Erwachsen werden

Jed McKenna, das unbestrittene „enfant terrible“ der spirituellen Literatur, hat es wieder getan: Nach „Verflixte Erleuchtung“ und „Spirituell unkorrekte Erleuchtung“ konfrontiert er den Leser in seinem neuesten Werk „Spirituelle Dissonanz“ auf seine gewohnt trocken-humorvolle Art mit seiner unkonventionellen Sicht der Dinge. Eine Konfrontation, der man besser aus dem Weg geht, wenn man Weiterschlafen will, denn wie kaum ein anderer polarisiert der Erfolgsautor: Die einen sehen in ihm einen arroganten, lästernden Nestbeschmutzer, die anderen feiern ihn als revolutionären Bilderstürmer, der seine Leser verbal aus dem Bewusstseinskoma ohrfeigt und zum Erwachen und Erwachsen werden aufruft.

Nach Carlos Castaneda ist Jed McKenna wohl einer der bekanntesten Unbekannten der spirituellen Literatur. Von ihm gibt es weder Fotos noch biographische Daten – selbst das sonst allwissende Internet spuckt nur das aus, was er selbst veröffentlicht hat oder was seine Leser über ihn zu sagen haben. Was durchaus stimmig ist für einen, der nach eigenen Angaben erleuchtet ist und somit als Person nicht mehr existiert.

Den Angaben seiner Bücher zufolge, die ebenso fiktiv wie wahr sein könnten, ist der Ich-Erzähler Jed McKenna etwa Jahrgang 1962, ein gebildeter, belesener, finanziell und sozial ungebundener Amerikaner, der mal hier und mal dort lebt. Im Alter von etwa Mitte 20 fand er durch den von ihm selbst entwickelten Schreibprozess namens „spirituelle Autolyse“ Erleuchtung. Nach eigenen Aussagen lebt er heute in Mexiko, wo er sich mit seinem Hund Maya niedergelassen hat, um gemeinsam „die Welt vorüberziehen zu sehen“.

Aber warum schreibt so jemand Bücher? Und was hat er zu sagen? Die erste Frage beantwortet McKenna selbst: Das Buch „musste geschrieben werden“ – es war das Universum selbst, das ihn damit beauftragte und ihm beim Schreiben half. „Das klingt jetzt, als wären das Universum und ich zwei voneinander getrennte Dinge“, meint McKenna. „In Wahrheit ist es der Verzicht auf jene künstliche Unterscheidung, von der ich spreche.“ Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer: Der Erfolgsautor, seines Zeichens ein „Schmetterling unter Raupen“, berichtet aus der Perspektive eines non-dualen Bewusstseins und versucht dem Leser klar zu machen, worauf es im Leben ankommt.

In „Spirituelle Dissonanz“, dessen Originaltitel übrigens „Spiritual Warfare“, das heißt „Spirituelle Kriegsführung“ lautet, geht es McKenna gar nicht darum, die Menschen zur Erleuchtung zu prügeln, sondern um eine ganz andere Art des Erwachens, die vielmehr Erwachsensein bedeutet. „Würde man mich um Rat fragen“, sagt er, „würde ich Erwachsensein jedem und Erleuchtung niemandem empfehlen. Menschliches Erwachsensein verhält sich positiv zum Leben, Erleuchtung negativ. Menschliches Erwachsensein ist der wahre Hauptgewinn. Erleuchtung ist zwecklos und bedeutungslos und sollte nur von Leuten angestrebt werden, die diesbezüglich keine andere Wahl haben.“

Große Kinder im Dauerschlaf
Bevor wir zum Unterschied zwischen Erleuchtung und Erwachsensein kommen, wollen wir uns anschauen, was McKenna eigentlich mit „Erwachsensein“ meint. „Die menschliche Kindheit ist der egoverhaftete Zustand“, schreibt er. „Bei Kindern ist dies ein gesunder und natürlicher Zustand. Bei erwachsenen Menschen jedoch ist es ein abscheuliches Gebrechen. Die einzige Chance, dass ein solches Gebrechen unentdeckt und unbehandelt bleibt, besteht darin, dass alle gleichermaßen davon betroffen sind, und genau das ist der Fall.“

