Alle wollen wir lange leben, aber alt werden will niemand. Alt werden, das klingt für viele Menschen nach Krankheit, nach Aufgeben der Selbständigkeit, nach Einschränkungen, nach Altersstarrsinn, Altersheim und Altersarmut. Wenig wertgeschätzt werden die Möglichkeiten der inneren Entwicklung und der spirituellen Reife in zunehmendem Alter – deshalb tauchen in unserer Gesellschaft auch so selten die Worte „Ältester“ oder „Weiser“ auf. Eine Gesellschaft, die alles Erstrebenswerte nur in einem Kult um die Jugendlichkeit zelebriert, vernachlässigt einen riesigen Erfahrungsraum, eine Weite und Gelassenheit, eine Weisheit, die jenseits des heutigen Erfolgs- und Machtstrebens existiert und in unseren Tagen dringend benötigt wird. Alt werden die meisten von uns von ganz allein, dafür braucht man nicht viel zu tun. Doch was braucht es und was bedeutet es, ein Weiser zu sein?
„Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, wird nie alt werden“, sagte Franz Kafka. Denn, so könnte man hinzufügen, die Seele, die Schönes erkennen kann, trägt selbst Schönheit in sich. „Nie alt“ müssen wir übersetzen mit „nie nur alt“. Nur die Weisheit macht aus dem bloßen Ereignis eine wirkliche Erfahrung. Nur die Erfahrung bringt neue Weisheit hervor. Intellektuelle Einsichten sinken in Herz und Seele hinab, wurzeln dort, werden von der Erfahrung genährt und nähren ihrerseits das Leben.
Gerade durch die Gegensätze unseres Lebens entsteht wahre Weisheit: Erfolg und Fehlschlag, Gewinn und Verlust, Liebe und Angst, Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod. Wer einmal in ein altes Gesicht geblickt hat, aus dem ein ganzes Leben spricht, der weiß: All dies erfordert Zeit und ist nicht im Schnellvorlauf zu erledigen.
In der Jugend ist das Paradoxe oft nur schwer zu ertragen, im Alter, welches sich nicht verlebt hat, sondern bewusst gelebt wurde, spürt man, dass unsere Welt zutiefst aus diesen Paradoxien besteht – und es fällt leichter mit diesen zu tanzen. Vielleicht nicht leichten Fußes, aber doch leichten Herzens.
Im alten China, also lange vor Mao und seiner durchorganisierten Gleichschaltung, wurde der Weise für Jahrtausende als Idealbild des älteren Menschen verehrt. Sein Verhalten und seine Haltung zum Leben gaben Zeugnis von einer Reife, die als erstrebenswert galt und die für den Rest der Gesellschaft wichtig und hochgeschätzt war. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, alte Menschen als nutzlos zu bezeichnen und umgekehrt wäre es auch keinem alten Menschen eingefallen, sich entsprechend zu fühlen. Unterschiedliche Lebensstadien wurden als Einheit verstanden, die ihren jeweils eigenen Wert in sich bargen. So schrieb Konfuzius vor mehr als 2.500 Jahren:
„Mit 15 war ich dem Lernen verpflichtet. Mit 30 nahm ich meine rechtmäßige Position ein. Mit 40 war ich nicht länger verwirrt. Mit 50 begann ich die Entfaltung meines wahren Wesens zu verstehen. Mit 60 lebte ich in Harmonie mit allen Widersprüchen und Ambivalenzen. Mit 70 endlich werde ich wohl meinem Herzen folgen ohne vom Weg abzukommen.“
Wie können wir aber unserem Herzen folgen, ohne vom Weg abzukommen? Ein weiterer chinesischer Weiser hat uns 81 kurze Verse hinterlassen, die für viele Menschen auf der ganzen Welt zum Inbegriff der Weisheit gehören: Das Tao Te King, geschrieben von Lao Tse, ist seit langer Zeit einer der meistgelesenen und kommentierten spirituellen Texte überhaupt und kann uns auch zu Fragen des Alters eine große Hilfe sein.
William Martin, ein spiritueller Lehrer aus Chico in Kalifornien, der seinen eigenen Prozess des Älterwerdens als „geheimnisvoll, wunderbar und manchmal beängstigend“ beschreibt, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesem Text. Er schreibt:
„Jeder alternde Mensch wird vor eine grundlegende Wahl gestellt:
Werden wir weise, werden wir die spirituelle Essenz unseres Lebens ernten und so zum Segen für alle künftigen Generationen?
Oder werden wir einfach nur älter, ziehen uns zurück, igeln uns in unserer Wagenburg ein und warten auf das Ende?“
Weise wird seiner Meinung nach, wer das Tao erkundet, den Fluss des Lebens, dieses unerschöpfliche Etwas, welches immer wieder neu ist – genau wie unser Herz und unsere Seele es sein können.
