sie es zum Beispiel gewohnt sind, sich ständig selbst zu kritisieren, ersetzen Sie Ihre üblichen Glaubenssätze wie »Ich schaffe das ohnehin nicht« oder »Ich bin ein Verlierer« für eine Weile durch das Gegenteil: »Das gelingt mir ganz leicht« oder »Ich bin ein Siegertyp«. Es macht nichts, wenn Sie sich das selbst gar nicht glauben – wichtig ist nur, dass Sie den neuen Satz ständig innerlich wiederholen. Die Wirkung tritt dann ganz von selbst ein. Und sobald die Wirkung eingetreten ist, beenden Sie die Übung, weil sie sonst das Nicht-Tun wieder zu einem ganz gewöhnlichen Tun machen. Erkennen Sie an diesem Punkt lieber, dass all diese Glaubenssätze willkürlich sind und nichts über Sie selbst aussagen. Es sind lediglich Glaubenssätze, denen wir keine Macht einräumen sollten. Etwas, das übrigens für unseren gesamten inneren Dialog gilt.

Das Anhalten der Welt

Ziel des Nicht-Tuns ist für die toltekischen Schamanen ein Zustand innerer Stille, den sie auch »das Anhalten der Welt« nennen. Tatsächlich führt jedes Nicht-Tun, jedes Durchbrechen von Mustern und Routinen näher an die Schwelle innerer Stille heran, an einen Zustand des Nicht-Denkens, der dennoch vollständig klar ist, weil unser Bewusstsein nicht mehr länger durch die permanenten Einflüsterungen unseres inneren Dialogs getrübt wird. Wir sind in der Lage, die Welt neu und unvoreingenommen wahrzunehmen, ganz wie ein Kind – und diese Erfahrung ist immer wieder überwältigend. Ganz so, als hätte man zuvor immer nur durch schmutzige Scheiben in die Welt geschaut, die nun verschwunden sind und uns eine unmittelbare Wahrnehmung erlauben. Da man aber über dieses Nicht-Sprechen – und das ist das Anhalten des inneren Dialoges im Wesentlichen – nicht sprechen kann, soll hier nur auf eine konkrete Übung verwiesen werden, mit der man die innere Stille leicht erreichen kann.

Für diese Übung benötigt man lediglich ein freies Feld oder einen langen Weg in freier, ebener Umgebung. Auf diesem Weg geht man nun ständig geradeaus, wobei man den Blick zunächst auf eine Stelle knapp über dem Horizont fixiert. Um die Aufmerksamkeit abzulenken, spannt man gleichzeitig die Finger beider Hände fest an, ohne zu verkrampfen und ohne die Handflächen mit den Fingerspitzen zu berühren. Dann streckt man die Zeigefinger in Richtung Boden aus, während die anderen Finger gekrümmt und angespannt bleiben. Mit dieser Handhaltung geht man immer weiter geradeaus, den Blick weiterhin auf den Punkt über dem Horizont fixiert. Dies beruhigt den inneren Dialog, und sobald wir problemlos so vor uns hin laufen können, erweitern wir unseren Blick und versuchen, ohne die Augen zu bewegen, gleichzeitig alles um uns herum wahrzunehmen – ein 180-Grad-Panorama, das sich von der linken Peripherie bis zur rechten erstreckt. Gehen Sie ganz in die Wahrnehmung, bewerten Sie sie nicht, sondern laufen Sie einfach schauend weiter.

Sobald Gedanken aufbranden, spannen Sie die Hände fester in ihrer Haltung an und versuchen Sie gleichzeitig, den Boden unter Ihren Füßen zu spüren. Halten Sie den Blick weiterhin offen, und Ihr innerer Dialog wird mehr und mehr verstummen. Schalten Sie Ihren Dialog erst wieder ein, wenn Sie die Übung nach etwa einer Stunde beendet haben. Fühlt sich Ihr Kopf nun klarer an? Spüren Sie die Energie, die Sie durch diese Übung gewonnen haben?

