Alte Wege, neue Spuren

Die Neo-Schamanen

Der Neo-Schamanismus boomt. Nicht zuletzt, weil die Erde und ihre Gesundheit ein Hauptanliegen des Schamanismus allgemein ist und immer mehr Menschen einen Weg zu einem besseren Umgang mit Natur und Umwelt suchen. Doch um die Erde zu heilen, gilt es zuerst den Menschen zu heilen. Beides geht Hand in Hand.

Seitdem der Religionswissenschaftler Mircea Eliade den Schamanismus als globales Phänomen erkannte, das seine Wurzeln in etlichen Kulturen hat, und in ihm das Tor zur Rückverbindung des Menschen in die Ursprünglichkeit und harmonische Einheit mit der Natur sah, ist der Neoschamanismus entstanden. Die indigene religiös-magische Tradition wurde (wieder-)entdeckt und in unseren westlichen Kulturkreis integriert. Ihre Verbreitung in der industrialisierten Welt wurde auch durch die Werke Carlos Castanedas gefördert, welche ab Mitte der 1960er Jahre und darüber hinaus Generationen inspirierten. Michael Harner verfasste Ende 1970 als einer der ersten ein Praxisbuch für schamanisch Interessierte, das leicht nachzuvollziehen war und zum Grundlagenwerk für viele Anhänger wurde. Sein so genannter „Core Schamanismus“ bezeichnet die Grundtechniken, den gemeinsamen Nenner der später zahlreich entstehenden neoschamanischen Richtungen.

In den letzten Jahren erfährt dieser Boom neuen Schwung. Die täglichen Nachrichten von Umwelkatastrophen und Klimaveränderungen mögen ein Grund dafür sein. Aber auch innerer Sinn- und Harmonieverlust und Zivilisationskrankheiten lassen mehr und mehr Menschen nach alternativen Wegen suchen. Die Welt des Schamanen ist im Gegensatz zur „zivilisierten“ Welt eine Welt, in der alles beseelt ist. Dabei ist alles auf energetische Weise miteinander verbunden und voneinander abhängig. Kein Lebewesen ist weniger wert als der Mensch. Ganz im Gegenteil: Bestimmte Tiere und Pflanzen sind sogar heilig. Eine solche Weltsicht versteht den Menschen nicht als abgekapseltes Individuum, das Mitmenschen und Umwelt als zu besiegen ansieht. Auch wenn das Überleben sicherlich stets vorrangig ist, so bewirkt doch die Sichtweise des schamanischen Bewusstseins ein Gefühl des Eingebundenseins in ein größeres Ganzes, der Sinnhaftigkeit der Dinge, selbst wenn diese, in unseren Kontext übersetzt, mysteriös erscheinen.

Das Gefühl der Abgetrenntheit von sich selbst und vom Leben, das in unserem Kulturkreis oft erlebt wird, ist nach schamanischer Ansicht die Ursache für Krankheit. Krankheit beginnt immer zuerst in der Seele. Seelenanteile können sich abspalten, wenn eine Situation als zu schmerzhaft empfunden wird. Der Schamane macht sich daher mittels Trance auf eine Reise − die so genannte „schamanische Reise“ − in nicht-alltägliche Wirklichkeiten, wo er die Seelenanteile „sehen“ und zurückholen kann. Auf diese Weise führt er Heilung bei. Zuvor muss er selbst Erfahrung im schamanischen Reisen erlangt haben, damit er mittels seiner Kraft und seines Wissens anderen helfen kann. Im ursprünglichen Schamanismus ist eine Initiation, die eine psycho-energetische Erfahrung von Tod und Wiedergeburt herbeiführt, wesentlich, um selbst Schamane zu werden.

