„Im Leben hängt alles mit allem zusammen. Alle Menschen sind in ein Netz der Gegenseitigkeit verwoben. Wir sind gekleidet in ein Gewand der gemeinsamen Zukunft. Was auch immer einen direkt betrifft, betrifft indirekt alle…“
Dies sagte, schon 1967 und seiner Zeit weit voraus, Martin Luther King jr. Heute, 42 Jahre später, scheint diese Erkenntnis immer mehr Raum zu gewinnen. Es scheint, als würde mehr und mehr ein Feld entstehen, in dem das Verhältnis von Individuum und Kollektiv untersucht, erforscht und – mit neuen Möglichkeiten versehen – bereits gelebt wird. Neue Wege der Verbundenheit öffnen sich, gegründet auf alte Vorstellungen wie die von Indras Netz, einem wundervollen Symbol aus der indischen Mythologie, ein Symbol des Aufeinander-Bezogenseins aller Wesen, allen Seins. Neue Wege der Kommunikation, des Dialogs, neue Formen der Gemeinschaft ergeben sich. Wir leben in spannenden Zeiten und unsere Handlungen werden in unsere Zukunft hineinreichen. Werden wir ein neues WIR-Gefühl entwickeln können, welches jede Exklusivität fallen lassen kann? Werden wir eine neue WIR-klichkeit entdecken? Eine Wirklichkeit, die über die Grenzen unseres Egos hinausgeht, uns miteinander verbindet und allem Lebendigen auf dieser Erde eine Zukunft schenkt? Die Autorin und Satsang-Lehrerin Pyar Troll-Rauch erforscht intensiv diesen sich öffnenden Raum, der zwischen uns, um uns entsteht. Im Folgenden spricht sie über Verbundenheit, über Sterne und Bakterien, über das große WIR und die Perlen in Indras Netz…
Pyar Troll-Rauch, Satsang-Lehrerin und Buchautorin |
Wir alle sind Natur als Körper, sind Klarheit als Geist und sind Liebe als Seele. Wir alle sind verwoben in einem staunenswerten, das All durchwirkenden Netz der Verbundenheit. Wir sind ein großes WIR, und doch leiden wir oft an Abtrennung, an Unverständnis, erleben Begrenzung und Hilflosigkeit, ökologische, soziale und wirtschaftliche Krisen und Probleme. Um mit den Herausforderungen unserer Zeit intelligent umgehen und ökologische, soziale und politische Probleme nachhaltig lösen zu können, halte ich es für wesentlich, dass möglichst viele Menschen ein tiefes Verständnis und eine tiefe eigene Erfahrung der überpersonalen Dimension der Raumhaftigkeit und des klaren Gewahrseins des Geistes gewinnen und stabilisieren. Und nicht weniger wichtig ist es, die Wirklichkeit der wechselseitigen Verbindung und Abhängigkeit aller Wesen zutiefst zu verstehen, zu erfahren und umzusetzen. Meines Erachtens kann es nur mit dieser Sicht aus dem reinen Gewahrsein und im Erfahren der Vernetztheit unserer inneren Strukturen und unserer Umwelt gelingen, adäquat auf die Herausforderungen unserer Zeit zu antworten und dabei ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen. Ich wage zu behaupten, dass diese Sicht aus umfassenderem Gewahrsein heraus die Grundlage für jede nachhaltige Veränderung ist, die über ein Flickwerk hinausgehen soll, und ich halte diese Sichtweise daher für unabdingbar für uns alle.
Es ist eine Reise von der Illusion zur Klarheit und weiter zur Verwirklichung.
Im Raum
WIR befinden uns immer im Raum. Ohne Raum kann nichts existieren, und ohne Raum gibt es natürlich auch kein WIR. Es ist wichtig, sich seiner selbst, des Raums, und des Raums im Geist, der nacktes klares Gewahrsein ist, bewusst zu werden und dann im zweiten Schritt aus diesem Raum heraus, aus der Klarheit des Geistes heraus all die Strukturen, Dinge, Gedanken, Gefühle, die sich im Raum und im Geist befinden, zu betrachten. So schauen wir aus diesem Raum heraus mit dem Auge der Weisheit anstatt wie sonst meist mit der beschränkten Sicht, die sich nur mit den Strukturen und Inhalten beschäftigt und darüber den Raum vergisst. Diese beschränkte Sicht ermöglicht uns zwar Konzentration auf ein bis zwei Dinge, die wir dabei genau betrachten, verhindert aber den Überblick auf das Ganze mit all seinen Zusammenhängen. Das reine Gewahrsein des Geistes besitzt dieselbe Qualität wie der Raum in der physikalischen Dimension. Dieses Gewahrsein ändert sich nie, genauso wenig, wie sich der Raum jemals ändert, egal, was in ihm gerade ist oder geschieht. Padmasambhava, ein tibetischer Meister des 9. Jahrhunderts sagt: „Im unendlichen Mandala des Raums haben alle Phänomene leicht Platz. Sie haben leicht Platz und da ist immer noch Weite.“
Wechselseitige Verbundenheit
Wenn wir von einem WIR sprechen, ist auch klar, dass eine wechselseitige Verbundenheit, Abhängigkeit und Wirksamkeit zwischen den Mitgliedern dieses WIR besteht. Das nennt man Interdependenz. Lama Anagarika Govinda prägte dafür den wunderschönen Ausdruck: „Die Wirklichkeit der unendlichen Bezogenheit“.
