Männer des Mystischen

Das klösterliche Leben sowie die Kirche im Allgemeinen spielen im orthodoxen Griechenland eine ungebrochene Rolle. Dass sich hinter den berühmten Klostermauern des Athos in Nordgriechenland oder auf der Insel Zypern Geistliche befinden, die durchaus mit östlichen Yogis und Gurus verglichen werden können, erkannte der amerikanische Schrifsteller Kyriacos Markides, als er seine griechischen Wurzeln neu entdeckte.

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Bekanntheit erlangte Markides mit seinen aufrüttelnden Büchern über den »Magus von Strovolos«, einen griechischen Geistheiler aus Zypern. Entgegen seiner anfänglichen Skepsis gegenüber Kirche und Religion widmete sich der Autor danach dem monastischen Leben orthodoxer Mönche. Doch bereits sein Interesse für Spyros Sathi, den besagten Heiler, musste erst geweckt werden, denn nach dem Studium der Soziologie war Markides ein selbsternannter »agnostischer« Realist.

In »Der Berg des Schweigens« schreibt er:

»Ein Vorfall von äußerst entscheidender Bedeutung, der mich von den letzten Fesseln des Agnostizismus befreite, war meine Begegnung mit dem großartigen Heiler und Mystiker, den alle Welt Daskalos, Lehrer, nannte. Der 66-Jährige war Hellseher und esoterischer Lehrer, und ich lernte ihn 1979 bei einer Exkursion nach Zypern kennen. Dieser extravagante westliche »Schamane« war eine solche Herausforderung für mein akademisches Weltbild, dass ich ein soziologisches Projekt, an dem ich damals arbeitete, fallen ließ, um ihn und den Kreis seiner Anhänger zu untersuchen. In den darauffolgenden zehn Jahren betrieb ich Feldforschung und schrieb über die außergewöhnliche Welt dieser Heiler. Es war eine Welt der Wunder, der außerkörperlichen Reisen, aller möglicher übersinnlicher Phänomene, der Exorzismen und haarsträubender Heilungstricks, die ich mit konventioneller Logik einfach nicht erklären konnte.«

Markides kam damals zu dem Schluss, dass im Inneren des Menschen Fähigkeiten schlummern, die über die fünf Sinne hinausgehen, und dass der Geist nicht auf das Gehirn begrenzt ist. »Ich erkannte, dass es transrationale Bewusstseinszustände gibt, von denen Mystiker aller Traditionen seit alters sprechen, und dass der sogenannte Tod nichts weiter ist als ein Neuanfang, ein Übergang auf eine andere Lebens- und Daseinsebene«, berichtet er.

Als Kyriacos Markides 1991 die Einladung eines Freundes erhält, um zum Kloster auf dem heiligen Berg Athos zu pilgern, ist er also zuerst unentschieden. Es ist etwas anderes für ihn, den »Daskalos« anzuerkennen, der sich auf einer Ebene außerhalb des Kirchlichen bewegt, als die Vertreter der institutionalisierten Religion, die er mit Intoleranz und Korruption verbindet. Bis dahin, schreibt er, habe er noch keinen lebenden »Mann Gottes« getroffen, der ihn spirituell oder intellektuell inspiriert hätte. Doch auf seiner Pilgerfahrt lernt Markides Vater Maximos kennen, der ein Umdenken in ihm auslöst. Auf dem Berg Athos, der seit dem 9. Jahrhundert Eremiten und Mönchen als Rückzugsort vorbehalten ist, kommt er mit einem anderen Christentum in Berührung – und ist fasziniert.

Einige Jahre später erhält er die Gelegenheit, längere Zeit persönlich am Klosterleben teilzuhaben – dieses Mal im Troodos-Gebirge auf Zypern, wohin Vater Maximos versetzt wurde. Auf dieser ambivalenten Insel, einerseits ein wunderschöner Urlaubsort, andererseits eine krisengeschüttelte zwischen Türken und Griechen geteilte Zone, erlebt Markides auch dieses Mal solch erstaunliche Dinge, dass sein Bewusstsein wieder ein Stück weiter ins Unerklärliche vorstoßen wird. Der Autor, dessen Vorfahren selbst aus Zypern stammen, kann sich so wieder mit seiner Heimat versöhnen und sie mit ganz neuen Augen sehen.