Zwei derzeit tonangebende Vertreter des Neoschamanismus sind Wolf Ondruschka und Tony Samara. Beide setzen die Heilung des Selbst und die Heilung der Erde in den Mittelpunkt ihres Wirkens. Wolf Ondruschka, geboren 1951 war 18 Jahre Lehrer, bevor er sich der Meditation, Heilung und indianischen Kultur widmete. Er lernte einige Jahre bei Harner und dem Sun-Bear Stamm in Amerika und wirkte bei der Findhorn Gruppe in Schottland mit. Er sagt: „Die starke Resonanz des schamanischen Weges in der modernen westlichen Gesellschaft könnte ein Hinweis auf die immer akuter werdende Frage des Lebens und Überlebens von uns Menschen auf der Erde sein.“ Ondruschka lebt in München und hält regelmäßig Heilsitzungen ab, um Menschen „wieder zu verbinden“ mit sich und dem Kosmos. Ohne die Hilfe der geistigen Welt, der „Spirits“ geht dabei gar nichts. Als Schamane ist er lediglich ein Vermittler zwischen den verschiedenen Wirklichkeiten.

„Klassischer“ Schamane aus dem Amazonasgebiet Ekuadors inmitten seiner „magischen“ Heilpflanzen. Schamanen arbeiten mit den Geistwesen der Pflanzen, weniger mit ihren pflanzlichen Inhaltsstoffen.

Nach seinem vergriffenen Buch „Geh den Weg des Schamanen“, welches hauptsächlich als praktische Anleitungen zur Erlangung schamanischer Kompetenz gedacht ist, widmet sich sein neuestes Buch „Entdecke die Liebe zur Erde“ wie der Titel schon sagt, besonders der Erde und ihrer Heilung. Die Leser werden mit verschiedenen Ideen zu einem Handeln inspiriert, das ihre Beziehung zur Erde vertiefen soll. Die Übungen und Rituale sind einfach und es bleibt genügend Platz für eigene Gedanken und Innehalten. „Nichts, was auf diesen Seiten steht, hätte irgendeinen Wert, wenn es nicht zu praktischem Handeln anregt“, schreibt Ondruschka. Es geht ihm um die Ebene, auf der wir alle fähig sind, mit unserer Umwelt zu kommunizieren. „Dem Schamanen in uns ist es möglich, mit Steinen, Pflanzen und Tieren zu sprechen und der Seele der Erde zu begegnen. So werden Erd- und Menschheilung eins“, meint er. Dass der Schamanismus sehr alt und im Prinzip „mulitkulturell“ ist, sieht Ondruschka darin bestätigt, dass die schamanischen Techniken eigentlich von allen Menschen leicht erlernt werden und ein Gefühl der Vertrautheit in ihnen erwecken. Möglicherweise vereinen sich im Schamanismus alle Religionen zu einer Grundreligion, deren Wurzel die Erde selbst, das Lebendige an sich ist.

Tony Samara, selbst multikulturell aufgewachsen, hat durch den Schamanismus zu Gesundheit von Körper und Seele zurück gefunden. Für ihn ist ebenfalls das praktische Umsetzen von schamanischem Wissen wichtig. Wissen, das durch Erfahrung entsteht, ist für ihn das einzig echte Wissen. 1965 in England geboren, wuchs Tony in Norwegen und Ägypten auf und hat schon früh spirituelle Wege beschritten. Da er als Kind sehr kränklich war, suchte er stets nach Heilung. Zwei Jahre verbrachte er in einem Zen-buddhistischen Kloster in Kalifornien. Dann begab er sich auf die Reise nach Südamerika, um nach einem Aufenthalt im Dschungel schließlich in den Anden bei den Huachuma-Schamanen zu lernen und eingeweiht zu werden. Seine Zeit dort heilte ihn und ließ ihn von da an eine ungekannte Freude und Ruhe im Leben empfinden, eine Rückkehr ins Sein an sich, wie er sagt.

Seitdem suchen unzählige Menschen seinen Rat und seine Lehren. Ebenso wie Ondruschka spricht Samara von dem Gefühl der Getrenntheit, das wir zur Heilung unserer Seele überwinden müssen. „Es war notwendig, mich von meinem Gefühl zu lösen, vom Wesenskern des Lebens getrennt zu sein.“ Er geht sogar noch weiter und äußert die Vermutung, dass diese Trennung die treibende Kraft hinter Kriegen, hinter Familienfehden und anderen Konflikten ist.