»Dein Problem ist, dass du die Welt mit dem verwechelst, was die Leute tun. Damit stehst du nicht allein da. Nahezu jeder verwechselt das. Dabei sind die Dinge, die die Leute normalerweise tun, lediglich Schilde gegen die uns umgebenden Kräfte. Was wir als Menschen tun, verleiht uns Bequemlichkeit und Macht, so dass wir uns sicher fühlen. Was die Leute tun, ist also mit Recht sehr wichtig, aber nur als ein Schild. Wir lernen nie, dass die Dinge, die wir tun, nur Schilde sind, und wir lassen sie über unser Leben herrschen und über uns herfallen. Tatsächlich könnte man sagen, dass das, was die Leute tun, für die Menschheit größer und wichtiger ist als die Welt selbst.« Don Juan Matus

Natürlich gibt es zahlreiche Möglichkeiten und Techniken, die helfen, den inneren Dialog anzuhalten: Manche Menschen erreichen den Zustand der Stille in der Meditation oder indem sie in die Flamme einer Kerze starren, während sie sich gleichzeitig auf ihre Atmung konzentrieren. Alles, was hilft, das ständige innere Geplapper auszuschalten, ist willkommen, unabhängig von seiner Herkunft oder der Ideologie der Lehre, aus der die jeweilige Übung stammt. Und keine Angst, es geht nicht darum, das eigentliche Denken auszuschalten – lediglich den inneren Dialog, der ohnehin meist nichts mit klaren, logischen Erwägungen zu tun hat. Wenn Sie dies nicht glauben, hören Sie doch einfach mal Ihrem eigenen inneren Dialog eine Weile zu. Werden Sie Zeuge davon, lauschen Sie einfach, ohne zu bewerten oder zu beurteilen und vor allem, ohne sich einzumischen. Kehren Sie erst nach einiger Zeit in Ihren normalen Zustand zurück und denken Sie jetzt einmal darüber nach, was genau den Unterschied zwischen Ihrem alltäglichen inneren Dialog und dem klarem Denken ausmacht. Sie werden überrascht sein.

Wenn es uns einmal gelungen ist, den Bann des eigenen inneren Dialogs zu brechen, wird auch das Durchbrechen anderer Gewohnheiten zum Kinderspiel. Tatsächlich ist dies ein überaus passender Begriff, da unser natürlicher (nicht unser gewohnter) Bewusstseinszustand der eines neugierigen Kindes ist: nicht wertend, sondern entdeckend, nicht beschränkt, sondern offen, leicht und frei. Dieser ausgeglichene Zustand ist unser Geburtsrecht und sollte nicht auf wenige meditative Stunden in der Woche beschränkt sein. Machen Sie die innere Stille zu Ihrem Normalzustand und nutzen Sie das Denken bewusst für das, wofür es gemacht ist. Unser Verstand ist lediglich ein Werkzeug, das sich aber bei den meisten Menschen mittels des inneren Dialogs zum Herrscher aufgeschwungen hat, zum lästigen Tyrannen. Sobald die Stille regiert, übernimmt automatisch unser eigentlicher Geist das Regiment und zeigt uns, dass wir niemals unsere Gedanken waren und dass freie Wahrnehmung unser eigentliches Wesen ist. Und wir erkennen, dass die Welt des menschlichen Tuns nicht die wahre Welt ist. Durchbrechen Sie die

Wahrnehmungsmuster, werden Sie innerlich still und frei – und sehen Sie selbst!

Buchtipp 1
Norbert Classen
Das Wissen der
Tolteken
Carlos Castaneda
und die Philosophie
des Don Juan

324 Seiten,14,90 €
ISBN: 978-3-86264-265-6
Hans Nietsch Verlag
Buchtipp 2
Norbert Classen
Carlos Castaneda
Reise nach Ixtlan
Die Lehre des Don Juan

256 Seiten, 8,95 €
ISBN: 978-3-596-21809-7
Fischer Taschenbuch Verlag