Gut, dass was schief läuft

Moderne spirituelle Lehrer gibt es viele, aber nur wenige können auf so einfache Art und Weise begeistern wie Eckhart Tolle. Wie kein Zweiter spricht er voller Enthusiasmus über die Beziehung zur Gegenwart. Nicht, weil ihm nichts anderes einfällt, sondern weil es die einzige Möglichkeit ist, aus verworrenen Strukturen ein harmonisches Gleichgewicht zu formen. Wer in der Präsenz eines tiefen Bewusstseins erwacht, nimmt den Manifestationen des Egos seinen Raum. Die Reise zum inneren Kern des Selbst kann beginnen.

Eine wunderbare Analogie, sich des Lebens und seiner tatsächlichen Herausforderungen bewusst zu werden, ist, das eigene Leben mit einem Film oder einem Roman zu vergleichen. In jenen fiktiven Unterhaltungsszenarien bedarf es immer eines Hindernisses oder einer Schieflage, damit die Protagonisten eine Aufgabe bekommen, die es im weiteren Verlauf der Handlung zu lösen gilt. Ein Film oder ein Buch, in dem nichts schief läuft, kann kein Abbild der Wirklichkeit sein und wird niemanden interessieren. Erst die Schieflage einer Situation erzeugt die Lebendigkeit und Spannung, die Menschen brauchen, um sich zu entwickeln.

Umso verrückter ist es, wenn sich Menschen in ihrem täglichen Leben just über jene Hindernisse und Schieflagen aufregen oder beschweren. Im Film oder Buch ist es unabdingbar. In der Realität wird dies aber von den meisten abgelehnt. Wäre damit nicht die Tragik der modernen Gesellschaften aufs Eindringlichste beschrieben, müsste man annehmen, der Mensch führe ein Doppelleben – eines in einer fiktiven Welt und ein gänzlich anderes in der Realität.

Für Eckhart Tolle sind die meisten Menschen aus dem Grund auch noch gar nicht richtig in ihrem Menschsein angekommen. Sie sind nicht vollkommen, womit nicht die einer Leistungsgesellschaft zugeschriebenen Eigenschaften wie Perfektion oder Besitz gemeint sind, sondern die Beziehung zur tiefen Ebene der eigenen Identität. Der Bewusstseinssprung, der anstelle der Selbstzerstörung möglich sein könnte, ist in vielen Fällen noch nicht vollzogen. Noch regiert der notwendige Antagonismus der Ego-Identität, der sich in Klagen und Nicht-Akzeptanz der Gegenwart ausdrückt.

Eckhart Tolle bietet als Alternative keine Lehre und auch keine neue Formel an, um diesen Sprung zu bewerkstelligen, sondern die pure Verbindung mit der inneren Achtsamkeit. Was ihn von vielen anderen Meistern oder Lehrern unterscheidet, ist der konsequente Bezug zum Formlosen – jene Ebene des Göttlichen und der wahren Natur, die darauf wartet, integriert zu werden. Die Regeln dafür sind zeitlos und die Vermittlung davon ist als Angebot zu verstehen. Tolle tut nichts anderes, als über jene Zusammenhänge zu philosophieren. Wie eine Mutter, die Angebote macht, ohne zu fordern.

Wenn er das erste Mal nach fünf Jahren im Oktober diesen Jahres wieder in Deutschland zum gemeinsamen Eintauchen in die Stille einlädt, macht er sich dabei gerne über sich selbst lustig. Nach dem Motto: Überraschung, ich erzähle euch heute etwas über die Kraft des Jetzt. Was sollte er auch anderes tun? Die Glaubwürdigkeit dieser Botschaft wird gerade dadurch authentisch, dass sie beständig wiederholt wird und im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen muss. Jeder Umweg würde das formlose Bewusstsein des modernen Menschen nicht erreichen. Diese schlichte Weisheit steht über allem und erreicht eine Vielzahl von Menschen, die auf der Suche sind nach ihrem wahren Wesen.