Diese unendliche Bezogenheit wird mit dem Bild von Indras Netz in der indischen Mythologie am schönsten und besten anschaulich gemacht und verdeutlicht: Die ganze Welt besteht aus einem Netz, das der Gott Indra ins leere All geworfen hat. Indras Netz ist ein multidimensionales Netz, das unendlich viele Verknüpfungspunkte hat. An jedem dieser einzelnen Verknüpfungspunkte befindet sich eine schimmernde, glänzende Perle, und in jeder dieser einzelnen Perlen spiegelt sich wiederum eine jede andere Perle. Diese Perlen stehen symbolisch für einen Menschen, ein Tier oder ein Wesen.
Durch das Bewusstwerden und Bewusstsein, dass wir alle Teile von Indras Netz sind und zusammen Indras Netz bilden, ist es natürlich auch ein schöner Gedanke, dass wir dadurch in diesem WIR gehalten werden. Indras Netz ist aber nicht wie das soziale Netz unserer Gesellschaft zu verstehen, weil es ganz andere Dimensionen hat und viel einfacher ist.
Immer wieder ist für mich eine Brücke von der gewöhnlichen Sicht zur Sicht auf Indras Netz das Staunen, insbesondere das Staunen über sehr Einfaches.
Alles gehört zum WIR
Indras Netz durchwirkt das ganze All mit all seinen Galaxien, Sternen und Planeten. Einer dieser Planeten ist der wunderschöne blaue Planet Erde, die Heimat der Menschen. Indras Netz umfasst alle Steine und Berge, jeden Krümel Erde und Sand, die Luft und das Meer, die Flüsse und Seen. All dies sind Perlen in Indras Netz, die jede andere Perle widerspiegeln. Und alle Lebewesen von Amöben und Bakterien über Pflanzen und Pilze bis zu Tieren und Menschen sind Perlen in Indras Netz. All dies gehört zum WIR.
Wir Menschen wiederum bilden Gemeinschaften in Indras Netz, die wir als WIR empfinden, z.B. als Paare und Familien, sind WIR als Dorf-, Stadt- und Völkergemeinschaften, sind WIR als Vereine, Freundeskreise und Arbeitskollegien und sind WIR als Menschheit.
Die Erde existiert nur in Zusammenhang mit der Sonne, diese nur in Zusammenhang mit der Milchstraße, diese wiederum im Raum.
Alle Lebewesen auf diesem Planeten sind abhängig von Luft, Sonne, Erde und Wasser. Wir Menschen sind untereinander, mit allen Lebewesen und mit der Erde in einem dichten Geflecht von wechselseitiger Wirkung und Abhängigkeit verbunden. Dieses Geflecht der Wirksamkeit umfasst Raum und Zeit.
Wir Menschen haben diese wundervolle Fähigkeit, uns reflektierend als WIR zu begreifen. Wir können uns sogar als ganz großes WIR erfahren und wie Jan Moewes vorschlägt sagen: „Wir sind Erde, Sonne, Mond und Sterne“. Wenn wir unser WIR-Gefühl definieren, können wir es ausdehnen oder schrumpfen lassen. So können wir zum Beispiel sagen: Wir sind diese Familie, wir sind jenes Volk, wir sind die Menschheit, wir sind Lebewesen oder wir sind Erde, wir sind die Sterne oder wir sind das Universum. Egal ob wir unser Wir- Empfinden ausdehnen oder schrumpfen, das „Ich“ ist immer ein einzelner Punkt im Geflecht des WIR.
Ich empfinde jeden von uns als eine der Perlen in Indras Netz, die durch das Garn des WIR miteinander verflochten sind.
Es gibt keine Grenzen, es gibt nur Verbindungen!
Haben Sie sich schon einmal überlegt, was eine Grenze ist? Nehmen wir zum Beispiel die Oberfläche eines Teiches. Diese Oberfläche definieren wir zumindest zunächst als klare Grenze zwischen Wasser und Luft. In Wirklichkeit aber besteht an keiner Stelle des Teiches oder der darüber liegenden Luft so viel Austausch und Verbindung zwischen Wasser und Luft wie genau an der Oberfläche. Hier steigen kontinuierlich Wassermoleküle in die Luft und befeuchten sie, und ständig dringen Sauerstoffmoleküle ins Wasser ein und beleben es. Dies bedeutet, dass genau da, wo wir zunächst scharfe Abgrenzung vermuten, in Wirklichkeit der Bereich größter Verbindung, größten Austausches ist. Oder haben Sie schon darüber nachgedacht, ab welchem Punkt des Essensvorgangs Sie die von Ihnen aufgenommene Nahrung als „Ich“ bezeichnen würden? Wenn das Brot gekaut wird? Wenn es geschluckt wird? Wenn es verdaut ist? Ab wann ist das Stück Brot Peter oder Inge und nicht mehr Brot?
Der Mittelpunkt der Welt
Jede Perle in Indras Netz, also jedes Ich empfindet sich ganz natürlich als Mittelpunkt des Ganzen. Das ist vollkommen richtig und wahr, denn Indras Netz ist unendlich und multidimensional. Sie sind also tatsächlich der Mittelpunkt der Welt, dürfen dabei nur nicht vergessen, dass dasselbe auch für jeden anderen gilt und Sie mit jedem anderen in Verbindung stehen, dass Sie in dieses Netz hinein wirken und auf Sie Wirkung ausgeübt wird. Daraus folgt: Niemand ist eine Insel, und niemand ist wirkungslos.
Die Wirksamkeit aller unserer Gedanken und Handlungen hört nicht mit dem Ende des Gedankens oder der Handlung auf, sondern breitet sich aus über lange Zeit. Jemand sagte einmal: „Der Klang einer gezupften Saite wird bis in den entferntesten Winkel des Weltalls gehört.“
Weitere Infos unter:
www.pyar.de