Einen eigenen Staat der Kelten gab es nie. Das keltische Volk setzte sich aus unzähligen Stämmen und Stammesverbänden zusammen, die kulturelle Ähnlichkeiten aufwiesen und eine gemeinsame Sprache sprachen. In Frankreich kannte man sie als Gallier, in Anatolien als Galater, in Süddeutschland als Helvetier. Besonders bekannt waren sie für ihre hohe Kunstfertigkeit. Ein berühmtes Exemplar keltischer Silberschmiedekunst ist der Kessel von Gundestrup, auf dem die Figur des gehörnten Gottes Cernunnos abgebildet ist. Aus dem 1. Jahrhundert vor Christus stammend wird die Figur in einer halben Lotusposition dargestellt. Sie hält einen keltischen Halsreif in der rechten Hand und eine Schlange in der linken. Der Halsreif, der vorne offen ist, repräsentiert den Kreislauf von Leben, Tod und Wiedergeburt; die Schlange stellt die Energie der Lebenskraft dar. Auf dem Kopf des Cernunnos ist das Geweih eines Hirsches, das an jeder Stange sieben Enden aufweist – vielleicht ein Hinweis auf die sieben Hauptenergiezentren des Körpers.
Schriftliche Hinterlassenschaften gibt es von den Kelten nicht, da sie ihr Wissen nur mündlich weitergaben. Betrachtet man die Bräuche und Überlieferungen der Kelten, die sich besonders in Großbritannien gehalten haben und dort mancherorts als Tradition gepflegt werden, so erkennt man einige gravierende Unterschiede zur christlichen Philosophie, die im Mittelalter das keltische Gedankengut verdrängte. Die Grundlagen der keltischen Lebensanschauung sind nicht auf der Polarität von Gut und Böse aufgebaut und beinhalten somit weder Belohnung noch Bestrafung. Es geht vielmehr um die Integration von Dunkelheit und Licht, die Transzendenz von Tod und Leben. Das Irdische, der Körper ist ebenso heilig wie die immateriellen Welten und alles ist miteinander verbunden.
Eine alles in Bewegung haltende Lebenskraft sorgt dafür, dass ständig Leben geschöpft wird. Wie in einem großen Ausatmen ergießt sich die Schöpfung in unendlich viele Kreationen und Welten, um in einem großen Einatmen wieder alles zu sich zu holen. Diese Schöpferkraft, die weder männlich noch weiblich geprägt ist, ist für die Irin und keltisch-druidische Priesterin Phyllida Anam-Áire gleichbedeutend mit bedingungsloser Liebe.
Phyllida ist eine der wenigen Frauen, die noch das alte irische Gälisch sprechen. Schon von ihren Großmüttern erlernte sie Rituale und Mythen der Kelten. Nachdem sie einige Jahre als christliche Nonne in einem Kloster gelebt hatte, wendete sie sich anschließend ganz den Lehren der keltischen Mutter-Göttin Brigit zu, die Phyllida in vielen Visionen und veränderten Bewusstseinszuständen in die Weisheit des „heiligen Kessels“ einwies. In der keltischen Mythologie ist oft die Rede vom heiligen oder magischen Kessel. Dies war ein alchemistisches Gefäß wie der Gral, ein heiliges Gefäß für das Urweibliche, für die Seele und das ewige Feuer der Liebe. Brigit ist dabei diejenige, die den heiligen Kessel in Bewegung versetzt und aufrührt und dabei alles an die Oberfläche bringt, was bewusst gemacht werden soll. „Letzten Endes wird alles zurück zur Liebe aufgerührt“, schreibt Phyllida in ihrem „Keltischen Totenbuch“.
1999 wurde sie als Priesterin der Brigit initiiert und geweiht. Die Beschäftigung mit dem Tod war für Phyllida Anam Áire etwas Selbstverständliches. Als sie geboren wurde, hatte ihre Mutter zwei kleine Kinder verloren. Der Umgang mit Trauer und Verlust war daher für sie schon im Mutterleib eine präsente Erfahrung. Zudem hatte die 1946 Geborene 1973 eine Nahtoderfahrung. All diese Erlebnisse mögen dazu beigetragen haben, dass Phyllida in den folgenden Jahren in Findhorn auf Elisabeth Kübler-Ross, die bekannte Ärztin und Sterbeforscherin, stieß, bei der sie sich zur Sterbebegleiterin ausbilden ließ. Während sie hier die Grundlagen der Arbeit erlernte, musste sie während ihrer Ausbildung zur druidischen Priesterin tiefer in die Mysterien von Leben und Tod eintauchen. Das Wissen der Kelten zu diesem Thema, sollte sie nur aus inneren Belehrungen der Göttin Brigit und eigener Intuition erlangen und nicht aus Büchern. Nach ihrer druidischen Lehrzeit war sie eine „Anam Áire“, eine Hüterin der Seelen, die sich um andere Seelen kümmert.