Eckhart Tolle ist eine eindringliche Persönlichkeit, die nur auf den ersten Blick unscheinbar oder schüchtern wirkt. Sobald er die Bühne betritt und das Wort ergreift und seine spirituellen Botschaften aus dem Herzen fließen lässt, sind seine Zuhörer ergriffen. Aber nicht, weil sie seine Wörter in Konstrukte übersetzen, sondern weil er die Kraft der Gegenwart vorlebt und repräsentiert. Wie ein Tier oder ein kleines Kind lebt er in hingebungsvoller Freude mit dem, was gerade ist. Das Nachvollziehbare dabei: Er ist selbst ein Teil dieses Weges und spricht von alltäglichen Herausforderungen, die ihm genauso entgegentreten wie allen anderen auch. Nur geht er mit der Schlange im Supermarkt oder dem verspäteten Transportmittel anders um als die meisten.

Dass es überhaupt so weit gekommen ist, verdankt er, wie viele andere »Botschafter« auch, einer persönlichen Krise, die ihm im Alter von 29 Jahren zu einem spirituellen Erwachen geführt hat. Seitdem fühlt er sich verpflichtet, jene schlichte und doch so kraftvolle Botschaft zu vermitteln. In Anlehnung an den christlichen Mystiker des Mittelalters Meister Eckhart hat der 1948 in Deutschland geborene Ulrich Tolle seinen Namen geändert, um fortan seine Erkenntnisse zu vermitteln. Dabei orientiert er sich nur ansatzweise an buddhistischen, christlichen oder sufistischen Weisheiten. In erster Linie stellt er die all diesen Philosophien zugrunde liegende Wahrheit heraus, in der das Göttliche eben nicht in unerreichbaren jenseitigen Sphären zu erlangen, sondern im Moment der Gegenwart zu begreifen ist.

An der Analogie des im Christentum so oft verwendeten Begriffs »Himmelreich« veranschaulicht er diese Herangehensweise. Der Himmel ist eine »Nicht-Wirklichkeit«, etwas, dass nur als Analogie gelten kann. Im Gegensatz zu den belebten Körpern wie Sonne, Mond oder den Planeten bezeichnet der Himmel jenen unendlichen Raum, der kein Anfang und kein Ende hat und der nur als Begrifflichkeit für eine beschränkte menschliche Sichtweise gelten kann. Wenn in der Bibel also vom Himmelreich die Rede ist, kann damit nur die Metapher für ein Bewusstsein der Unendlichkeit gemeint sein. Man braucht nicht in den Himmel zu fahren oder sich seine Meriten zu verdienen, um einmal dorthin zu gelangen, sondern sollte es als Hinweis verstehen, die eigene Göttlichkeit in sich selbst zu erkennen.

Darüber zu sprechen oder zu schreiben ist der Sache nach nicht möglich. Wenn man es – wie Eckhart Tolle – doch macht, dann nur mit der einzig möglichen Absicht: den Raum zwischen den Gedanken, die jedes geschriebene oder gesprochene Wort beinhaltet, zu erweitern. Es ist ein kleiner Schubser aus der Unendlichkeit, der darauf hinweist, wie man die innere Stille – das ursprüngliche Bewusstsein im Menschen – zurückgewinnen kann. Anfangs hilft vielleicht die Frage, wie sich die persönliche Beziehung zur Gegenwart gestaltet.

Ist das alles? Ja, wenn man nach einer Methodik für die eigene Erleuchtung sucht. Nein, wenn man diese in sich erkannt hat.

Buchtipp
Eckhart Tolle
Jetzt! Die Kraft der Gegenwart
Ein Leitfaden zum spirituellen Erwachen

269 Seiten, 14,98 €
ISBN: 978-3-89901-301-6
Verlag J. Kamphausen