Kuan Yin, die »Göttin der Heilung und des Mitgefühls«, begegnete mir vor über zwölf Jahren zum ersten Mal. Ich hatte von der chinesischen Tai-Chi- und Kalligrafie-Meisterin Julie Lim einen goldenen Schmuckanhänger für meine Übersetzungsarbeiten überreicht bekommen. Auf der Vorderseite war die auf einem großen Lotos stehende Kuan Yin, auf der Rückseite der Text des ihr zugeschriebenen berühmten Herz-Sutras eingraviert, das lehrt, wie menschliche Sinneswahrnehmungen transzendiert werden können. Nur kurze Zeit später erhielt ich von einem buddhistischen Meister in Malaysia eine weitere Kuan-Yin-Einweihung. Außerdem erzählte er mir Geschichten über Kuan Yin, in denen sie Seeleute rettet und den Wunsch nach Kindern in Erfüllung gehen lässt. Und er fragte mich, ob ich nicht eine Kuan-Yin-Statue kaufen wolle.
Voller Begeisterung ging ich auf seine Empfehlung hin in einen der kleinen asiatischen Läden, die übervoll sind mit den verschiedensten Waren. Hier gibt es einfach alles – vom Reiskocher über Räucherstäbchen bis zu »Geistergeld«. Inmitten dieses bunten Allerleis prangten auch große Kuan-Yin-Figuren aus feinstem Biskuitporzellan, von denen einige den persönlichen Stempel des jeweiligen Künstlers trugen. Da gab es eine stehende Kuan Yin aus rosa Porzellan, die eine zarte Lotosblüte in ihrer Hand hielt. Eine andere stand auf einem Sockel aus schäumendem Wasser und hatte die Nektarvase in Händen, die ihr spezielles Erkennungszeichen ist.
Durch meine intensive Arbeit mit dem Feng-Shui-Meister Jes Lim und mein starkes Interesse an der asiatischen Kultur war ich mehr als offen für die Kraft dieser Kunstwerke. Begeistert erstand ich drei dieser großen Schönheiten und fragte mich in diesem Moment bereits, wie ich sie überhaupt nach Hause transportieren sollte. Hier half Kuan Yin: Nachdem ich sie eindringlich gebeten hatte, mir beim Transport zu helfen, gelang es mir, die riesige Tasche als Handgepäck unbemerkt zum Flugzeug zu tragen. Als ich gerade einsteigen wollte, wurde ich allerdings doch aufgehalten und musste bange Minuten warten, bis der Steward schließlich sein Einverständnis gab, mir jedoch die Tasche mit den Figuren abnahm. Ein wenig später kam eine der Flugbegleiterinne an meinen Platz und beruhigte mich lächelnd: Die Tasche sei während des Fluges in der ersten Klasse sehr gut untergebracht. Die größte dieser wundervollen Figuren ist et-wa fünfzig Zentimeter groß und bildet inzwischen den Mittelpunkt meines Hausaltars.
Nach diesem inspirierenden Erlebnis stimmte ich mich zunehmend auf Kuan Yin ein und sie gab mir zahlreiche Hinweise, wo auf meinen Reisen sie zu finden sein würde: Bei einer Taxifahrt in Sydney etwa fiel mir ein Straßenschild mit dem lustigen Namen »Wollongong« auf. Ich schmunzelte in mich hinein, fragte aber intuitiv nach und erfuhr, dass es dort einen großen buddhistischen Tempel gebe. Meine Neugier war geweckt und so fand ich den Weg zum größten chinesisch-buddhistischen Tempel der südlichen Hemisphäre. Dort erhielt ich die Gelegenheit, viele wunderbare, in Granit gehauene Kuan-Yin-Figuren zu studieren und zu fotografieren.
Dass es den amerikanischen »Schwester-tempel« gibt, ließ Kuan Yin mich mitähnlicher Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit wissen: Gemeinsam mit meinem Mann war ich in Chiatown (Los Angeles) unterwegs und wollte eines der bunten Leuchtbilder kaufen, die Kuan Yin zeigen und über einen eingebauten Chip ihr Mantra ertönen lassen. Als ich gerade eines der Bilder genauer betrachtete, sprach mich John an, der beim Sicherheits- dienst des Kaufhauses arbeitete, ob ich denn den großen Kuan-Yin-Tempel kenne, der ein Stück außerhalb der Stadt in den Bergen liege. Als ich verneinte, erklärte er uns erfreut den Weg dorthin.
Die riesige Anlage des Hsilai-Tempels schmiegt sich nach bestem Feng-Shui an den Hang eines Berges und bietet einen wunderbaren Ausblick auf die Ebene. An diesen prächtigen Ort kehre ich immer wieder gern zurück, um mit Kuan Yin Verbindung aufzunehmen. Neben zahlreichen anderen Zeremonien und Sutra-Lesungen findet hier einmal im Monat die dreistündige Zeremonie des »Dharani des großen Mitgefühls« statt, die Kuan Yin gewidmet ist. Es ist für mich jedes Mal aufs Neue sehr berührend, wenn sich über 500 Menschen – meist Asiaten – im Hauptschrein versammeln. Der Klangteppich, der durch den vielstimmigen Gesang der Nonnen und der Teilnehmer entsteht, die Glockentöne und die zahlreichen Verbeugungen er-schaffen ein riesiges Energiefeld, in dem Kuan Yin besonders greifbar wird. Sehreindrucksvoll ist es, wie diszipliniert sich diese Menschenmenge in Bewegung setzt, in Schlangenlinien durch die Reihen der Gebetskissen geht und dabei das große Dharani-Mantra rezitiert. Am Ende erhalten alle eine kleine Flasche Kuan-Yin-Wasser, das mit den heilenden Schwingungen der Anrufungen aufgeladen ist.