McKenna zufolge hören die meisten Menschen im Alter von zehn bis zwölf Jahren auf, sich weiterzuentwickeln: „Der durchschnittliche Siebzigjährige ist oft ein zehnjähriges Kind, das sechzig Jahre lang im Dienst war. Unsere Gesellschaften sind von menschlichen Kindern für menschliche Kinder gemacht, woraus der sich selbst reproduzierende Charakter dieses schaurigen Leidens sich ebenso erklärt wie ein Großteil der Dummheit, der wir auf dieser Welt begegnen.“ Und McKenna fügt hinzu, dass sich bislang keine der gängigen Gesellschaftsformen „über das Stadium hinaus entwickelt hat, in dem kleine Mädchen ‚feine Dame’ spielen und Jungs Frösche quälen.“

„Lebten wir in einer Gesellschaft, die einer gesunden und normalen Entwicklung förderlich wäre“, meint McKenna, „würde jeder, was seine Persönlichkeitsstruktur betrifft, der Kindheit zur selben Zeit entwachsen, wie dies auch in körperlicher Hinsicht geschieht. Doch eine solche Gesellschaft existiert nicht, und es besteht kein Grund zur Annahme, dass sie je existieren wird. Wir sind gefangen in einem Zustand des ichbewussten affenartigen Bewusstseins.“

Für Jed McKenna sind daher auch alle negativen Eigenschaften, die dem Menschen gemeinhin zugeschrieben werden – wie Gier, Bestechlichkeit, Dummheit, Apathie, Hass oder Grausamkeit – keineswegs Symptome des Tieres im Menschen, sondern infantile Merkmale, die letztlich alle aus einer Wurzel gespeist werden: Angst. „Angst ist der natürliche und unabdingbare Zustand eines Menschen, der mit geschlossenen Augen lebt“, sagt er. „Unwissenheit hingegen heisst zu glauben, die geschlossenen Augen wären geöffnet und die Welt, wie man sie sich vorstellt, entspräche der Welt, wie sie tatsächlich ist.“

Um dies zu vermeiden, meint McKenna, bedürfe es echter Übergangsriten, die aber weit über rein symbolische Zeremonien hinausgehen müssten. Zudem bestünde die Notwendigkeit einer Gesellschaft von erwachsenen Menschen, in die der Aspirant hineinwachsen könne – etwas, das aber nicht gegeben sei. Das sei die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht sei jedoch, dass auch jemand im nicht-adäquaten Entwicklungsalter den Übergang zum Erwachsensein vollziehen könne.

„Es lässt sich nicht sagen, was für wen möglich ist“, betont McKenna, „aber ich bin recht zuversichtlich, wenn ich sage, dass alle, die ihre Gefangenschaft begreifen und sich nach Freiheit sehnen, entdecken werden, dass es möglich ist, eine dramatische Veränderung ihres Zustands herbeizuführen.“

Erwachen zum Erwachsensein
Aber was bedeutet es, erwachsen zu werden, und inwieweit sind hierbei spirituelle Techniken von Nutzen? McKenna glaubt nicht an die gängigen Rezepte zur Tötung oder Überwindung des Egos und sagt unverblümt: „Der spirituell-religiöse Marktplatz, der eigentlich voll und ganz im Dienst dieses elementaren entwicklungsmäßigen Aufbruchs stehen sollte, wirkt ihm in Wahrheit fast vollständig entgegen.“

„Es gibt eine Menge Bücher, in denen steht, wie wir Wünsche manifestieren können, die wir im nichtganzheitlichen Stadium der menschlichen Kindheit hegen, wie man mit Hilfe von Gebeten, Wunschtechniken, Affirmationen oder den Gesetzen der Anziehung ein besseres Haus bekommt, ein schnelleres Auto, den perfekten Partner und so weiter“, schreibt er. Ihm gehe es aber um den Übergang zum menschlichen Erwachsenenstadium, in dem Gebete, Wunschtechniken, Affirmationen und all das überflüssig würden: „So überflüssig wie bei einem Test zu schummeln, wenn man die Antworten weiß.“

