Brad Warner ist ein Mann mit vielen Gesichtern. Er war Teil der aufbrechenden Hardcore- und Punkszene und als Bassist verschiedener Bands tätig. Er arbeitete in Japan an Low- Budget-Monsterfilmen und der „Ultraman“-TV-Serie, während er gleichzeitig eine Ausbildung bei Gudo Nishijima Roshi durchlief und von diesem zum – wohl ungewöhnlichsten – Zen-Meister und Linienhalter ernannt wurde. In diesem Artikel spricht Brad von der Wirklichkeit, von Erleuchtung, Küchenschaben, schlimmen Barry Manilow-Songs, der Notwendigkeit, alles zu hinterfragen und dem Paradies, das wir niemals erreichen werden. Neugierig? Weiterlesen!
Nichts ist heilig. Zweifel – an allem – ist absolut notwendig. Alles, ganz egal wie großartig, fundamental, schön oder wichtig es auch sein mag, muss in Frage gestellt werden.
Denn nur dann, wenn Menschen denken, ihre Überzeugungen seien über jeden Zweifel erhaben, können sie wirklich so schrecklich sein, wie sie es unserem Wissen nach können. Glaube ist die Kraft hinter allem Übel, das die Menschheit jemals angerichtet hat. In der Geschichte der Menschheit findet sich keine einzige richtig üble Tat, die nicht dem Glauben entspringt – und je stärker ihr Glaube, desto schlimmer können Menschen sein.
Hier ist eine meiner Überzeugungen: Alles ist heilig. Jeder Grashalm, jede Küchenschabe, jedes Staubkorn, jede Blume, jedes Schlammloch vor einem Graffiti besprühten Lagerhaus ist Gott. Jeder Gegenstand ist ein der Verehrung würdiges Objekt. Wenn du dich nicht vor einem überfahrenen Tier auf der A3 verbeugen kannst, das bereits verwest, hast du kein Recht, in Leder gebundene Wälzer und Marmor-Ikonen in bunten Glaskästen zu verehren.
Und hier ist noch eine: Alles ist profan. „Den Planeten retten“ ist reine Zeitverschwendung und die Umwelt zu erhalten Energievergeudung. Blumen stinken und Vogelgezwitscher ist nervtötender Lärm.
Andererseits ist nichts heilig und auch nichts profan. Nicht mal dein erbärmlicher Arsch. Sobald wir irgendetwas für heiliger halten als alles andere, fahren wir auf dem schnellsten Weg der Hölle entgegen. Und mit „irgendetwas“ meine ich alles – unsere Familie, unsere Freunde, unser Land, unseren Gott. Wir können diese Dinge, im Vergleich zu allen anderen Dingen, denen wir in unserem Leben begegnen, nicht als heiliger ansehen, oder wir sind dem Untergang geweiht. Es geht mir hierbei nicht um den dramatischen Effekt. Der Akt, überhaupt irgendeiner Sache mehr Respekt entgegenzubringen als einer anderen, ist der erste Schritt hinunter auf dem kurzen und glitschigen Pfad zur vollständigen Vernichtung der gesamten Menschheit.
Wenn du etwas als heilig ansiehst, versuchst du, dieses Etwas vom Rest des Universums zu trennen. Aber das lässt sich nicht machen. Nichts kann von allem Übrigen getrennt werden.
Du kannst Gott unmöglich ehren, wenn du nicht dazu fähig bist, jede einzelne seiner Erscheinungsformen zu ehren. Jemanden in Gottes Namen zu töten ist lächerlich. Wenn wir das tun, töten wir Gott und töten die Wahrheit. Doch was ist die Wahrheit? Was ist Gott? Wie kannst du diese erhabenen Ideen sehen, hören, riechen, schmecken, anfassen?
Die Wahrheit schreit euch von Reklametafeln mit Kippenwerbung ins Gesicht. Gott singt zu euch in Dudelversionen von Barry Manilow-Songs. Die Wahrheit kündigt sich an, wenn du eine herumliegende Dose Dominikaner-Pils wegkickst. Die Wahrheit regnet vom Himmel auf euch herab, und Gott formt sich in Pfützen zu euren Füßen. Du isst Gott und scheidest vier Stunden später die Wahrheit aus. Schnupper mal – was für einen lieblichen Duft die Wahrheit doch hat! Die Wahrheit ist die Wirklichkeit selbst. Gott ist die Wirklichkeit selbst. Erleuchtung ist übrigens auch die Wirklichkeit selbst. Und hier ist sie.
Utopia ist immer irgendwo anders. Genau das ist die Definition von Utopia.
Einige Leute denken, Erleuchtung sei so ‘ne Art superspezieller Zustand jenseits von Fragen und Zweifeln, so ‘ne Art absolutes Vertrauen in deinen Glauben und die Richtigkeit deiner Wahrnehmungen. Das ist nicht Erleuchtung. Tatsächlich ist genau das die allerschlimmste Form der Verblendung. Und nur, um das von Anfang an klarzustellen, lass mich mal eben zu Protokoll geben, dass ich nicht „die Erleuchtung erlangt habe“. Hab ich niemals und werde ich auch niemals. Und doch gibt’s da etwas. Und obwohl diese Erfahrung absolut nichts verändert, verändert sie doch alles. Die Wahrheit ist grenzenlos.
