Interview mit Tim von Lindenau
Tim von Lindenau ist ein Frühstarter und ein Multitalent. Schon mit 13 zog er musizierend durch die Gegend und erkundete das Land. Er erlernte das Tischlerhandwerk und verdiente sein Geld als selbständiger Bühnentechniker. Doch eines Tages bekam er einen „Rappel“ und riss sich aus seinem alten Leben los, um ohne Zelt, Schlafsack und Verpflegung ein Jahr im Wald zu leben. Er lernte die Natur von einer ganz anderen Seite kennen: als Reich der Naturgeister. Diese Zeit veränderte ihn grundlegend. Er begann Bücher zu schreiben und seinem Leben einen anderen Sinn zu geben.
newsage: Wie kamen Sie darauf, ein Jahr im Wald zu leben?
Tim: Im Jahr 2001 gab ich mein Kleinunternehmen im Bereich Bühnentechnik auf. Ich hatte das Gefühl überarbeitet zu sein und mich nicht auf meinem Weg zu befinden. Auf der Suche nach dem eigenen Ursprung und einer Neuorientierung ging ich für ein halbes Jahr ins Ausland. Draußen in der Natur, in einer Höhle hausend, fing ich an, mich mit Botanik, Ethnologie und keltisch-germanischer Geschichte und Mythologie zu beschäftigen. Nach meiner Rückkehr war es mir unmöglich, zurück in die Stadt zu ziehen und so lebte ich weitere neun Monate größtenteils im Wald und vertiefte dort meine Studien.
newsage: Sie haben auch ein Buch über essbare Pflanzen geschrieben. Was haben Sie alles gegessen?
Tim: Ich sammelte alles, was mir essbar erschien und lernte viele mir unbekannte Pflanzen kennen. Ich muss sagen: Deutschland und besonders der Schwarzwald sind das reinste Schlaraffenland. Wo man hinschaut, überall saftiges Grün und fast alles kann man essen. Es ist auch keinesfalls so, dass man sich vorkommen muss wie eine Kuh auf der Wiese. Nein, es ist wirklich erstaunlich, welche Vielfalt uns die Natur auf den Tisch stellt. Früchte, Wurzeln, Gemüse und Kräuter sind uns als Grundnahrungsmittel ja bekannt, wie etwa Äpfel, Kartoffeln, Lauch und Petersilie.
All das finden wir in verwandter Form auch im Wald und auf den Wiesen: Holzäpfel, Wildkirschen, Beeren, wilde Möhren, diverse Blätter und Kräuter. Ein von gezüchtetem Obst und Gemüse verwöhnter Mensch muss da allerdings seine Abstriche machen. Ein Holzapfel trägt nicht umsonst seinen Namen. Er ist sehr holzig, eben nicht leicht zu kauen. Und die wilde Möhre, zwar im Geschmack und Aroma der Zuchtmöhre weit überlegen, ist dafür aber sehr faserig. Viele Wildgemüse und Kräuter haben zudem einen scharfen und bitteren Nachgeschmack – vergleichbar mit den Unterschieden beim Fleisch. Wild hat ja auch seinen ganz speziellen Geschmack, der beim gezüchteten Schwein oder Rind nicht vorkommt.
Alles in allem kann ich nicht verstehen, wie es in unseren Breitengraden jemals Hungersnöte geben konnte. Wenn die Menschen Bescheid gewusst hätten, so wären sie in die Wälder gezogen und hätten für alle ausreichend Nahrung gefunden.
newsage: Das Thema Borreliose ist gerade wieder in aller Munde und auch Thema dieser newsage-Ausgabe. Haben Sie Probleme mit Zecken gehabt?