Mit solchen Aussagen hat sich das „enfant terrible“, das sich selbst nicht als Kind sieht, keine Freunde in der spirituellen Szene gemacht – aber darum geht es Jed McKenna auch gar nicht, zumal er sich jenseits seiner Bücher nicht am bunten Treiben auf dem „spirituellen Spielplatz“ beteiligt. Ihm geht es vor allem um die Frage, „wie man sich von spirituell erstickenden, emotionalen Ketten befreien und ein wahres, echtes Leben führen kann. Seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten“, sagt er, „heißt, sich vor der wahren Lebensreise zu drücken.“

Und diese Reise beginnt eben mit dem Erwachen – nein, nicht mit dem Erwachen aus dem Traum, was laut McKenna der Erleuchtung gleichkommt, sondern mit dem Erwachen im Traum, was ihm zufolge einem Aufbruch in den Zustand wahren Erwachsenseins bedeutet. Genau dahin versucht er den Leser mittels platonischer Dialoge zu führen und bedient sich dabei allerlei klassischer Tricks und Kniffe als Mittel spiritueller Kriegsführung. Zu nennen wären etwa das „memento mori“, das bewusste Gedenken der eigenen Sterblichkeit, oder die „cogitatio“, ganz im Sinne Descartes, bei der es darum geht, dass wir über das „cogito ergo sum“, über die eigentliche Erkenntnis des „ich bin“ hinaus nichts mit absoluter Sicherheit wissen können.

„Das Cogito ist nicht einfach nur ein Gedanke oder eine Idee“, meint Jed McKenna, „es ist ein egofressender Virus, der – sofern es uns gelingt, unsere Abwehrmechanismen abzubauen – zu guter Letzt alle Illusionen verschlingen wird. Sobald wir das Cogito kennen, können wir systematisch damit beginnen, alles, von dem wir meinen, es zu wissen, zum Nichtwissen zu machen, sowie das Selbst, von dem wir meinen, es zu sein, nach und nach aufzulösen. Bis es sich von innen nach außen gefressen hat, kann es oft Jahre dauern.“

McKenna lässt keinen Zweifel daran, dass der von ihm vorgeschlagene Weg zum Erwachen und zum Erwachsensein kein Schnellkurs ist. Maya, die „Architektin der Täuschung“ und „Weberin der Träume“ ist genauso gerissen und schlau wie unser Ego – und die meisten von uns wollen offenbar gar nicht in oder aus ihrem Traum erwachen.

„Viele Menschen hören in ihrem Leben die Alarmglocken läuten, den Weckruf des Erwachens,“ spottet McKenna, „doch was wir wirklich wollen, mehr als Sex, Macht, Ruhm, Liebe, Unsterblichkeit oder Geld, ist, die Schlummertaste zu drücken und weiterzuschlafen. Wenn das Leben ruft, wollen wir nichts, als uns die Bettdecke über den Kopf ziehen und vor allem die Augen geschlossen halten.“

Für die, die den Weckruf hören und keine Angst davor haben, der oft unangenehmen Wahrheit vorurteilsfrei ins Gesicht zu schauen, hat Jed McKenna einiges zu bieten, auch wenn oder gerade weil er wie einst Nietzsche in der „Götzendämmerung“ mit dem „Hammer philosophiert“ und kein goldenes Kalb ungeschoren lässt. Selbst über das „carpe diem“, „nutze den Tag“, geht er frech hinweg und sagt: „Hätte ich einen Sohn oder eine Tochter, also jemanden, dessen Fürsorge mir sehr am Herzen läge, ich würde ihn vielmehr mit den Worten ‚carpe vitae‘ ermutigen: Nutze dein Leben. Und würde ich das lateinische Wort für ‚scheißverflucht‘ kennen, würde ich es ihm auch noch einhämmern.“