Die Kunst, im Moment zu leben

„Carpe diem“, nutze den Tag, hat schon der römische Dichter Horaz seinen Mitmenschen zugerufen. In immer wieder neuen Worten, durch die Münder unterschiedlichster Vermittler bis hin zu Eckhart Tolle hat sich die wahrhaftigste und simpelste Botschaft der menschlichen Bewusstheit erhalten: Lebe jetzt statt später. Erlebe ihn vollkommen, den einzigartigen Moment des Daseins.

Irgendwo in einer dieser kraftvollen und weisen Lehrakademien im östlichen Asien ermahnt ein altehrwürdiger Lehrer seine Meditationsschüler mit der immer gleichen Sentenz, die für die Novizen und Novizinnen wie ein Abzählreim klingen mag: „Sobald eure Gedanken vom Hier und Jetzt abschweifen, praktiziert folgende kleine Übung: Wenn ihr gerade an die Vergangenheit denkt, klopft auf euer linkes Bein, denkt ihr an die Zukunft, so klopft ihr aufs rechte.“ Durch diese Aufforderung, so banal sie auch klingen mag, findet ein jeder bei ihrer Anwendung den Zugang zu einer ganz anderen, deutlich kraftvolleren Welt. Einer Welt, die aus Atmung, Herzschlag, und Bewegungsrhythmus besteht, einer Welt, in der gerochen, gefühlt, getastet, geschmeckt und gelauscht werden darf. Einer Welt, in der sich jeder ohne wertende oder kausale Stimmbataillone ganz in das hinein begeben darf, was ist.
Das, was ist, ist durchaus mehr als nur das „Jetzt“, das mit solcherart Umschreibung auf sich aufmerksam machen will. Dieses „Jetzt“ bereitet eine tiefe Ruhe und Freude, und kann nicht im Verstehen, sondern nur im Probieren, im Experimentieren und im echten Gewahrsein erlebt werden. Beginnen Sie doch gleich einmal die Praxis der momentanen Achtsamkeit! Achten Sie auf ihren Atem, wie er ein- und ausströmt, ohne dass Sie etwas dafür tun müssen. Wie der Luftstrom die Nasenwände passiert und sanft zum Vibrieren bringt, wie sich Brustkorb und Bauchraum weiten, wie auch Rücken und Flanken eine gemächliche Ausdehnung erfahren dürfen, wie all die einatmende Kraft nach einer stillen Pause langsam und doch kraftvoll den umgekehrten Weg nimmt und Ihre Organe wieder zusammenfallen lässt, um nach außen zu strömen. Beobachten Sie die Atmung, so wie sie jetzt abläuft, und Sie sind angekommen in der Welt! Die Welt kann so intensiv sein. Und sie liegt Ihnen gerade zu Füßen.

Nicht wenige, die mit solch einfachen Aufmerksamkeitsübungen erste Erfahrungen gemacht haben, sind begeistert von deren Kraft und Essenz. Nicht minder wenige aber fühlen sich ganz vereinnahmt von ihrem alltäglichen Gedankenstrom, der Ihnen keine Zeit für derlei Hinwendung lässt. Dann werden aus Atemübungen höchstens noch standardisierte Zweckmäßigkeiten, die Teil des monotonen und situationsgerichteten Handelns sind. Nicht der Atemfluss und die innere Stille durchströmen dann das Wesen, sondern der Gedanke, wieder eine Aufgabe erledigt zu haben.

Dabei muss die echte Synthese zwischen gegenwartsbezogenem Handeln und Denken gar nicht so schwer fallen. Das meditative Bewusstsein kann sich in der Ausführung jedweder Handlung offenbaren, wir müssen es nur zulassen. Wenn es uns gelingt, das unbewusste Abdriften bei scheinbar routinierten Prozessen zu erkennen und wenn wir wahrnehmen, dass wir uns gerade automatisch vom jetzigen Moment abkapseln, haben wir eine echte Chance, uns sanft und liebevoll ins Hier und Jetzt zurückzuholen.

