Die Geister, die er rief

Wenn ein Schamane schamant, dann ist das so dicht, so heftig, so angefüllt mit Geist, dass es ansteckend ist. Das Kennzeichen eines guten Schamanenrituals ist, dass der Funke auf die Menschen überspringt, selbst wenn sie nicht wirklich verstehen, wovon sie gerade Zeuge werden. Vielleicht fangen sie selbst an, in Zungen zu reden oder in Trance zu fallen, wenn ihr Körper müde und ihr Verstand überdreht wird, denn ein Ritual kann viele Tage dauern und Schlaf gibt es wenig, vielleicht nur in den paar Stunden, während das Opferfleisch kocht. Amelie Schenk hat es viele Male miterlebt, wenn der mongolische Schamane Zeren Baawai Totenrituale abhielt, verloren gegangene Seelen zurückholte, die Erd-, Wasser, Berg- und Waldgeister beschwor und Gebete an den Hohen Blauen Himmel sandte.

Marlo Morgan, die mit ihrem Klassiker „Traumzeit“ anthropologische Feldarbeit und spirituelle Ursprünglichkeit in einer wunderbaren Mischung dem Lesevolk präsentierte, war gar nicht dort, wo sie vorgab, gewesen zu sein: im australischen Outback, auf dem Walkabout mit den Aborigines – alles nur erfunden. Doch nur für den skeptischen Kritiker verändern sich dadurch der Gehalt und die Kraft ihres Werkes. Dem Träumer bleibt das Wesen und die Wirklichkeit der Geschichte in nachhaltiger Erinnerung, ihr Erlebnisbericht zählt zu den literarischen Meisterwerken der Spiritualität. Deshalb sind wir dankbar für jede weitere Quelle, die uns zu Völkern führt, die in echter Symbiose mit der mächtigen Wandlungsfähigkeit des Daseins leben. Und im Gegensatz zu Morgans „Traumzeit“ ist die faktische Authentizität des Werkes „Herr des schwarzen Himmels“, das die Ethnologin Amelie Schenk veröffentlicht hat, zweifelsfrei belegt.

Im Zentrum des Berichtes steht der 2005 verstorbene Zeren Bawaai, der bekannteste und wichtigste Schamane der Burjaten, die mit 40.000 Anhängern eine der religiösen Minderheiten im innerasiatischen Binnenstaat darstellen und mit ihren Lebensformen typisch für die nomadische Qualität jener kargen Regionen sind. Seit 1991, dem Jahr, in dem die Mongolei sich ihrer kommunistischen Unterdrückung politisch entledigte, kennen sich die weiße Ethnologin und der magische Medizinmann. Doch einen Freischein zum Fotografieren und Notieren hat die Ausländerin damals nicht bekommen. Vielmehr beschreibt sie die Kontaktaufnahme und die Festigung ihrer Freundschaft als Akt der Kraft, der durch Geduld und Disziplin anstelle von Sensationsgier ermöglicht wurde. Nach dieser persönlichen Art der Aufnahmeprüfung durfte die Besucherin in den kommenden Jahren in die Materie und den Wirkkreis des spirituellen Experten einsteigen. Sie war dabei, wenn die Schamanen Lieder sangen, Wodka tranken, Tiere opferten, Geister beschwörten und noch mehr Wodka tranken. Sie entdeckte die Qualitäten ritueller Gepflogenheiten, lernte die Urahnen des mongolischen Volkes, den grauen Wolf und die falbe Hirschkuh, kennen und erfuhr von der Bedeutung Dschingis Kahns, jenem legendären Herrscher der Mongolen, der im 13. Jahrhundert das größte zusammenhängende Weltreich der Menschheitsgeschichte schuf. Sein schamanisches Wesen ist in Europa gänzlich unbekannt, dort gilt er als Schlächter und Tyrann, der mit seiner berühmten Truppe, der goldenen Horde, 1240 kurz davor war, das Abendland einzunehmen. Die Mongolen hingegen verehren seine spirituelle Aura und schätzen besonders das Urtümlich-Geheimnisvolle an ihm. Jene Aspekte, die Zeren Bawaai so einzigartig vorlebt. Seine eigene Lehrerin war Tschimed Udgan, die als größte Schamanin des letzen Jahrhunderts verehrt wird und die zur Zeit der stalinistischen Säuberungen, der fast 40.000 Mongolen in den 1930er Jahren zum Opfer fielen, lebte. Einzig aufgrund ihrer mächtigen Zauberkunst vermochte sie es, sich den Verfolgungen der Unterdrücker zu entziehen, die in einem gewaltigen Akt der Gleichschaltung das kulturelle Erbe dieses Volkes zerstören wollten. Der Versuch aber, die traditionelle nomadische Viehwirtschaft mit sozialistischen Produktionsformen zu ersetzen, scheiterte kläglich. Industrialisierung und Kollektivwirtschaft widersprachen den Bedingungen und dem Charakter dieses Landes; die spezialisierte Viehwirtschaft mit den fünf Nutztieren- Schaf, Ziege, Yak, Pferd und Kamel hingegen kommt ihm entgegen. Genauso wie der Schamanismus, der trotz aller Verbote in der Mongolei, dem am dünnsten besiedelten Land der Erde, nicht auszurotten ist. Den Herrschern anpassen mussten sich die Magier wohl, aber verlernten dabei das Allerwichtigste niemals: herauszufinden, was wirklich ist. Nicht den eigenen Bildern und Vorstellungen hinterher rennen, sondern dahinter schauen. Den Gegensatz von männlich-weiblich in ein Miteinander verwandeln. Den Urgrund der Polarität als Ansporn und die Bewahrung des Lebens als heilige Aufgabe der Medizinmänner verstehen. Die Kenntnis der Erdgeister (Sawdag), der Arzneien (Em), der geschmückten Bäume (Tschanar), der bösen Mächte (Tschötgör) und der Verbündeten (Diwaaded) überliefern. Die zeremoniellen Wichtigkeiten und die Fähigkeit der Traumreise sind bei alldem die unentbehrlichen Werkzeuge der schamanischen Arbeit. „Aber frage einen Schamanen nicht, wie er heilt“, mahnt Amelie Schenk. Denn all die Konstanten verwandeln sich in der spirituellen Welt in Variablen, die genutzt werden können, aber nicht zwangsweise notwendig sind. Die Hauptsache ist schließlich, dass der Schamane heilt. Das Wie bleibt nicht nur sein Geheimnis, sondern ist das Vermächtnis einer Welt intuitiver Absicht.