Die Wahrheit macht kein Theater, und sie schert sich nicht um deine Meinung. Es juckt sie nicht, ob du an sie glaubst, sie leugnest oder ignorierst. Ihr geht‘s am Arsch vorbei, welcher Religion du angehörst, aus welchem Land du kommst, welche Hautfarbe du hast, was oder wer sich zwischen deinen Beinen befindet, oder wieviel du in Investmentfonds angelegt hast… Die Wahrheit ist einfach.
Diese Welt ist besser als das Paradies, besser als jedes Utopia, das du dir vorstellen kannst. Ich sage das trotz Krieg und Hunger, Selbstmordattentaten und Terrorwarnungen. Diese Welt hier ist besser als Utopia, weil – und folge diesem Punkt ganz genau – du niemals in Utopia leben kannst. Utopia ist immer irgendwo anders. Genau das ist die Definition von Utopia.
Vielleicht kannst du dich auf ‚ne paradiesische Insel zurückziehen, weit entfernt von deinem Boss, deinen Rechnungen und Allem sonst, dem du entkommen willst, aber schon bald wirst du dich darüber beschweren, dass du dauernd Sand in der Arschritze hast, der Cola- Automat deine Euros frisst, oder die verdammten Einsiedlerkrebse dir ständig die Badeschlappen klauen. Egal wo du bist, du wirst immer irgendwas finden, das dir nicht passt, weil es mit deiner Vorstellung, wie es sein „sollte“, niemals ganz übereinstimmen wird.
Du kannst nicht ins Paradies gehen. Nicht jetzt und auch nicht, nachdem du deine erste Million gemacht hast. Nicht nachdem du gestorben bist. Und auch nicht, wenn du immer brav deinen Teller leer isst und wirklich ganz doll lieb bist. Niemals. Das, was du „ich“ nennst, kann niemals die Pforten des Himmels betreten, ganz egal, mit wie viel Überzeugung du daran glaubst. Der Himmel und das Paradies liegen nicht in der Zukunft, denn du hast keine Zukunft. Es gibt keine Zukunft für dich. Es gibt für niemanden eine Zukunft. Es gibt überhaupt keine Zukunft. Die Zukunft ist nichts als eine Idee.
„Den Planeten retten“ ist reine Zeitverschwendung und die Umwelt zu erhalten Energievergeudung.
Du kannst nicht im Paradies leben – aber du lebst genau hier. Mach‘s zu deinem Paradies oder mach‘s zu deiner Hölle. Die Wahl liegt ganz bei dir. Wirklich.
Was also ist echtes Zen und wie kann jemand, der nicht viel über den Buddhismus weiß, das Echte von den Büchern trennen, die sich um entrückte Glückszustände und Acid-Trip-artige Erfahrungen drehen, welche gewisse traurige, fehlgeleitete Gestalten „Erleuchtung“ nennen? Tja, auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Aber halte nach dem E-Wort Ausschau. Erwarte nicht zu viel davon. Und nimm dich in Acht vor den Leuten, die dir erzählen wollen, sie hätten sie (die Erleuchtung) und du nicht. Und hüte dich ganz besonders vor denjenigen, die behaupten, sie könnten sie dir geben. Die beste Faustregel ist immer noch, die Fähigkeit zu kritischem Denken zu nutzen, die man dir in der Schule beigebracht hat.
Hinterfrage, was du liest und hörst, bohre tief und ständig nach. Akzeptiere nichts, nur weil andere Leute es glauben, oder es schön ausgedrückt ist oder weil es schon seit zwanzig, zweihundert oder zweitausend Jahren die Runde macht. Und hinterfrag das hier definitiv auch. Aber geh mit deinen Fragen den ganzen Weg zu Ende: Hinterfrag deine Schlüsse, deine Urteile und deine eigenen Antworten. Schau dir deinen eigenen Glauben, deine eigenen Vorurteile, deine eigenen Meinungen an – und sieh sie als das, was sie sind.
Wenn du das nicht tust, kann die Wahrheit nie erscheinen. Und wenn sie nicht auf eine Weise erscheint, in der du sie persönlich und ohne Vorbehalt ergreifen kannst, dann hat diese Welt nicht die geringste Chance. Doch wenn du wirklich gewissenhaft Alles hinterfragst, wenn du deine Fragen lange und ehrlich genug verfolgst, wird eine Zeit kommen, in der dir die Wahrheit vor den Kopf klatscht und du‘s wissen wirst.
Aber lass mich dir eine Warnung geben, wobei es dir, wie bei allem anderen was ich sage, völlig frei steht, sie zu ignorieren: Die Wahrheit wird nicht das sein, was du dir darunter vorgestellt hast. Nicht einmal annähernd. Und vielleicht wirst du dir wünschen, sie nicht so lange verfolgt zu haben. Doch wenn du sie einmal gefunden hast, wirst du nie wieder in der Lage sein, vor ihr davonzulaufen oder dich vor ihr zu verstecken. Du wirst keine andere Wahl haben, als ihr ins Gesicht zu sehen.
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hardcorezen.blogspot.com
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