Neben der Atmung sind die menschlichen Sinne und ihre mannigfaltigen Erlebnisbühnen ein schneller und direkter Weg wieder in Kontakt mit der momentanen Wirklichkeit zu kommen. Eine Reise und ein Hinwenden zu bestimmten Körperstellen, zu Füßen oder Händen, aber auch zu Organen, Muskeln und Knochen wirkt oft Wunder und versetzt uns nicht nur in die Lage, uns intensiver wahrzunehmen, sondern auch tatsächlicher und echter, als bekäme die Welt neuen Glanz.

Viele Anregungen, sich selbst und sein Bewusstsein zu bereichern, finden sich in einem Geschenkbuch der besonderen Art. Einem kleinen Wegweiser von Raphael Cushnir, der der grauen Theorie die bunte Praxis entgegenhält und mit unkonventionellen Ideen und Anregungen des Lesers Erlebnisfähigkeit zu steigern weiß. Der ehemalige Drehbuchautor und Hollywood-Regisseur fand durch eine Krise zu einer neuen Lebenssicht, in der jeder Augenblick wertvoll und lebenswert ist.

Übungen wie „Wertvolle Menschen“ bestätigen, dass in diesem Ratgeber mehr steckt als nur meditative Atembeobachtungen. Sich auf die Frage einzulassen, welche Menschen einem ganz besonders am Herzen liegen und es sich in nächster Zeit zur Aufgabe zu machen, diese Erkenntnis eben jenen Personen mitzuteilen, ist auch eine Art der Präsenz, der gelebten Kommunikation und Emotion.

„Zur Quelle zurückkehren“ bedeutet in Cushnirs Sinne keine fundamental psychische Analyse, sondern die Überlegung, woher das Objekt, das Sie gerade in den Händen halten, herkommt. Welche Absichten, Ideen oder Energien sind damit verbunden, welcher Rohstoff wurde dafür und auf was für eine Art und Weise verwendet? Und versuchen Sie sich doch einmal alle Menschen vorzustellen, die an dem Prozess beteiligt waren, so dass dieser Gegenstand nun schlussendlich auf Sie wirken kann. Verändern solche Entdeckungen Sie vielleicht auf irgendeine Art und Weise? Und auch „Verstecken spielen“, „im Schlamm buddeln“ oder „sich absichtlich verlaufen“ sind keine Kindereien, die für Erwachsene verboten sind, sondern echte Chancen.

Besonders eindringlich wirkt die Übung „5 Sekunden Zeit lassen“. Bevor Sie etwas Neues beginnen, halten Sie jene Zeitspanne von fünf Sekunden inne. Auch bevor Sie den nächsten Satz lesen.

Es ist erstaunlich, was sich innerhalb dieser Zeit für Dinge bemerkbar machen können, denen man vorher keine Beachtung geschenkt hat, wieviel Gerüche, Geräusche, Ideen und Kräfte wir wahrnehmen können, wenn wir abseits unseres zweckgerichteten Handelns offen sind für das, was ist und uns umgibt.

Vielleicht helfen ja auch Trommeln oder andere Rhythmusinstrumente Ihren Verstandesfilter auszuschalten. Über ihre emotionale Grundqualität haben vor allem taktgebende Geräusche relativ leichtes Spiel, dem unablässigen Beschäftigtsein mit Zukunft und Vergangenheit, mit Sorgen von morgen und Lasten von gestern, die Aufmerksamkeit zu entziehen und sie den Körpersensationen, dem Rhythmusgefühl und den Geschenken des Moments zu überlassen.

Ob Sie nun einfach drauf los trommeln oder sich bewusst fünf Sekunden Zeit lassen, nachdem Sie diesen Artikel gelesen haben, um zum nächsten zu blättern. Ob Sie Ihrem Atem lauschen oder ganz bewusst in die Augen Ihres nächsten Nachbarn schauen, Sie werden ganz bestimmt bewusster mit sich und Ihrem Leben umgehen. Es ist viel zu kurz, schrieb vor 2000 Jahren Seneca, um sich nicht voll darauf einzulassen. Eine Erkenntnis, die ewig gültig sein wird.

BUCH-TIPP
Raphael Cushnir
Leb Jetzt. Statt später
20 Seiten, € 14,50
ISBN: 978-3-939152-01-9
Constans im Reichel Verlag