Gefühle umarmen

Jeder hat es in sich, doch nicht jeder hat Bekanntschaft mit ihm geschlossen: Das innere Kind ist seit den Büchern von Erika Chopich und Margaret Paul ein fester Begriff, der Einzug in die verschiedensten psychologischen Therapieformen gehalten hat. Gemeint ist ein innerer Seelenanteil von uns, der den emotionalen Zustand unserer Kindheit widerspiegelt und auch eine Art Barometer unserer momentanten Gefühlswelt ist.

Die Zuwendung zum inneren Kind kann Licht in alte Traumata bringen, die uns im Erwachsenenleben immer noch beeinflussen, aber auch anderweitig eine Bereicherung für mehr Freude und Kreativität im Leben sein.

„Jedes Problem beinhaltet die Kraft der Veränderung. Es gibt keine ‚richtige‘ Erziehung. Das Schlimmste, was einem Kind passieren kann, sind perfekte Eltern“, sagt der bekannte Familienaufsteller Bernd Hellinger und nimmt damit dem Mythos der perfekten Kindheit den Wind aus den Segeln. Bei der persönlichen oder professionellen Beschäftigung mit der eigenen Kindheit kommt irgendwann unweigerlich die Einsicht, dass die Eltern nicht aus Absicht „Fehler“ begangen haben. Ihre eigenen Wunden tragend, konnten sie meist gar nicht anders, als weiterzugeben, was sie erhalten hatten – oder eben nicht. Umso lohnenswerter ist es daher, sich mit seinem inneren Kind zu beschäftigen. Viele wollen den eigenen Kindern bessere Eltern sein, vergessen dabei jedoch, dass es viel wichtiger ist, bei sich selbst anzufangen. Die eigenen Kinder können uns dabei insofern nützlich sein, als dass sie uns tagtäglich spiegeln, wie es im eigenen Innern tatsächlich aussieht.

Als Erwachsene suchen wir bedingungsloses Angenommensein im Außen, in unseren Beziehungen. Dabei sorgen wir manchmal kaum für uns selbst, urteilen schlecht über uns oder werten uns innerlich ab. Wenden wir uns hingegen nach innen, dann besteht die Möglichkeit einer reiferen und nachhaltigeren Lösung. Wir haben nämlich nicht nur ein inneres Kind in uns, sondern auch einen inneren Erwachsenen, der Defizite aus der Vergangenheit ausgleichen und alte Wunden durch Versöhnung heilen kann. Diese Art der „Arbeit an sich selbst“ ist auch ohne Therapeuten zu bewerkstelligen. Mithilfe von Visualisierung, Dialogübungen zwischen innerem Kind und innerem Erwachsenen, Meditationen und anderweitigen Erkundungsmethoden für die inneren Seelenlandschaften kann man verborgenes oder verdrängtes psychisches Material aufdecken, erkennen und verarbeiten.

Das innere Kind macht seinem Namen dabei alle Ehre. Es begegnet dem Forschenden auf rein kindliche Weise. Mit Verstand und Logik kann es wenig anfangen. Dafür sind seine Reaktionen und Kommentare ganz pur und unverfälscht Zeugnisse spontaner Gefühlsregungen. Manchmal zeigt es uns in geradezu erschreckender Manier, wie wütend da etwas in uns ist. Da die meisten Menschen sich noch nie mit ihrem inneren Kind beschäftigt haben, fühlt es sich seit langem vernachlässigt und kann dementsprechend einen sehr verwahrlosten, ärgerlichen oder verängstigten Eindruck machen. Die Erscheinungsformen des inneren Kindes sind so zahlreich wie die Personen, denen sie angehören. Ein allgemeines Merkmal, das man nach der ersten Begegnung im Kopf behalten sollte, ist jedoch, welches Alter das innere Kind aufweist. Dies steht für den Zeitpunkt im eigenen Leben, als das innere Kind sich von uns trennte. Auslöser für eine solche Ablösung können traumatische Erfahrungen sein, aber auch konstante negative Einflüsse, die in dem speziellen Alter ihren Höhepunkt fanden. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Abtrennung des Emotionalkörpers. Genau dafür steht das innere Kind im Prinzip: Es ist die symbolische und bildliche Vorstellung unseres Emotionalkörpers. Die Auseinandersetzung mit dem inneren Kind erleichtert also ein Greifbarmachen der eigenen Gefühlswelt. Unsere Emotionen bergen ein großes energetisches Potenzial. Aufgrund von Unterdrückung oder Verdrängung der Emotionen liegt dieses oftmals brach und unsere Lebensfreude und Kreativität ist nur teilweise verfügbar. Man kann sich das ganze Potenzial aber mittels der Zusammenarbeit mit seinem inneren Kind zurück erobern. Einen aktuellen Beitrag zum Thema bietet Kim-Anne Jannes. Die seit ihrer Kindheit medial begabte und therapeutisch arbeitende Autorin von „Das innere Kind umarmen“ hat ein äußerst praktisch orientiertes Buch geschrieben. Das Ziel: in Einklang mit den eigenen Gefühlen kommen, sich wieder anfreunden mit dem oder der kleinen Person, die man einmal war. Die „Umarmung“ ist dabei eine der zahlreichen Imaginationsübungen, die Jannes vorstellt. Dabei wird der eigene Körper ganz konkret miteinbezogen, damit so viele Sinne wie möglich involviert werden und sich die Erfahrung einprägt. Schritt für Schritt wird der Leser durch den Prozess der ersten Begegnung mit dem Kind, das Aufbauen einer Beziehung und das Führen von Dialogen mit dem inneren Kind geführt. Dabei webt die Autorin immer wieder Erfahrungsberichte ein und lässt genügend Platz für eigene Ideen.

