Im Jahr 1995 fand in Südafrika ein Ereignis von weltweiter Bedeutung statt. Nelson Mandela wurde nach der Machtübergabe durch das weiße Apartheid-Regime der erste schwarze Präsident von Südafrika. Dann drohte ein Bürgerkrieg: Die Atmosphäre zwischen Schwarzen und Weißen war total vergiftet, und Hass und Wut hatten sich in die Herzen der Menschen gefressen. Wie konnte Mandela einen Bürgerkrieg verhindern?
Seine Lösung war die Errichtung des „Ausschusses für Wahrheit und Versöhnung“. Jeder, der ein Kriegsverbrechen begangen hatte, sollte von diesem Ausschuss begnadigt werden, wenn er mit lückenloser Offenheit seine Vergehen öffentlich bekannte.
So geschah es, dass vor diesem Ausschuss Täter und Opfer der grausamsten Verbrechen Auge in Auge gegenüber saßen, während der Täter seine Taten bekannte und das Opfer ihm Vergebung schenken konnte. Eine Witwe erzählt, dass sie zuhörte, als der Mörder ihres Mannes die Einzelheiten seiner Tat berichtete:
„Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Ich hörte ihm zu, war aber emotional zu bewegt, um sprechen zu können. Ich nickte ihm nur zu, um anzudeuten, dass ich ihm vergab. Ich hoffe, er verstand, dass ich nicht nur um meinen Mann weinte, sondern auch um ihn. Ich wollte seine Hand ergreifen, um ihm zu zeigen, dass es eine Zukunft gibt und er sich immer noch ändern kann.“
Es ist zutiefst bewegend, von dieser Frau zu erfahren, dass Vergebung wirklich möglich ist. Sie wird nur dadurch möglich, dass das Opfer allen Kummer durchlebt hat, loslässt und dann endlich im Stande ist, Vergebung zu schenken. Verzeihen ist daher nicht einfach und muss unseren eigenen dunklen Gefühlen von Wut und Kummer erst abgetrotzt werden. Bischof Desmond Tutu, der Vorsitzende des Ausschusses, bat die Anwesenden stets um Stille, wenn ein Opfer dem Täter Vergebung schenken wollte, denn, so sagte er, wenn jemand einem anderen verzeiht, befänden wir uns auf „heiligem Boden“.
Was damals geschah, war einzigartig: dass Verbrecher nicht mit Freiheitsstrafe gestraft wurden, sondern Vergebung geschenkt bekamen. Das Gesetz der Vergeltung wurde ersetzt durch das Gesetz des Verzeihens. Unser Ego fordert Vergeltung, sobald es sich verletzt fühlt. Das Gesetz des Verzeihens hingegen entspringt dem Verlangen unseres höheren Selbst. Nelson Mandela lehrte uns also, den Übergang von der Vergeltung zur Vergebung zu vollziehen, vom Ego zum höheren Selbst. Er zeigt damit auch, in welche Richtung sich unser Strafrecht entwickeln sollte. Die deutsche Sprache ist eine reiche Sprache. Sie hat als einzige zwei Worte, um den Prozess des Verzeihens zu verdeutlichen: Verzeihen und Vergeben. Verzeihen meint, dass das Opfer durch Verarbeitung auf Wut und Hass verzichtet. Vergeben bedeutet, dass das höhere Selbst die Kraft der Liebe ausströmen lässt, sodass auch das Ego verzeihen lernen kann.
Die erlösende Kraft des Verzeihens
160 Seiten, € 14,95
ISBN 978-3-89427-279-1
Aquamarin Verlag