Uns selbst in Frieden lassen

Spirituelle Pfade und Techniken sind Wege, die von uns wegführen, sagt der spirituelle Lehrer A. H. Almaas. Sie lassen uns hinter etwas herjagen, unruhig suchend, nie zufrieden. Dabei ist das Einzige, was uns wirklich zu unserer wahren Natur führt, das Innehalten, das Sein im Hier und Jetzt.

A. H. Almaas ist der Autorenname von A. Hameed Ali. Er ist Begründer des Diamond Approach, eines modernen spirituellen Weges der Selbsterkenntnis. Der ausgebildete Psychologe wurde in Kuweit geboren und lebt seit vielen Jahren in den USA, wo er die Ridhwan School gegründet hat. Seine Schüler kommen aus allen Teilen der Welt.

Bei seiner doch recht nüchternen Sichtweise auf spirituelle Wege, wird sich der ein oder andere fragen, woher der Erfolg des Diamond Approach herrührt. Zuerst mag man einige Parallelen zur Advaita- Lehre feststellen. Almaas schreibt jedoch in seinem aktuellen Buch „In die Tiefe des Seins“, dass sich seine Lehre deutlich vom Advaita-Pfad unterscheide. Während es im Advaita darum gehe, falsche Identitäten des Selbst auf direkte Weise zu durchschauen, um die Einheit der Wirklichkeit zu erkennen, würde es sich beim Diamond Approach nicht um ein plötzliches Erwachen oder einen radikalen Durchbruch drehen. Vielmehr stehe die stetige behutsame Entfaltung der Erkenntnis unserer wahren Natur im Mittelpunkt. Diese anfangs subtile Erkenntnis führe nicht zu einem einzigen Zustand, sondern schließe etliche Möglichkeiten ein – einschließlich des Zustands der Einheit.

Die Suche als Flucht
Die Einfachheit, die sich hinter Almaas‘ Lehre verbirgt, steht in Kontrast zu unserer Welt der Ablenkung und der vielfältigen Angebote – auch im spirituellen Bereich. Die Anzahl der Menschen, die nach einer Alternative suchen, wächst. Die meisten spirituellen Wegbeschreiter suchen innere Stille und Frieden, Abstand von Kampf und Konflikten und fühlen sich dabei zu Menschen hingezogen, die im Einklang mit sich sind, zu Situationen, in denen sie Ruhe und Frieden erleben können. Wer jedoch im Grunde nur der Welt entfliehen will und spektakuläre Bewusstseinszustände sucht, der wird in keiner spirituellen Richtung permanentes sondern nur vorübergehendes Glück finden. Erst das Akzeptieren aller Zustände im eigenen Leben, das Sich-selbst-Beistehen, kann dauerhaft erfüllend wirken.

Vieles der dauernden Aktivität in unserer Welt spielt sich dem Autor zufolge eigentlich nur in unserem Kopf ab. Selbst wenn wir uns zurückziehen, an einen ruhigen Ort ohne Telefon und Fernseher, wird es meist trotzdem nicht wirklich ruhig in uns. Der Verstand, die Basis unseres Egos, braucht ständige Aktivität. Er kann nur über das Denken existieren, und das Denken funktioniert eben nicht ohne Komponenten, die in Bezug zueinander gesetzt werden, verglichen und beurteilt, in Zeit und Raum positioniert werden müssen. Der Verstand kennt kein Jetzt, denn dann ist er ausgeschaltet. Er definiert sich über das Erinnern oder über das Vorausdenken.

Sich in Frieden lassen
Um im Hier und Jetzt sein zu können, muss der Verstand also möglichst umgangen werden. Dies geschieht allein über bewusstes Beobachten. Aus diesem Grund heißt eines der Kapitel in Almaas, Buch „Hände weg von Ihrer Erfahrung“. Wer fähig ist, sich selbst in Frieden zu lassen, der wird auch generell Frieden erfahren – so Almaas, These. Der Weisheitslehrer lehrt das uneingeschränkte Erleben einer jeden Situation, ohne Manipulationsversuche durch den Verstand. Sobald wir in einer Situation Kontrolle ausüben oder Widerstände aufbauen, sollten wir uns auf der Schliche bleiben. Das ist aber auch schon alles. „Das ist die wichtigste Lehre“, erklärt Almaas, „tun Sie gar nichts. Hören Sie komplett mit allem auf, was Sie mit sich selbst anstellen wollen. Lassen Sie die Finger von Ihrer Erfahrung.“

Die eigenen Erfahrungen in Ruhe zu lassen, heißt dabei nicht, dass man alles passiv über sich ergehen lässt. Erlebt man etwas, das einem nicht gefällt, so handelt man ganz natürlich nach seinem Impuls, indem man zum Beispiel seinen Unmut ausdrückt. Innere Stimmen, die versuchen, uns in die eine oder andere Richtung zu drängen, werden außer Acht gelassen. Es gilt, nichts zu tun, was in den Prozess eingreift.

Authentisch bleiben
Der Autor geht davon aus, dass eine „Verbesserung“ des Selbst völlig kontraproduktiv ist und vom wahren Sein wegführt. Niemand sollte sich in moralische oder sonstige Normen pressen, denn Richtig oder Falsch sind relative Werteinheiten. Es kommt nicht so sehr darauf an, was man macht, sondern wie man es macht. Es geht darum, authentisch und „real“ zu sein, wie Almaas es nennt. „Dort zu sein, wo Sie sind, ist nicht gleichbedeutend mit einer besonderen spirituellen Haltung wie zum Beispiel Klarheit oder Gelassenheit oder einer offenherzigen Haltung von Mitgefühl und Liebe“, heißt es im Buch. „Real zu sein, heißt, genau so zu sein, wie Sie sind, wenn Sie ganz bei sich und ruhig sind. … Real zu sein, hat nichts damit zu tun, etwas zu bekommen oder zu geben, gesehen zu werden oder dem anderen das Gefühl zu geben, dass er gesehen wird – nichts davon.“

Hören Sie komplett mit allem auf, was Sie mit sich selbst anstellen wollen. Lassen Sie die Finger von Ihrer Erfahrung.