Anfang April des Jahres 2002 wurde mir eine Gehmeditation anlässlich des Geburtstags von Kuan Yin beschert. Viele Menschen hatten sich ganz unten vor den Toren des oben genannten Tempels versammelt. Ich ging davon aus, dass wir Mantras rezitierend nach oben zum Tempel gehen würden … aber diese Übung verlangte einiges mehr: Man macht während der Rezitation zwei Schritte, verbeugt sich, kniet nieder, berührt dabei mit den Händen oder mit der Stirn den Boden, steht wieder auf und so weiter. Begleitet von Trommel- und Glockensignalen, hat es fast zwei Stunden gedauert, bis wir den Hauptschrein oben am Berg erreichten. Ich hielt tatsächlich durch und für mich war diese Übung einbesonderer Segen – ich fasste nun endgültig den Entschluss, meine anstehendePilgerreise zum Berg Kailash anzutreten weitere spannende Erfahrungen hielt Kuan Yin für mich bereit, als ich 2003 ihren Hauptwohnsitz auf der Insel Putuo Shan besuchte. In Begleitung einer meiner chinesischen Freundinnen, Elie, die für mich dolmetschte, nahm ich bei meinem ersten Besuch im Sommer von Shanghai aus das Nachtboot. Außer einem niederländischen Computerspezialisten, der in Shanghai wohnte und mit seiner Familie zur Erholung ein Wochenende am Strand von Putuo Shan verbringen wollte, waren keine Europäer an Bord. Beim typisch chinesischen Frühstück mit Reisbrei, sauer eingelegtem Gemüse und Erdnüssen entdeckten wir auf dem offenen Meer im feinen Morgennebel die ersten Inselchen und schließlich die riesige Kuan-Yin-Figur im Hintergrund des Hafens im Profil. Wir verbrachten einen tropisch-schwülen Tag auf der Insel, besuchten die drei Haupttempel mit ihren riesigen goldenen Buddhafiguren und zauberhaften Steinschnitzereien. Wir waren so fasziniert, dass wir beschlossen, noch einmal zurückzukehren.
Eisige Winde begrüßten uns, als wir einige Monate später, kurz vor dem chinesischen Neujahr im Januar 2004, wieder nach Putuo Shan reisten. Die Insel war zu dieser Jahreszeit einsam und der Geist und die Stimme von Kuan Yin waren nun noch deutlicher zu vernehmen … sie flüsterte in den Felsspalten, in kleinsten Tempeln und in der Meeresbrandung. Ich unterhielt mich mit Mönchen und Pilgern, hatte ständig klamme Finger vom Fotografieren, kroch in enge Höhlen hinein, genoss das gute vegetarische Essen und konnte mich von den alten Tempeln, die wie in eine andere Zeitdimension getaucht waren, kaum losreißen. Einer der Mönche ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Er ließ mich freundlich eine Figur fotografieren, obwohl mich ein anderer Tempelbesucher davon abhalten wollte. Der Mönch sagte: »Für Kuan Yin ist das alles ganz in Ordnung, denn vor ihr sind alle gleich.«
Neben meinen Weltenreisen auf den Spuren von Kuan Yin drang ich nun auch immer mehr in ihre Geschichte ein. Wer würde auf den ersten Blick davon ausgehen, dass ihre Wurzeln im alten Indien liegen? Allerdings hatte sie da noch eine andere Gestalt. Ihre Vielfältigkeit wird sicherlich niemals vollkommen zu erfassen sein, denn die alten Texte sagen, dass sie die Gabe besitze, jede erdenkliche Form anzunehmen – sie könne als Mönch, als reiche Frau und sogar als Schlangengottheit erscheinen, um die Menschen Mitgefühl und ein respektvolles Miteinander zu lehren oder sie zu heilen. Im Laufe der Jahrhunderte gelangte Kuan Yin über die Seidenstraße nach China und in die anderen Länder Südostasiens. Als ich begann, mich mit Kuan Yins Ikonografie auseinanderzusetzen, war ich überwältigt, denn ich fand sie auf etwa 50 unterschiedliche Arten dargestellt, die zum Teil ganz deutlich auf ihre indischen Wurzeln hindeuten.
Nach und nach entwickelte sich in mir eine Vision: Diese Figurenvielfalt wollte ich dem westlichen Leser zugänglich machen. Schließlich war der richtige Zeitpunkt gekommen. Die Künstlerin Antonia Baginski schuf 33 einfühlsame Bilder von Kuan Yin, die gemeinsam mit den wundervollen Fotos, die ich von meinen Reisen auf den Spuren von Kuan Yin mitgebracht habe, das Herzstück meines Buches „Kuan Yin. Begleiterin auf dem spirituellen Weg“ geworden sind. Kuan Yin wird hier nicht nur als das buddhistische Idealbild des Mitgefühls oder die mächtige Heilerin mit der Nektarvase gezeigt, die kraftvolle Energie der Frauen, die trotz männlich geprägter Gesellschaftsformen weibliche Vorbilder durchgesetzt hat, wird ebenfalls spürbar.
Über die Sutra-Texte und Legenden bietet uns Kuan Yin auch auf der geistigen Ebene einen unermesslichen Reichtum. Das Herz-Sutra gehört zu den bekanntesten spirituellen Texten der Welt. Kuan Yin als Bodhisattva, der seine endgültige Erleuchtung zurückgestellt hat, um dabei zu helfen, auch das letzte fühlende Wesen in diesem Universum zur Erlösung zu führen, ist vielen bekannt.
Kuan Yin ist sicherlich eine der faszinierendsten weiblichen Leitfiguren Asiens, deren Geist in alle Welt ausstrahlt.