Der Tod ist im Verständnis der Druiden nicht das Gegenteil vom Leben. Vielmehr sind beides nur verschiedene Zustände von Leben einmal materiell, das andere Mal immateriell geprägt. Der Tod markiert den Übergang in eine neue Dimension von Leben, ins Spirit-Leben. Die musikalisch veranlagten Kelten glaubten, dass ein Ton oder Klang uns dazu aufruft, in einen Körper zu kommen, während uns derselbe Klang auf einer höheren Oktave dazu aufruft, den Körper wieder abzulegen. „Das Schließen der Tür des Erdenlebens ist eine Initiation, welche die Seele erlebt, während sie in die verschiedenen Durchgänge in der geistigen Welt eintritt“, schreibt Phyllida. „Der Tod wurde als eine große Reise betrachtet, ein großartiges Abenteuer, das in die ungeheure Weite unseres eigenen Wesens hineinführte…“
Ganz wie im tibetischen Totenbuch wird die vom Körper befreite Seele sich nach dem Tod also in Bereiche, die sich im Innern des Menschen abspielen, bewegen – obwohl die Bezeichnung von innen und außen unzureichend ist. Die Wendung nach innen bedeutet – genau wie in der Meditation – ein Sich-Öffnen für die Weiten der Sphären, die man paradoxerweise nur über das Innen zu erreichen scheint. Dies hat vermutlich damit zu tun, dass unsere Realitätswahrnehmung sehr stark über die Augen läuft, die einen Eindruck von etwas da draußen schaffen, das aber nur in unserem Innern existiert. Ebenso wie im Buddhismus wird in der keltischen Tradition an die Reinkarnation geglaubt. Die Seele lernt von Inkarnation zu Inkarnation mehr und mehr Bewusstheit anzusammeln und zu einer immer größeren Fähigkeit zu bedingungsloser Liebe zu gelangen. In der keltischen Spiritualität werden alle unsere Lebenserfahrungen als Etappen der Reise in die „Sommerlande“ angesehen, das Land der ewigen Geburt, der Alterslosigkeit, ähnlich dem Nirvana. Da wir nur Hüter der Formen, der Erde und unseres Körpers sind und beim Übergang zum Tod alles wieder loslassen müssen, ist es lohnenswert, sich schon im jetzigen Leben im Loslassen zu üben. Ein Verfeinern der eigenen Bewusstheit und eine Hinwendung zu liebevollem Verhalten können laut Phyllida die Begegnung mit dem Tod erleichtern, denn was uns im „Jenseits“ begegnet, hängt zu einem großen Teil von uns selbst ab.
Ähnlich den „Bardos“ im tibetischen Buddhismus, kennen die Kelten die so genannten „Áites“, Bewusstseinszustände oder Übergänge, durch die die Seele nach dem Tod hindurch geht. Umso mehr Bewusstheit und Zufriedenheit ein Mensch in seinem Leben erlangt hat, umso bewusster wird er durch die verschiedenen Zustände gleiten, die nach dem Tod eintreten. Wer sich jedoch in düsteren Lebensverhältnissen und Gefühlen verstrickt hat, der mag sich nach seinem Erdenleben in ebensolchen Zuständen wiederfinden. Es gibt aber immer Geistwesen, die einem Verstorbenen auf den feinstofflichen Ebenen zur Seite stehen.
So scheint es, dass wir von einer Form des Lebens in eine neue geboren werden, die nicht weniger erfüllt und reich ist wie das Leben, das wir bislang auf der Erdenebene erfahren haben. Die Spirale ist – nicht nur bei den Kelten das Symbol, das die Wandlungen von einer Phase in die nächste darstellt. Der Vorgang des Trans-zendierens von Bewegung, Veränderung und Loslassen wiederholt sich mit jeder Runde aufs Neue und führt dabei von Ebene zu Ebene. Phyllida rät: „Gewöhnen Sie sich an die leise kleine Stimme, die in Ihnen singt, wenn etwas verändert, erneuert oder losgelassen werden soll“. Sich diesen Wandlungen ohne Widerstand hinzugeben ist die große Kunst. Sie gelingt am besten, wenn man sich des Urteilens enthält. Für die Druidin ist diese Haltung der Nicht-Bewertung – besonders unserer selbst – die wichtigste Vorbereitung für einen friedlichen Tod.
Auch die Beschäftigung mit spirituellen Themen, mit der immateriellen Welt erleichtert Phyllida zufolge einen Übergang in die weniger greifbaren Gefilde. Die Anam Áire, die schon etliche Menschen beim Sterben und über den Tod hinaus begleitet hat, hat die Erfahrung gemacht, dass die meisten Leute so sterben wie sie gelebt haben. Trotzdem gibt es auch bis zur letzten Stunde vor dem Tod immer wieder kleine „Wunder“, die die Sterbebegleiterin bezeugen konnte. Ein Mensch etwa, der sein ganzes Leben keine Liebe annehmen konnte, erkennt während eines längeren Sterbeprozesses, wie wichtig dies ist und kann sein Verhalten ändern.
Nicht nur aus diesem Grund ist ein längerer Sterbeprozess, beispielsweise durch Krankheit, auch positiv zu sehen. Die Dauer der Situation gibt den Angehörigen und Freunden genügend Zeit, sich von dem dahin scheidenden Menschen zu verabschieden. Bei einem plötzlichen Tod hingegen müssen die Hinterbliebenen diese Aufgabe selbst in die Hand nehmen. Rituale und Gespräche mit einem guten Zuhörer können hier wertvolle Dienste leisten. Das Bearbeiten und Loslassen von Schuldgefühlen bei einem Tod durch Selbstmord ist ebenfalls von großer Bedeutung für die Zurückgebliebenen.
Phyllida Anam-Áire übernimmt all diese Aufgaben. Und noch mehr: Sie erledigt ganz triviale Dinge des Alltags, wenn es nötig ist, begleitet mit offenem Ohr und offenem Herzen die Sorgen, Ängste und Wünsche der Sterbenden und Hinterbliebenen, und sie steht der verstorbenen Seele auch noch weitere Tage bei, um sie soweit wie möglich auf ihrem Weg durch die geheimnisvollen Welten hinter dem Schleier unseres Erdenbewusstseins zu geleiten.
Keltisches Totenbuch
172 Seiten, € 14,50
ISBN: 978-38506-8690-7
Ennsthaler Verlag