Der Strom der heilenden Hände

Das besondere Schöpferpotential des menschlichen Daseins besteht häufig in der Erkenntnis, dass wir keine neuen, verbesserten oder irgendwie erarbeiteten Methoden oder Techniken anwenden müssen, um ins innere Gleichgewicht zu kommen. Alles, was wir brauchen, ist in uns. Insbesondere die Fähigkeit, Verborgenes und verloren Geglaubtes anzuschauen und anzuerkennen, ist manchmal so viel leichter, als wir das erwartet haben. Der Strom der Heilung und Reinigung unserer Lebensenergie fließt durch die menschlichen Zellen wie das Wasser in den Ozeanen. Wer einfach mal die Hand auf seinen Körper legt, kann den belebenden Strom persönlich erfahren.

Vor nicht allzu langer Zeit im österreichischen Hörfunk: Bei einer gemütlichen Abendshow mit Musik, Unterhaltung, Wetter und Verkehr passierte es. Der Moderator des öffentlichen Radiosenders verschluckte sich bedenklich, hustete anschließend krampfhaft und konnte fortan nicht mehr weitersprechen. Es wurde ein Musiktitel eingeschoben und während die meisten Hörerinnen und Hörer froh waren, dem kakophonen Husten mit Hilfe vibrierender Dreivierteltakte zu entkommen, fühlte eine Hörerin besonders empathisch mit dem gebeutelten Sprecher der Sendung – und hatte auch direkt die Lösung parat: „Der müsste halt jetzt ‚strömen‘“, so ihre natürliche Schlussfolgerung.

In Zeiten wie diesen, wo uns elektronische Medien samt einem Kommunikations-Overkill bedenklich das Unverständnis der Zeit vor Augen führen, ist es doch eine sympathische Randnotiz, dass die mitfühlende Hörerin dem hustenden Moderator eine Kurznachricht via SMS ins Sendestudio sandte. Wortlaut der Nachricht: „Halten Sie mit Ihren Händen beide Knieinnenseiten! Das wird helfen.“ Es vergingen keine 30 Sekunden, da rief der Moderator zurück. Mit frischer Luft im Brustraum und neugierigem Interesse fragte er seine Spontanheilerin, was er da gemacht habe und wie es funktioniere. Die Gefragte gab daraufhin bereitwillig Auskunft über Jin Shin Jyutsu, die Kunst des Strömens, und durfte anschließend sogar noch in einem unvorhergesehenen Exklusivinterview mit dem österreichischen Moderator ihre Heilkunst einer breiten Öffentlichkeit vorstellen. So schnell und pragmatisch kann es also zugehen, wenn Fachkundige den Lebensstrom im Körper des Menschen, der ja auf vielerlei Ebenen sicht- und sogar messbar ist, richtig einschätzen und ins Lot bringen können.

Eine ganz besondere Gabe diesbezüglich hatte wohl Jiro Murai, ein 1886 geborener Japaner, der späterhin von seinen Schülern für seine unermüdlichen Leistungen ehrenvoll Meister genannt wurde. Entdeckt hatte Murai das alte Wissen des Heilströmens – wie so häufig bei großen Lehrmeistern universeller Kraftpraktiken –, nachdem er mit Hilfe von Fingerübungen und -stellungen (so genannter Mudras) kurz vor seinem 40. Lebensjahr eine lebensbedrohliche Krankheit bei sich selbst heilen konnte. Daraufhin begann er, die diesen Mudras zugrunde liegende Kunst zu erforschen. Er zog durch sein Heimatland und besuchte alle bedeutenden japanischen Tempel, um sich weiterzubilden und um auch andere, besonders Arme und Obdachlose, zu heilen. Daneben bemühte er sich intensiv um weiteres grundlegendes theoretisches Wissen der manuellen Heilanwendung. Besonders die Lebenskraft im Körper, und wie jene Kraft durch unsere Lebenseinstellung zu beeinflussen ist, war sein zentrales Anliegen. Schließlich bezeichnete er seine persönliche Anwenderkunst als Jin Shin Jyutsu, was so viel wie „Die Kunst des Schöpfers durch den mitfühlenden Menschen“ bedeuten kann. Dabei folgt diese deutsche Übersetzung weniger einer exakten semantischen Tradition als einer intuitiven Annäherung. Die Erkenntnis, dass japanische Schriftzeichen mythisches und logisches Ineinanderverwobensein repräsentieren, legt nahe, dass jede Eins-zu-Eins-Übersetzung in fremde Sprachen unvollkommen bleiben muss. Vollkommene Weiterentwicklung hingegen war Murai gestattet, der, nachdem er sogar den japanischen Kaiser, heilen konnte, Zutritt zu den ehrenvollen kaiserlichen Bibliotheken erhielt. Dem zuständigen Archivar der Bibliothek zeigte er seine eigenen Aufzeichnungen über Jin Shin Jyutsu und fragte, ob es etwas Ähnliches in der Bibliothek gäbe. Es stellte sich heraus, dass die Aufzeichnungen, die Jiro Murai eigens und ohne fremde Vorlagen über Jin Shin Jyutsu gemacht hatte, identisch waren mit Büchern aus dem Jahre 753 vor unserer Zeitrechnung! Murai hatte also etwas wiederentdeckt, was seit Tausenden von Jahren bekannt war und praktiziert wurde, und nur größtenteils vergessen oder abgewandelt weitergegeben wurde (z.B. in der chinesischen Medizin). Durch diese Bestätigung erhielt die Technik, die Murai praktizierte, die Bedeutung eines ursprünglichen, bewährten Heilverfahrens.

