Er war monatelang in Ägypten unterwegs, zu Fuß, zu Pferd, Kamel oder Esel, in belebten Moscheen, heiligen Stätten und einsamen Nekropolen. Er traf Schlangenbeschwörer, Magier, Mystiker und Derwische und nahm stets teil an den oft unglaublichen Geschehen, verlor dabei aber nie seinen gesunden Menschenverstand. Paul Brunton wurde im Jahr 1898 in London geboren. Nach der Schulzeit und dem Studium arbeitete er mehrere Jahre erfolgreich als Journalist, bis in den Dreißigerjahren sein Interesse für Meditation und spirituelle Weisheit wuchs und ihn auf lange Auslandsreisen führte.
Die rationale, hochgebildete Seite des Autors tritt hervor, wenn er uns hier und da hieroglyphische Schriften aus dem Reich der Pharaonen erläutert oder Aufzeichnungen der alten Griechen anführt, um den vielen Geheimnissen der ägyptischen Geschichte näher zu kommen. Seine Suche beschränkte sich jedoch nicht auf Bücher oder Ruinen. Er wollte die Geheimnisse, die diese Kultur schon so lange hütet, in den Menschen wiederfinden – und zu guter Letzt in sich selbst. So ist seine Ägyptenreise nicht zuletzt auch eine spirituelle Reise in sein eigenes Inneres. Meditationen und Visionen begleiten seine Erkundungen und bereichern die äußerlichen Impressionen dieser faszinierenden Kultur und ihrer Menschen. Zudem erforschte Brunton die ägyptische Mysterienkultur in einer Zeit lange vor den heutigen strengen Vorschriften des Massentourismus. Somit bekommt der Leser hier eine Sichtweise präsentiert, die heute einfach nicht mehr reproduzierbar ist.
Ein Höhepunkt seines Buches Geheimnisvolles Ägypten ist sicherlich die Nacht, die der Autor allein eingeschlossen in der Königskammer mit dem „Einweihungs-Sarkophag“ der Großen Pyramide von Gizeh verbringt, wo er die ägyptische Initiation nacherlebt und das tiefste Geheimnis der Pyramide kennenlernt. Diese innere Einweihung, diese Selbstentdeckung, enthüllt die Wahrheit, die sich in allen Mysterienkulten auf die eine oder andere Weise wiederfindet: dass unser wahres Zuhause nicht unser Körper, sondern die Seele ist.
Lesen Sie exklusiv in newsage einen Ausschnitt aus Paul Bruntons Buch, in dem er die Vorbereitung und Erfahrung seiner Nacht in der Pyramide beschreibt:
Ich hatte mir vorgenommen, eine ganze Nacht innerhalb der Großen Pyramide zu verbringen, zwölf Stunden lang wach und wachsam in der Königskammer zu sitzen, während die Dunkelheit langsam die afrikanische Welt einhüllte. Und hier war ich endlich und ließ mich in der seltsamsten Unterkunft nieder, die jemals auf unserem Planeten erbaut worden war. Es war auch keineswegs leicht gewesen, das durchzusetzen. Ich hatte herausgefunden, dass, obwohl das Publikum sich ihr jederzeit nähern konnte, die Große Pyramide doch kein öffentliches Eigentum war. Sie gehörte der ägyptischen Regierung. Man konnte ebenso wenig in ihr herumgehen und spontan eine Nacht in einem ihrer Räume verbringen, wie man in eines fremden Mannes Haus eindringen und sein bestes Schlafzimmer benutzen konnte. Jedes Mal, wenn man das Innere der Pyramide besucht, hat man vom Ministerium für Ägyptische Altertümer ein Billet für fünf Piaster zu kaufen. Ich ging also in das Ministerium und bat optimistisch um die Erlaubnis, eine
Nacht in der Großen Pyramide verbringen zu dürfen. Hätte ich um Erlaubnis gebeten, zum Mond zu fliegen, würde das Gesicht des Beamten, der mir zuhörte, kaum größere Verblüffung verraten haben.