Ebenso geht für ihn innere Heilung mit der Heilwerdung der Erde einher. Er erläutert: „Eine Konfliktlösung muss mit der Beruhigung der eigenen inneren Konflikte beginnen, statt die äußere Welt verändern zu wollen.“ Der Verstand, das Ego sei die Ursache, dass das Gefühl der Trennung entstehe. Und doch sei dieses Gefühl nur eine Illusion. „Im Huachuma-Schamanismus“, erklärt er „sind all diese Dinge nicht Wirklichkeit, sondern Gedanken, die unsere Erfahrung erschaffen. Wir können aber eine Wahl treffen, was für eine Realität wir mit unseren Gedanken und Gefühlen schaffen.“

Ganz klassisch ging er durch die Erfahrung von Tod und Wiedergeburt, um an seine innerste Kraft zu gelangen und damit die Befähigung zu gewinnen, andere heilen zu können. „Es geht um den Tod des Leidens und die Wiedergeburt zu einer neuen Sichtweise der Dinge, wo der Bezugspunkt nicht mehr das Ego ist, sondern der Kosmos, denn alles hängt mit allem zusammen“, erklärt Tony dazu. Daher hält er es für essentiell, dass wir unsere Willenskraft nicht aus dem Ego heraus wirken lassen, sondern aus dem Herzen. Die Absicht des Herzens sei das, was unserem innersten Wesen zuträglich ist und heilsam wirkt. Die Absicht des Egos hingegen führe nur zu mehr Verwirrung und Unzufriedenheit.

Sein Buch „Schamanenweisheit“ lädt ein, Neues auszuprobieren, um das Gespür für Energien, die gewöhnlich so fein sind, dass sie kaum wahrgenommen werden, zu vertiefen. Es beschäftigt sich mit Traum, Totemtieren und den traditionellen vier Richtungen des Medizinrades. Atem- und Körperarbeit, Meditationsübungen und Ernährungstipps sowie energetische Körperstellungen der Huachuma-Schamanen geben den Lesern genügend „Stoff“ für Eigeninitiative.

Aber auch die Philosophie und Mentalität der indigenen Kultur kommt immer wieder zum Vorschein. So beschreibt Tony eine interessante Begebenheit ganz zu Anfang seiner Reise in den Dschungel: Als ein Reisegefährte von einem Schwarm Bienen angegriffen wird, lachen die mitreisenden Amazonas-Indianer und verhalten sich auf ganz unverständliche Weise. Auf die Frage des erschrockenen Samara nach dem Grund dafür, erklären sie, dass der Energiekörper des Mannes, der von den Bienen lebensgefährlich gestochen worden war, bereits in Angst und Schmerz versetzt war, und dass die Negativität des Autors der Person nur schaden würden. Wahres Mitgefühl bestehe nicht darin, Angst, Negativität oder Zweifel zum Ausdruck zu bringen. „Indem wir lachten, halfen wir, die Angst aus dem Körper des Mannes zu vertreiben, der bereits unter Schock stand und zu sterben drohte“, erläutern sie.

Diese Situation machte Tony Samara sehr nachdenklich. Er schreibt: „ Ich erkannte, dass außer mir alle im Kanu diese Situation in Hinblick auf Heilung gewärtigten und nicht aus der Sicht des Egos.“ Inzwischen jedoch hat er einiges dazu gelernt und als Wanderer zwischen den Kulturen eine völlig neue Perspektive auf die Welt erhalten.

BUCH-TIPP
Wolf Ondruschka
Entdecke die Liebe zur Erde
280 Seiten, € 19,80
ISBN: 978-3-89901-164-7
Verlag Neue Erde

BUCH-TIPP
Tony Samara
Schamanenweisheit
128 Seiten; € 11,80
ISBN: 978-3-89060-276-9
Verlag Neue Erde