Tim: Nein, mit Zecken hatte ich keine Probleme. Zecken sind ja ganz gewöhnliche Tierchen und genießen derzeit einfach sehr viel Aufmerksamkeit. Sicher können Zecken Probleme verursachen, aber die Statistiken sprechen von einer Erkrankungswahrscheinlichkeit von 0,5 Prozent, sollte man gebissen werden. Man müsste 200 Zecken gehabt haben, um tatsächlich zu erkranken. Ein gesunder Mensch sollte nicht gleich in Panik verfallen, wenn er einmal eine Zecke am Leib findet. Entfernt man die Zecke innerhalb der ersten drei bis vier Stunden sinkt die Gefahr einer Erkrankung auf nahezu null Prozent.
newsage: Was zog Sie wieder zurück in die „Zivilisation“? Wie fühlten Sie sich nach einem Jahr im Wald?
Tim: Wo sich manch einer auf Dusche und Fernseher freuen würde, fand ich nur Stress und Unverständnis meinerseits. Ich irrte zunächst, verzweifelt über die unangenehmen Eindrücke, umher und bin seit damals immer auf der Suche nach Kompromissen. Ich habe mich sozusagen nie von der Waldzeit erholt und bin ein Einsiedler geblieben. Allerdings empfinde ich auch Dankbarkeit für die Probleme, die ich heute in Städten habe. Ich glaube, dass meine Abneigung gegen Menschenmassen und Reizüberflutung ein gesunder Abwehrmechanismus ist.
newsage: Sie sprechen von der anderen Seite des Waldes. Was ist diese andere Seite und wie offenbart sich diese Ihnen?
Tim: Die andere Seite des Waldes ist eine Parallele zu der uns bekannten Seite – dort leben laut Volksglauben Geister und Mythengestalten. Es gelten uralte Regeln und Gesetze, die unserer heutigen Welt teilweise sehr gut täten. Die Anderwelt, wie ich sie erlebe, ist aber nicht die aus alten Geschichten. Der Zahn der Zeit nagt nicht nur auf unserer Seite. Doch auf beiden Seiten hat das seinen tieferen Sinn. Die Wesen aus den alten Geschichten haben sich mit der Zeit auch weiterentwickelt und nutzen neue Erkenntnisse, jedoch scheinen ihnen Traditionen viel wichtiger zu sein wie uns. Die Geister des Waldes brauchen keinen modernen Schnickschnack. Alles, was sie zum Leben benötigen, bietet ihnen die Natur.
newsage: Sie haben wunderschöne Fotos vom Wald gemacht. Fast kann man die Präsenz von Wesen der anderen Seite beim Betrachten spüren. Was hat Sie zu den Bildern inspiriert?
Tim: Um diese Frage am besten zu beantworten, kann ich Ihnen nur raten, raus in den Wald zu gehen, alle gesellschaftlichen Lasten zu hause zu lassen und sich einfach unter einen großen Baum abseits der Wanderwege zu setzen, tief durchzuatmen, einen Moment die Augen zu schließen, zu lauschen, zu riechen und zu spüren, was Sie dort umgibt. Wenn Sie dann nach einer Weile die Augen wieder öffnen, finden Sie die Antwort auf Ihre Frage.
newsage: Versetzt der Wald Sie automatisch in einen anderen Bewusstseinszustand? Haben Sie schon andere hellsichtige Erfahrungen gemacht?
Tim: Sagen wir‘s mal so: Ich habe in meinem Leben viele merkwürdige Erfahrungen gemacht – ob die hellsichtig waren ist eine schwer zu beantwortende Frage. Wenn ich in den Wald gehe und das Glück habe, eine große Portion innerlicher Ruhe zu haben, dann erlebe ich im Wald sicherlich mehr Merkwürdiges als anderswo. Jedoch ist mein Bewusstseinszustand derselbe, unabhängig vom Ort. Der Wald ist für mich ein heiliger Ort. In ihm kommen mir auf jeden Fall Gedanken, die man als hellsichtig betrachten könnte.
newsage: Was für Begegnungen hatten Sie mit Naturgeistern? Sind Sie jemals einer Fee begegnet?