Erstaunlich ist bei der Arbeit mit dem inneren Kind, wie viel diese innere Instanz weiß – über uns selbst, aber auch über Faktoren, die unser Umfeld betreffen. Der erste Eindruck, den wir beispielsweise von einer Situation oder Person haben, kommt, wie man oft sagt „aus dem Bauch“, dem Gefühlszentrum. Das innere Kind, stellvertretend für unseren Emotionalkörper, ist die erste Adresse, an die wir uns wenden können, wenn wir wissen wollen, ob uns jemand wohlgesonnen ist. Seine Kommentare bewahrheiten sich nur allzu oft. Auch wer bei Entscheidungen Schwierigkeiten hat, erfährt durch die Kommunikation mit dem inneren Kind eine Erleichterung. Unser Gefühl ist ein wichtiger Indikator für Entscheidungen, die uns gut tun. Der Verstand, der alles abwägt und untersucht, mag hier und da einen Vorteil für sich finden oder ebenso zum Verlust desselben führen. Das innere Kind jedoch ist auf „Wohlfühlen“ und Freude aus – unsere eigenen innersten Bestrebungen. Eine amüsante Übung ist diesbezüglich, einmal das innere Kind darüber entscheiden zu lassen, was man einer Person zum Geburtstag schenkt. Geschenke dieser Art haben einen hohen Spaßfaktor und sind nicht selten absolut passend.

Weitere interessante Übungen sind zum Beispiel, sein inneres Kind zur eigenen (erwachsenen) Person zu interviewen oder sich von ihm ein Zeugnis ausstellen zu lassen. Die mitunter verblüffenden Antworten und Beurteilungen sollte man sich dann offen und ehrlich anschauen. Anschließend kann man versuchen, Veränderungen vorzunehmen. Jannes empfiehlt hierzu das Anwenden von positiven Affirmationen. Alte Glaubensmuster, die uns seit frühster Kindheit eingeprägt wurden, können in passendere Konzepte umprogrammiert werden. Typische alte Glaubenssätze, die heute noch in uns wirken können, sind beispielsweise „Das kannst du nicht“ oder „Sei doch vernünftig“. Sobald Sie sich wieder bei einem solchen Satz über sich selbst (oder über Ihr Kind) ertappen, formulieren Sie in Gedanken einen konstruktiveren Satz und denken Sie diesen mindestens ein Mal mehr als den ursprünglichen Satz, empfiehlt Jannes. Sie erklärt, dass lediglich eine Balance zwischen positiven und negativen Glaubenssätzen herrschen sollte. Damit ein Defizit an positiven Gedanken aufgewogen werden kann, sollten wir Satz für Satz unser emotionales Defizit mit positiven Affirmationen ausgleichen.

Sehr verbreitete Bewusstseinszustände, die große Teile des alltäglichen Lebens beeinflussen, sind Mangelbewusstsein, Opfer- und Schuldbewusstsein. Diese sind oft fest in unseren Glaubensmustern verankert und nicht immer leicht zu identifizieren. Sie verstecken sich gerne unter ganz gegenteilig klingenden Aussagen. Aufopferungsvolles Gebaren etwa kann Indiz für alle drei genannten Bewusstseinsarten sein. Auch hier greifen positive Affirmationen. Ebenso ist das Übernehmen der eigenen Verantwortung essentiell. Solange wir anderen die Schuld an der eigenen Lage geben, nehmen wir uns die Kraft, die Situation selbst zu meistern. Es wird klar, „dass man einen anderen Weg als den der Opferhaltung einschlagen muss, wenn man das Leben mitgestalten möchte“, schreibt Kim-Anne Jannes. So kann man im Laufe der gemeinsamen Zeit mit dem inneren Kind nach und nach tiefe Bewusstseinsschichten aufdecken. Das ist nicht immer bequem, denn so Manches gesteht man sich nicht gerne ein. Wer den Mut hat, sich auf diese Weise zu begegnen, wird lernen, den auftauchenden Gefühlen Ausdruck zu verleihen und sie dadurch zu befreien. Dafür sollte nicht unbedingt der Partner „herhalten“. Aggressionen, zum Beispiel, können stellvertretend an Kissen abreagiert werden, in einem geschützten Raum heraus geschrien werden oder als böse Briefe an die Unendlichkeit gehen. Trauer kann man sich in Form von Gedichten an nie da gewesene Verwandte vom Herzen schreiben oder als Ausdruckstanz vom Leibe schütteln.

In Kim-Anne Jannes Buch, das auch eine CD mit geführten Meditationen enthält, finden Leser eine Menge weiterer Ideen und alltagstauglicher Tipps zum Thema. „Die Beschäftigung mit dem inneren Kind war befreiend und absolut notwendig für meine spirituelle und menschliche Entwicklung“, schreibt die Autorin zu ihrer eigenen Erfahrung. In ihre Arbeit als Seminarleiterin, Referentin, Sterbe- und Trauerbegleiterin fließt dieses Wissen mit ein. Bekannt wurde die 36-Jährige durch TV-Auftritte wie in der RTL-Sendung „Ein Gespür für Mord – Hellseher ermitteln“, als sie zusammen mit einem weiteren medial Begabten unabhängig voneinander durch den Kontakt zum Geist einer Toten den Tatort eines Mordes bestimmte.

BUCH-TIPP
Jannes, Kim-Anne
Das innere Kind umarmen
224 Seiten, € 19,95
ISBN: 978-3-426-65618-1
Knaur TB