Das klösterliche Leben auf der griechischen Insel ist wie eh und je geprägt von Rückzug, Pflicht und Einkehr. Im Kloster im Troodos-Gebirge stehen die Mönche jeden Morgen um halb vier auf und halten die Liturgie bis acht Uhr. In der Fastenzeit essen sie einmal am Tag um halb zwei eine einfache Mahlzeit. Später gehen sie wieder in die Kirche, um zu beten. Oft halten sie eine Agrypnia (eine die ganze Nacht andauernde Gebetswache). Sie befinden sich ständig im Gebet und machen Hunderte von Kniefällen vor den heiligen Ikonen. Die wichtigste Voraussetzung, so erklärt es Vater Maximos seinem Besucher, ist, dass jemand überwältigt ist von seiner Liebe zu Gott und der Leidenschaft, ihm näherzukommen und eins mit ihm zu werden.

Kyriacos Markides gewöhnt sich schnell ins klösterliche Leben ein. Als Chauffeur des charismatischen Vater Maximos hat er genügend Abwechslung und hört von dem weisen Mann unzählige eindrucksvolle Geschichten aus dessen Leben und dem Leben seines Altvaters Paisios, einem legendären Einsiedler und modernen »Heiligen vom Athos«. Lesen Sie im Anschluss einen Auszug aus dem Buch, der von diesen beiden Männern des Mystischen handelt:

Im Laufe der vergangenen beiden Jahre war der vor zwei Jahren verstorbene Altvater Paisios unter den Anhängern der athonitischen Spiritualität zur Legende geworden. Es waren bereits mehrere Bücher über das außergewöhnliche Leben dieses christlichen Eremiten und modernen Heiligen erschienen. Als einer seiner engsten Schüler hatte Vater Maximos intime Kenntnisse über das Leben des Altvaters. Es waren Kenntnisse jener Art, wie er sie seinen eigenen Anhängern stets gerne weitergab, insbesondere jetzt, da der Altvater nicht mehr auf dieser Welt war.

Regelmäßig legte Vater Maximos seinen Schülern nahe, dass neben dem Studium der heiligen Schriften und der systematischen Gebetspraxis auch das Nachlesen über ehrwürdige Heilige entscheidend wichtig ist für das geistliche Leben. Heilige dienen der nach Vervollkommnung strebenden Seele als Leitbilder. Sie sind, so argumentierte er, exemplarische Beispiele dafür, wie wir sein können. Dass Heilige unter uns sind, ist ein lebendiges Zeugnis für die Wirkungskraft des Evangeliums, gerade so wie die Existenz von Wissenschaftlern und ihren Werken ein konkreter Beweis für Wert und Wirkungskraft wissenschaftlicher Lehrbücher ist.

Zur Antwort auf meine Frage holte Vater Maximos tief Luft, was eher wie ein Seufzer klang, und meinte dann, er habe im Umfeld von Altvater Paisios so viele außergewöhnliche Ereignisse erlebt, dass er gar nicht wisse, wo er anfangen solle. »Vielleicht können Sie Kyriacos den Vorfall mit den schwingenden Kerzen erzählen. Das ist eine gute Geschichte«, schlug Stephanos vor. Ich warf meinem grauhaarigen Freund im Rückspiegel einen kurzen, dankbaren Blick zu. Er hatte großes Interesse an meinem Projekt, und ich konnte mich immer darauf verlassen, dass er wie ein Katalysator für erquickliche Gespräche wirkte.