Tim: Ich möchte nicht jede Begegnung, die ich mit den kleinen Leuten hatte, in die Öffentlichkeit tragen, aber ja, ich bin Feen begegnet. Ich möchte dazu nur einige Missverständnisse beseitigen. Feen sind nicht gleich Feen. Zwar können Feen fliegen (wenn sie wohl auf sind) aber sie sind keine kleinen Barbiepüppchen, die mit großen Kulleraugen Kinderherzen höher schlagen lassen. Sie sind von verschiedener Gestalt, von unterschiedlichstem Charakter und bestimmt nicht putzig. Wenngleich sie auch unwiderstehlich sind, da sie die Angewohnheit besitzen, die Menschen zu verzaubern, waren die meisten Feen, die ich zu Gesicht bekam, doch schneller wieder fort, wie ich auf sie reagieren konnte. Bei näherer Bekanntschaft entsprach das, was ich erlebte, allerdings nicht den allgemeinen Wunschgedanken.
newsage: Was bedeuten Bäume für Sie?
Tim: Bäume sind für mich die Säulen der Erde. Ein Leben ohne Bäume ist für mich undenkbar.
newsage: Sie sagen, die Dämmerung sei die Zeit der Anderwelt. Was ist besonders an der Dämmerung?
Tim: In einem meiner nächsten Bücher gehe ich näher auf das Thema ein. Schwellenzeiten sind Zeiten, in denen die Grenze zur Welt der Geister, kleinen Leute und anderem Gelichter besonders durchlässig ist: in Nebeln und Stürmen, wenn Blitze vom Himmel schlagen, am Umbruch von Tag und Nacht – da erscheinen und widerfahren den Menschen seit jeher merkwürdige Dinge. Vor diesen Toren entstanden Mythen und Märchen, Glaube und Aberglaube.
newsage: Interessieren Sie sich auch für andere esoterische Themen oder Glaubensrichtungen? Was ist Erleuchtung für Sie?
Tim: Hierzu möchte ich weiter ausholen. Ist das Wort Esoterik überhaupt noch sinngemäß in den Bereichen, wo wir es gebrauchen? Der Begriff bedeutet ja Geheimhaltung, was wohl wenig mit öffentlicher Spiritualität zu tun hat. Da ist der Begriff nicht angebracht. Wenn man aber die Probleme der modernen Esoterik näher betrachtet, so gewinnt der Ausdruck dann doch wieder an Bedeutung. Die heute so genannten Esoteriker scheinen in erster Linie Suchende zu sein. Menschen, die sich einen tieferen Sinn im Leben erhoffen und ganz fest daran glauben, dass Gott und das Universum kleine und größere Geheimnisse beinhalten, die es aufzustöbern gilt, um mit ihnen dem Leben einen tieferen Sinn zu verleihen. Das hört sich verlockend an und ebenso verlockend sind auch die Angebote und Wege, die sich dem Suchenden bieten.
Hoffnungsvoll müht sich dann der Suchende auf steinigen Pfaden ab. Die Sonne brennt erbarmungslos auf den kleinen Menschen hinunter und seinen Geist dürstet es nach der erleuchtenden Erfrischung, die doch da irgendwo auf ihn warten muss … Aber Geduld scheint gefragt zu sein, um zu Erkenntnissen zu gelangen, denn viele Suchende bleiben am Wegesrand vor Erschöpfung liegen und hadern mit den Geschichten, die man ihnen erzählte.
Jetzt macht der Begriff Esoterik wieder Sinn: Der Suchende kniet vor einem ihm immer noch unerschlossenen Geheimnis: Der Weg zum Göttlichen. Erleuchtung erkläre ich mir als allumfassende Erkenntnis und Zufriedenheit mit dem was man ist und besitzt. Zu der großen Erkenntnis kommt dann allerdings unweigerlich auch die Qual des Wissens und Erspürens. Das ist dann wohl eine Art Fluch der Weisen. Wenn man dann lernt mit all den höheren Dingen in Frieden zu leben, ist man wahrscheinlich das, was viele erleuchtet nennen.
Die andere Seite des Waldes
105 Seiten, € 19,80
ISBN: 978-3-89060-270-7
Verlag Neue Erde