Folgendes mag auch für den Neueinsteiger oder den Skeptiker kaum von der Hand zu weisen sein: Der feste und zugleich sanfte, der mitfühlende und bestimmte, der weiche und warme Druck der eigenen oder einer fremden Hand bewegt nicht nur sensorisch die Leitbahnen unseres energetischen und physischen Körpers. Ein Pulsieren, dass nach kurzer Zeit, aber spätestens nach zwei Minuten an der entsprechenden Stelle, wo wir die Hand auflegen, spürbar wird, ist das untrüglichste Zeichen für die effektive Aktivierung unserer eigenen Energiekräfte. Diese biologische und psychologische Tatsache bedarf von sich aus keiner weiteren Erklärung, aber der Wissensschatz des japanischen Meisters Murai, den er der Amerikanerin Mary Burmeister in den letzten Jahren seines Lebens vermittelte, ist in geordnetem und erklärtem Zusammenhang ein großes Geschenk. Bestimmte hilfreiche Energiepunkte im Körper, im Jin Shin Jyutsu „Sicherheitsschlösser“ genannt, sind bis heute überliefert und stellen das Herzstück dieser Arbeit dar. Jenes exakte Wissen der 26 Schlösser, die wir mit dem einfachen Strömen unserer Hände aktivieren und regulieren können, ist aber nicht die einzige praktische Stromquelle des Körpers. Die in der traditionellen chinesischen Medizin seit Jahrhunderten bekannte Analogie der fünf Wandlungsphasen nahm in Murais System ebenfalls eine wichtige Funktion ein. Der Zusammenhang zwischen inneren Organen, Emotionen und menschlichen Energiequalitäten spielt seit jeher eine große Rolle im asiatischen Verständnis der kosmologischen Kräfte. Die fünf Finger machen da keine Ausnahme und repräsentieren Energien, die wie die Sicherheitsschlösser durch das Halten des Fingers mittels der anderen Hand in Aktion gebracht werden können.

Der Mittelfinger beispielsweise steht mit seiner Leber-Galle-Dualitiät für die Emotionen Wut und Freundlichkeit. Gestört offenbart sich jenes Element in latenter Aggressivität oder vermehrter Depressionsanfälligkeit. Wer also ständig verzweifelt sein Kissen verprügelt oder sich nach zahlreichen negativen Abfuhren am Arbeitsplatz niedergeschlagen und mutlos fühlt, der darf gerne einmal probieren, seinen Mittelfinger zu „strömen“. Österreichische Radiomoderatoren können ein Lied davon singen, wie schnell man mit Hilfe der Stromenergien wieder ein neues Kräfteverhältnis initiieren kann.

Dass es überhaupt zu einer Verbreitung jenes Wissens in Zentraleuropa kommen durfte, ist das Verdienst von Mary Burmeister, die nach ihrer zwölfjährigen Ausbildung beim Meister den Entschluss fasste, Interessierte im Westen in diese Kunst einzuweihen. Nachdem sie in ihrem Heimatland USA auf sehr positives Feedback stieß und therapeutische wie öffentlichkeitswirksame Erfolge verbuchen konnte, kam sie 1977 nach Europa, wo ihre Vorgaben seitdem ebenso erfolgreich übernommen wurden; das Jin Shin Jyutsu-Europabüro in Bonn ist monumentaler Beweis dafür.

Jin Shin Jyutsu als Anwendung ist denkbar einfach. Da es keine komplizierte Massagetechnik ist, kann es jeder ohne besondere Begabung anwenden. Das Strömen der Hände löst Blockaden und kann jederzeit bei sich selbst und anderen probiert werden. Doch nicht nur physisch kann diese einfache Art der Selbstverantwortung hilfreich sein: „Du kannst dich jederzeit neu entscheiden, auf welcher Frequenz du senden willst“, so Tina Stümpfing-Ridisser, die jene mentalen und methodischen Kniffe in ihrer Arbeit harmonisch miteinander kombiniert. Als langjährige Jin Shin Jyutsu-Praktikerin, Mutter von vier Kindern, Sozialpädagogin und Psychologin verfügt sie über einen großen Erfahrungsschatz und darüber hinaus über unzählige Anwendungsbereiche, die ihr zur Verfügung stehen. Praktischerweise fasst sie ihr gesammeltes Wissen nun in einem Fachbuch zusammen, in dem die 26 Stromquellen sowie die energetische Anordnung der fünf Fingerqualitäten anwenderfreundlich und sympathisch verpackt sind. Besonderen Wert legt die Allgäuerin auf die Ursprünglichkeit sowie die kategorische Kraft des Universums, dank der alles im Übermaß vorhanden ist und keine Neuentdeckungen oder Leistungsanstrengungen notwendig sind.

Wir sind bereits Wissende, sagt sie: „Es ist ein uraltes Verständnis, das wir bereits in uns tragen. Beim Nachdenken stützen wir unseren Kopf mit den Händen und aktivieren damit unsere Gehirnströme. Wenn Kinder am Daumen lutschen, nehmen sie damit automatisch Einfluss auf ihre Magen- und Milzenergie. Wenn wir die Arme verschränken, stärken wir unsere innere Autorität.“ Das heißt, wir harmonisieren uns beständig selbst. Wenn wir dies mit ausgerichteter Wahrnehmung intensivieren wollen, ist Jin Shin Jyutsu das beste Hilfsmittel, das uns momentan zur Verfügung steht. Gratis, rezeptfrei, ohne Nebenwirkungen und ganz und gar urtümlich und wie geschaffen für eine behutsame selbstverantwortliche Lebensweise.

BUCHTIPP
Stümpfig-Rüdisser, Tina
Jin Shin Jyutsu – Die Heilkraft liegt in Dir
184 Seiten, € 19,60
ISBN: 978-3-86616-151-1
Via Nova