Besondere Experten sind die Schamanen in Bezug auf verstorbene Wesen, mit deren seelischen Energieformen sie in Kontakt treten können. Die Welt der Seele ist schamanisches Revier, dort kennt er sich aus, dort muss er arbeiten. Im Gegensatz zum Buddhismus, deren tibetische Form, der Lamaismus, im 16. Jahrhundert in der Mongolei heimisch und mittlerweile zur Staatsreligion wurde, ist das Schamanentum die buchlose Religion und die Alternative zur dogmatischen Konfession. Für Zeren Bawaai galt in erster Linie das gesprochene Wort, das aufgrund seiner Manifestationskraft besonders kostbar ist. Es kann beleben, lähmen und töten. Nicht nur in den Schamanengesängen der Mongolei kommt dies zum Ausdruck, auch unsere eigenen Flüche oder Gebete erinnern uns an die Macht der Wörter.

Doch das Schweigen ist genauso sinnvoll wie die Rede, ist gar Teil der Rede und erzeugt eine Langsamkeit, die uns gelegentlich ungeduldig macht, aber einer inneren Notwendigkeit gehorcht, damit bestimmte Aspekte ausgiebig betrachtet werden können. In der Stille erkennen die Schamanen den riesigen Ozean der nichtstofflichen Kraftfelder, der fließenden Ereignisse und den Strom dauernder Wandlung und Bewegung. „Die Dinge sind nur vorübergehend“, sagt Zeren Bawaai, „und über den Raum und die Zeit hin verwischt.“ Und dahinter liegt der Versuch, das Wesen der Dinge zu durchdringen. Meistens ist die einfachste Art der Annäherung die hilfreichste. So gibt der altehrwürdige Meisterschamane der neugierigen Forscherin folgenden Abschlussrat mit auf den Weg: „Wir sind vom Himmel und vom Wasser Geborene, sind daraus hervorgegangen und in diese Welt verpflanzte Wesen. Und alle darauf aufbauenden Fragen des Daseins sind unsere Aufgaben“, fügt der Weise sanft hinzu, „die Aufgaben der Schamanen.“

BUCH-TIPP
Schenk, Amélie
Herr des schwarzen Himmels
280 Seiten, € 14,90
ISBN: 978-3-939570-63-9
Hans-Nietsch-Verlag