»Ach da«, erwiderte Vater Maximos. »Das ist eines der vielen Erlebnisse, die ich nie vergessen werde. Haben wir nicht bereits darüber gesprochen?« Als er merkte, dass ich gerne weitere Einzelheiten der Geschichte hören wollte, die er mir gegenüber vor vielen Jahren nur einmal kurz angerissen hatte, fuhr er fort. »Wie ich bereits gesagt habe, schlief Altvater Paisios kaum. Das ist wirklich nicht übertrieben. Ich glaube, er schlief tatsächlich nicht mehr als ein bis zwei Stunden pro Tag. Er verbrachte die gesamte Zeit im Gebet. Er hielt sich Wort für Wort an die Ordnung der täglichen Gottesdienste und Gebete, wie sie alle anderen Mönche befolgen, die im Kloster leben. Zusätzlich hielt er jede Nacht von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang Vigil und betete dabei ununterbrochen für andere und die Welt. Wenn ich bei ihm war, wurde ich jedes Mal Zeuge dieses immer währenden Gebets. Er betete jeweils eine Stunde für jede Menschengruppe, also für Waisen, Witwen, Flüchtlinge, die Kranken, diejenigen, die gerade einen Unfall hatten, für die Soldaten im Krieg und für andere Menschen in Not.«

»Offen gestanden«, warf ich ein, die Augen fest auf die Straße geheftet, »es ist schwer vorstellbar, wie jemand sein ganzes Leben auf einem abgelegenen Berg mit nichts anderem als Beten zubringen kann.«

»Offen gestanden«, gab Vater Maximos mit einem breiten Lächeln auf seinem runden Gesicht schlagfertig zurück, »der alte Paisios hat sich immer gewundert, wie Menschen ihr Leben ohne ständiges Gebet verbringen können. Nur um dir ein Beispiel dafür zu nennen, wie wichtig ihm das Gebet war«, fuhr Vater Maximos fort:

»Während des Golfkrieges hat er sich in seiner Zelle eingeschlossen und jeglichen Kontakt zu Besuchern abgebrochen. Das behielt er während der gesamten Dauer des Krieges bei. Ja, er intensivierte sein Gebet noch, damit der Krieg, wie er mir später sagte, nicht außer Kontrolle geriete und noch verheerender würde.«

»Hat er wirklich geglaubt, dass seine Gebete etwas ausrichten? Dass sie tatsächlich Einfluss auf den Kriegsverlauf in der Golfregion haben?«, fragte ich und warf Vater Maximos einen erstaunten Blick zu. Obwohl ich nun schon seit vielen Jahren Umgang mit Mystikern, Heilern und Eremiten pflegte, obwohl ich Zeuge spektakulärer Heilungsphänomene geworden war und trotz der jüngsten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit von Fürbitte-Gebeten, lag der akademische Skeptiker in meinem Hinterkopf stets auf der Lauer, jederzeit bereit, die Führung zu übernehmen.

»Aber natürlich, Kyriaco!«, erwiderte Vater Maximos allen Ernstes, als wolle er damit sagen, dass ich inzwischen doch um die Macht des Gebetes wissen müsse. »Genau deshalb beten doch heilige Männer wie Altvater Paisios unablässig. Hältst du sie für Dummköpfe? Warum überrascht dich das? Ganz egal, ob die Menschen das anerkennen oder nicht, die Gebete der Heiligen zum Wohl der Welt sind äußerst wertvoll und sehr, sehr wirksam.«

»Gott erhört sie«, bekräftigte Stephanos vom Rücksitz aus. Nach der geistlichen Überlieferung auf dem Athos wird ein Mensch, der seine persönlichen Wünsche vollkommen abgelegt und den Zustand der apathia (Befreiung von egoistischen Leidenschaften) erreicht hat, zu einem »Gefäß des Heiligen Geistes«. Was sich dieser Mensch dann wünscht, wird ihm stets gewährt, denn es ist in Wirklichkeit Gottes Wille. Das Bewusstsein des Heiligen steht völlig im Einklang mit dem Geist Gottes.

Buchtipp
Kyriacos C. Markides
Der Berg des Schweigens Begegnung mit einem christlichen Meister
384 Seiten, 19,95 €
ISBN: 978-3894276829
Aquamarin Verlag