Ich versuchte eine kurze, entschuldigende Erklärung meiner Bitte. Sein Staunen ging in Heiterkeit über. Er lächelte. Ich fühlte, dass er mich als reifen Anwärter für eine gewisse Anstalt betrachtete, in die wenige von uns Lust hätten, freiwillig einzuziehen. Endlich sprach er: „Ich bin noch niemals um so etwas gebeten worden. Ich glaube nicht, dass es innerhalb meiner Befugnisse liegt, Ihre Bitte zu erfüllen.“
Er schickte mich zu einem anderen, höheren Beamten der gleichen Abteilung. Die komische Szene, die sich in seinem Zimmer abgespielt hatte, wiederholte sich. Mein Optimismus schwand zusehends. „Unmöglich“, erklärte der zweite Beamte freundlich, aber fest, in der Annahme, er habe einen harmlosen Geisteskranken vor sich. „Die Sache ist noch nie dagewesen. Ich bedauere.“ Seine Stimme wurde schleppend, während er die Achseln zuckte. Er stand auf, um mich hinauszukomplimentieren.
Nun wurde die Routine als Journalist und Redakteur, die einige Jahre eingeschlafen, aber nicht tot war, in mir lebendig und rebellierte. Ich begann mit ihm zu verhandeln, bestand immer wieder auf meiner Bitte und lehnte es ab, das Zimmer zu verlassen. […] Ich war mir klar darüber, dass meine Bitte äußerst exzentrisch war und genügte, um mich als Verrückten zu etikettieren. Trotzdem konnte ich sie nicht fallen lassen. Der Entschluss, ihre Gewährung zu erreichen, war übermächtig geworden. Zu guter Letzt gelang es mir, die Genehmingung zu erhalten. „Ich fürchte, wir werden Sie einschließen müssen“, erklärte der Beamte. „Wir versperren den Eingang zur Pyramide immer bei Beginn der Dämmerung mit einem abschließbaren Eisengitter. Sie werden also zwölf Stunden lang ein Gefangener sein.“ „Ausgezeichnet! Heute wäre mir keine Wohnung willkommener als dieses Gefängnis“, entgegenete ich.
In der Pyramide
Ein langer rauer Steinblock, der einst ein Teil des Fußbodens gewesen war und dieses Loch bedeckt hatte, stand an einer Seite an die Wand gelehnt, vielleicht von frühen Arabern dort gelassen. Parallel dazu und nur wenige Zoll entfernt, stand der glattwandige Sarkophag, ein deckelloser, einsamer Gegenstand,der einzige in diesem kahlen Raum. Er stand genau von Norden nach Süden.
Die aus dem Boden gerissene Platte bot einen brauchbaren Sitz. So ließ ich mich im Schneidersitz darauf nieder und richtete mich ein, den Rest der Nacht hier zu verbringen. Zu meiner Rechten hatte ich meinen Hut, meine Jacke und Schuhe hingelegt, zu meiner Linken die noch immer brennende Lampe, eine Thermosflasche mit heißem Tee, ein paar Flaschen Eiswasser, ein Notizbuch und meine Füllfeder.
Ein letzter Blick rund um die Kammer und einer nach dem Marmorsarg, dann löschte ich das Licht. Ich wusste eine starke elektrische Lampe neben mir, die sofort angeknipst werden konnte. Das plötzliche Eintauchen in völlige Dunkelheit führte zu der gespannten Frage, was in dieser Nacht wohl geschehen könne. Das Einzige, was man in dieser seltsamen Lage zu tun vermochte, war, zu warten – warten – warten.