Weise sein bedeutet, die Dinge so zu sehen, wie sie sind und zu tun, was nötig ist – mit Gelassenheit und Güte zu Diensten zu sein, und vor allem unterscheiden zu lernen zwischen dem, was wichtig und dem, was bloßer Schein ist. Klare Gedanken, einfache Bedürfnisse: Ein gutes Gespräch, ein Glas Wein, ein Sonnenuntergang und einvernehmendes Schweigen mit einem guten Freund… Liebe und ein spiritueller Weg, der diese weitergibt…
„Der Weise zieht sich nicht vom Leben zurück. Der Weise zieht sich vom Unglücklich-Sein zurück. Bilder von silberhaarigen Paaren, unterwegs auf Golfplätzen und sich sonnend an weißen Traumstränden, verzerren die Idee vom Ruhestand. Ruhestand bedeutet, das zu tun, was wir schon immer hätten tun sollen: Frei und glücklich zu leben, mit Freude und Mitgefühl für alle.“
Freude und Mitgefühl tauchen auf, wenn unser Herz weicher wird, wenn wir verstehen, dass diese Welt nicht schwarz und weiß ist, sondern in unendlich vielen Farbabstufungen existiert. Der andere Mensch, unser Nächster, erlebt die Welt aus seinem Blickwinkel und agiert in der Regel mit der Überzeugung, das Richtige zu tun. Können wir dies sehen, erkennen wir, dass wir selbst in ähnlicher Weise handeln und dass unser beider Überzeugungen hinterfragbar sind.
Vergebung wird leichter, für sich selbst und für andere. Verständnis setzt sich durch und trotz Verschiedenheit kann sich Freundschaft und gemeinsame Freude entwickeln.
Unsere Fehler und die Fehler des anderen gehören zu dem Prozess des Lebens dazu – und wir erkennen, dass alle Ereignisse der Vergangenheit uns zu dem gemacht haben, der oder die wir heute sind.
„Den ersten Teil unseres Lebens verbringen wir damit, die Dinge in Kategorien aufzuteilen: gut und schlecht, mögen und nicht mögen, ich und du, wir und die anderen. Jetzt ist es an der Zeit, all die Einzelteile wieder zu einem nahtlosen Ganzen zusammenzufügen.“
Der Weise sieht die Gegensätzlichkeit dieser Welt, aber er verzweifelt nicht an ihr. Er begrüßt die Veränderung, er sucht sich wie ein Fluss seinen Weg – geschmeidig, weich und dennoch stark, unaufhaltsam zum Meer fließend. Seine Augen haben schon vieles gesehen und lächeln über die eigenen Verrücktheiten und die dieser Welt. So wird er zum Ratgeber und spirituellem Vorbild, der der Situation mehr Wert beimisst als der Position, der statt dem Entweder-Oder dem Sowohl-als-auch Raum gibt.
Inmitten der Komplexität der Erfahrungen und Emotionen führt der Weg des Tao den Weisen zu dem, „was wirklich zählt“, zum Innersten dieses Lebens, dorthin, wo unentdeckte Potenziale sich verwirklichen möchten.
Er wird im Sinne von Franz Kafkas Zitat niemals alt, weil seine Augen die eines Kindes geblieben sind, offen und klar:
„Es gibt noch so viele Wunder zu sehen. Vergeude nicht den heutigen Tag, indem du deine Sichtweisen und Meinungen bestätigst. Lerne etwas völlig Neues über deinen Ehepartner, dein Kind, deinen Freund, deine Welt.“
Inmitten dieses sich stetig verändernden Flusses des Lebens, wird uns bewusst, dass alle Festigkeit, alle Beständigkeit und Härte nur Produkte unserer egozentrierten Phantasie sind, die uns immer wieder vorzugaukeln versucht, wir hätten die Dinge im Griff und seien der Mittelpunkt der Welt.
Irgendwann erreicht jeder Fluss das Meer – und löst sich in ihm auf, vermischt sich mit dem Ozean und bleibt dennoch Wasser. Dieser Unabänderbarkeit entgegenzublicken verlangt großen Mut von uns und ist gleichzeitig eine Chance, all unsere Weisheit weiterzugeben. William Martin sagt dazu:
„Sich mit dem Tod anzufreunden ist nicht morbide. Es ist nicht deprimierend, heißt nicht, das Leben aufzugeben. Es heißt, einfach die natürliche Grenze zu akzeptieren, die dem Leben zu unserem Nutzen gesetzt ist. Es ist an dir, ein Licht auf den Lebensweg zu werfen, damit jene, die dir folgen, ihn ohne Angst gehen können.“
Der Tod gehört wesensgemäß zum Leben, verleiht unserem Handeln Sinn und Wichtigkeit. Wären wir unsterblich, würde Vergebung keine Dringlichkeit haben, wären unsere Taten gleichgültig und unser Leben flach.
Richard Dawkins, der zugegebenermaßen in manchen spirituellen Kreisen nicht sonderlich angesehene Evolutionsbiologe, schrieb einmal, dass wir alle, die wir irgendwann sterben werden, Glück gehabt haben. Denn die meisten Wesen werden gar nicht erst geboren.
Als Weise sind wir dankbar für die Zeit, die wir hier verbringen können, dankbar für die Freunde, dankbar für das Lachen und für die Tränen, dankbar für jeden Atemzug und für jedes Leben, das wir mit dem unsrigen berührt haben.
Am Ende wird unser Leben als Weiser oder Weise ganz durchsichtig – wir müssen nichts mehr verstecken, uns nicht mehr verstellen. Wir sind nackt und schämen uns unserer Narben nicht. Der Schatz unserer Erfahrung ist zugänglich für den, der wahrhaft sehen kann.
„Vergiss niemals, dass deine wahre Natur die eines Weisen ist. Es ist für dich so mühelos wie das Atmen. Halte einen Moment inne und bedenke, wer du bist.“