Als junger Mensch konnte ich nicht glauben, dass es einen Himmel und eine Hölle geben sollte, wie es uns die Kirche lehrt. Ich konnte nicht glauben, dass Menschen wirklich für ewig in einer schmerzhaften Dunkelheit, der Hölle, leben sollten. Ebensowenig konnte ich glauben, dass Mörder für immer in den Himmel kommen sollten, vorausgesetzt, dass sie Gott vorher um Verzeihung gebeten hatten. Auch nachdem ich Pfarrer geworden war und im Krankenhaus Sterbende begleiten durfte, wusste ich immer noch nicht, was ich über den Tod denken sollte. Ist er das endgültige Ende? Oder gibt es doch ein Leben nach dem Tod?
In jener Zeit wurden die schwerkranken und sterbenden Menschen im Krankenhaus meine Lehrer. Sie erzählten mir, was sie an der Grenze zum Tod erlebten. So berichtete eine junge Frau, dass sie während einer Operation plötzlich aus ihrem Körper getreten war und nun an der Decke hing, von wo sie auf ihren Körper und die Ärzte und Pfleger hinabblickte, die um sie herum standen. Nachher konnte sie genau wiedergeben, was diese gesagt hatten, während sie da oben war und zuschaute. Dann fuhr sie mit schwindelerregendem Tempo durch einen Tunnel, an dessen Ende eine strahlende Lichtgestalt stand. Als sie über die Gestalt sprach, strömten ihr die Tränen über die Wangen: „Die Liebe dieser Gestalt“, sagte sie, „es gibt keine Worte dafür. Nichts auf der Welt ist so schön wie dieses Lichtwesen.“ Ich bemerkte, dass nicht nur diese Frau, sondern auch alle anderen, die mir von ihren Nahtod-Erfahrungen berichteten, ihre Angst vor dem Tod für immer überwunden hatten. Eine Fantasie kann uns nicht bleibend von dieser Angst befreien, nur eine reale Erfahrung kann das.
Ein Sterbender bat mich einmal, mit ihm über seine Angst vor dem Tod zu reden. Aber was ich auch sagte, er blieb ängstlich – bis ich eines morgens in sein Krankenzimmer kam und ihn strahlend auf dem Bett liegen sah. Ich fragte: „Was ist passiert?“ Er antwortete: „Ich habe geträumt. Ich lief einen Bergabhang hinauf. Da sah ich eine goldene Pforte, so schön. Ich wollte nur noch durch diese Pforte gehen. Als ich aber näher kam, sagte plötzlich eine Stimme zu mir: ‚Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Aber bald kommst du wieder hierher und dann darfst du hineingehen‘.“ Jener Traum hatte dem Mann die Ruhe gegeben, die meine Worte ihm nicht vermitteln konnten. Bis zu seinem Tod, einige Wochen später, blieb die strahlende Freude auf seinem Gesicht. So machten mir diese schwerkranken Menschen ein Geschenk: Es war, als ob ich über ihre Schultern schauen durfte, um zu sehen, was sie sahen. Eines Tages waren drei Menschen im Krankenhaus gestorben, mit denen ich herzlich verbunden war. Zuhause musste ich immer wieder an sie denken. Und als ich schlafen ging, sah ich ihre Gesichter vor mir. Im Schlaf träumte ich, dass eine Stimme zu mir sprach: „Die Kontinuïtät zwischen Leben und Tod ist größer als der Bruch zwischen den beiden.“ Als ich erwachte und über die Worte nachdachte, wusste ich: Es stimmt! Ich weiß es nicht mit meinem Verstand, sondern in meinem Herzen. So wurde damals das Leben nach dem Tod für mich zur Gewissheit, zu einer Realität, die ich annehmen konnte.
Begegnungen im Lichtreich
180 Seiten, € 8,95
ISBN: 978-3-89427-186-2
Aquamarin Verlag