Die Minuten zogen langsam dahin, während ich allmählich empfand, dass die Königskammer eine starke eigene Atmosphäre besaß, die ich nur als „medial“ bezeichnen kann. Ich hatte mich wohlbedacht geistig empfänglich, passiv im Empfinden und negativ in der Haltung eingestellt, so dass ich ein vollkommenes Empfangsgerät für das darstellen konnte, was sich vielleicht an Übernatürlichem mir nähern sollte. […]
Ich empfand die machtvolle Atmosphäre des Raumes. Es ist eine völlig normale und allgemeine Erfahrung sensitiver Menschen, die Atmosphäre alter Häuser zu empfinden, und mein eigenes Erlebnis begann mit etwas Ähnlichem. Das Fortschreiten der Zeit vertiefte es, steigerte das Gefühl unermesslichen Alters, das mich umgab, und gab mir das Gefühl, dass das 20. Jahrhundert unter meinen Füßen schwinde. Indessen, meinem mir selbst auferlegten Entschluss zufolge widerstand ich diesen Empfindungen nicht, sondern ließ sie sich verstärken.
„Ein Meister im Himalaya sagte mir einmal: ‚Das letzte Ziel einer Trance ist, eine Gottesvision als Licht zu erleben. Dieses Leuchten ist von derartiger Stärke, dass man durch die starke Einwirkung auf die optischen Nerven erblinden werde, würde man es plötzlich erleben, ohne darauf vorbereitet zu sein.‘
Mystiker, die das erleben, fühlen, dass sie in Licht förmlich gebadet sind; und sie alle erklären einmütig, dass dies die höchste Erkenntnis sei.“
Ein sonderbares Gefühl, nicht allein zu sein, begann mich heimlich zu überschauern. Unter der Decke der völligen Dunkelheit fühlte ich, dass etwas Lebendiges um mich her pulsierte. Es war ein vages, aber wirkliches Gefühl, und es war dieses Empfinden, zusammen mit der wachsenden Wahrnehmung wiederkehrender Vergangenheit, das mein Bewusstsein von etwas „Medialem“ bildete.
Jedoch nichts klar Umrissenes, Endgültiges erhob sich aus diesem vagen und allgemeinen Empfinden eines geisterhaften Lebens, das durch die Dunkelheit pulsierte. Die Stunden vergingen, und entgegen meiner Erwartung brachte die fortschreitende Nacht wachsende Kälte mit sich. Die Wirkung meines dreitägigen Fastens, das ich mir auferlegt hatte, um meine Empfänglichkeit zu steigern, zeigte sich nun als zunehmendes Frösteln. Kalte Luft strömte durch die engen Ventilationsschächte in die Königskammer und kroch durch die dünne Hülle meiner leichten Kleidung. Mein immer kälter werdender Körper zitterte unter dem leichten Hemd. Ich stand auf und zog die Jacke an, die ich erst vor wenigen Stunden wegen der starken Hitze abgelegt hatte. So ist das östliche Leben zu gewissen Jahreszeiten: Tropische Hitze am Tag und starker Temperatursturz nachts. […]
Die Unterbrechung meiner Nachtwache schien etwas anderes aufgebrochen zu haben, denn ich merkte sehr rasch, dass die Empfindung von unsichtbarem Leben um mich her sich zu völliger Deutlichkeit steigerte. In meiner Umgebung war etwas, das lebte und pulsierte, obwohl ich nach wie vor nicht das Geringste sehen konnte. Mit dieser Entdeckung überwältigte mich plötzlich die Erkenntnis meiner abgeschiedenen, unheimlichen Lage. Hier saß ich allein in einem seltsamen Raum, der mehr als 200 Fuß über dem Boden lag, hoch über dem Millionenvolk von Kairo, umgeben von völliger Finsternis, eingeschlossen und gefangen in einem seltsamen Bau am Rande der Wüste, die sich über Hunderte von Meilen erstreckte, während sich außerhalb dieses Gebäudes – das selbst wahrscheinlich das älteste der Welt war – das düstere, von Gräbern durchsetzte Totenfeld einer alten Hauptstadt befand.
Geheimnisvolles Ägypten
332 Seiten, € 28,00
ISBN: 978-3-89427-561-7
Aquamarin Verlag
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