Hingabe ist kein Tun sondern ein Nicht-Tun
So enthüllt uns Almaas ausführlich, wie wir zur Einfachheit des Seins hinter all unseren Schichten der mentalen Prozesse gelangen. Mit Übungen, die uns animieren, tiefer zu schauen und der Beschreibung von Hindernissen, die einem immer wieder begegnen, bietet sein Buch eine hilfreiche Lektüre, um immer wieder den roten Faden zu finden, der zu unserem wesentlichen Kern führt. Eigentlich sei diese Art Bewusstheitstraining ein 24-Stunden-Job, sagt er. Das Jetzt ist eben immer. Und egal, was in diesem Jetzt auftaucht, durch Loslassen unserer üblichen Verhaltens- und Verstandesmuster können wir uns flexibel und spontan den Dingen hingeben.

Besonders den auftauchenden Reaktionen und Gefühlen in uns selbst sollten wir uns beobachtend hingeben. Indem wir den inneren Impulsen aufmerksam folgen, enthüllen sich uns erst die tieferen Wahrheiten über uns selbst – Stück für Stück, bis wir beim unverfälschten Sein ankommen. Unsere Bewusstheit, die in mehr und mehr Augenblicke der Stille mündet und immer wieder Pausen setzt, lässt uns ganz neue Facetten des Lebens entdecken. Indem wir mit dem Leben eins werden, von ihm getragen werden, entfaltet sich das ganze Spektrum der menschlichen Erlebnisfähigkeit.

Hingabe darf dabei nicht mit einem Tun verwechselt werden. Hingabe bedeutet, sich einfach nur zu entspannen und präsent zu sein, die Unmittelbarkeit des Gefühls und der Empfindung unserer Erfahrung zuzulassen. „Es ist nicht so, als ob wir etwas tun würden“, schreibt Almaas. Wer sage: „Okay, ich gebe mich jetzt hin“, sei bereits auf dem Holzweg. „Was wollen Sie denn tun, um sich hinzugeben“, fragt er. Hingabe bedeute ein Nichttun, ein Aufhören, etwas zu tun. Erfahrungen werden angenommen, wie sie auch sein mögen. „Wenn ich etwas empfinde und erkenne, dass es mir nicht gefällt, akzeptiere ich, dass ich etwas empfinde, und nehme die Tatsache hin, dass es mir nicht gefällt. Ich nehme nicht die Haltung ein, dass ich keine negative Reaktion auf das haben sollte, was ich empfinde“, erläutert Almaas. Bewusst zu sein und zu bleiben genügt dabei meist schon, damit sich Assoziationen verflüchtigen.

Manipulation – eine subtile Form der Gewalt
Diese Vorgehensweise schließt ein bestimmtes Vertrauen in unser Wesen ein. Oftmals haben wir dieses Vertrauen nicht. Einerseits liegt eine Vertrautheit darin, uns als wir selbst zu fühlen. Tauchen jedoch bestimmte erlernte Muster aus dem Unterbewussten auf, schlägt dieses Vertrauen schnell in Angst um. Man fühlt sich unsicher. Dies rührt Almaas zufolge aus einem Zuwenig an Liebe, das man meist in frühen Jahren erfahren hat. Im Grunde liebt man sich selbst nicht genügend. Deshalb versuchen viele Menschen und besonders Menschen auf der Suche, etwas an sich zu ändern und zu verbessern.

Genau darin liegt auch die Problematik des Bewusstwerdungsprozesses. Man liest in spirituellen Büchern von seiner spirituellen Natur, vom wahren Sein, inneren Frieden, aber man spürt es nicht in sich. Man denkt sich, dass man wohl noch nicht „dort“ angelangt ist. So begibt man sich auf die Suche, als könne man diese Qualitäten nur woanders finden. Für Almaas bedeutet dabei jeglicher Versuch, uns in eine bestimmte Richtung zu lenken, uns innerlich zu manipulieren, eine Form von Gewalt, die wir uns antun. Der Wunsch, bestimmte Seiten an sich „weghaben“ zu wollen, habe eine subtil zerstörerische Note, die auf Kosten unserer Sensibilität und Bewusstheit gehe. Die Wahrheit ist, dass sich die Essenz, die wir sind, unser Geist nur „hier“ im Augenblick, in uns finden lässt.

Also: Lassen Sie sich ruhig mal in Frieden. Stehen Sie sich mutig bei, egal was ist. Irgendwann, verspricht Almaas, werden Sie in diesem Prozess der Bewusstwerdung Ihre Liebe zur Realität entdecken. „Dann erkennen wir, dass wir es mögen, der Realität nahe zu sein; wir lieben es, uns mit ihr wohlzufühlen und nicht mir ihr im Konflikt zu sein; wir lieben es, mit ihr so vertraut wie möglich zu sein“.

Infos zur Rhidwan School:
www.rhidwan.org
www.ahalmaas.com

BUCH-TIPP
A. H. Almaas
In die Tiefen des Seins
260 Seiten, € 19,50
ISBN: 978-3-89901-274-3
Verlag J. Kamphausen