Die Gewohnheiten des Alltags prägen unser Leben. Und unser Leben ist nichts anderes als die Summe aller unserer täglichen Handlungen. Es lohnt sich also, beim Gewöhnlichen, beim Alltäglichen zu beginnen. Die Erfahrung zeigt, dass es gerade die kleinen Schritte sind, die große Veränderungen bewirken. Lesen Sie selbst:
Zwei neue Schüler traten in ein Zen-Kloster ein. Der Meister unterwies beide in der Gehmeditation. Als sich die Neuankömmlinge am nächsten Morgen wieder im Garten des Klosters begegneten, fragten sie sich, ob sie nicht während der Gehmeditation eine Zigarette rauchen könnten. Schließlich seien sie im Freien, und der Rauch würde niemanden stören. Sie beschlossen, am Nachmittag den Zen-Meister zu fragen. Am Tag darauf trafen sich die Schüler erneut. Einer von beiden rauchte während der Gehmeditation. Etwas verdutzt erkundigte sich der andere: »Du rauchst, obwohl der Meister uns das Rauchen verboten hat?« Darauf erwiderte der andere: »Wieso verboten? Mir hat der Meister das Rauchen erlaubt!« – »Was!«, schrie der erste Schüler. »Mir hat er es verboten! Warum hat dir der Meister das Rauchen erlaubt?« – »Was hast du ihn denn gefragt?«, wollte der Schüler mit der Zigarette im Mund wissen. »Ich habe den Meister gefragt, ob ich während der Gehmeditation im Garten rauchen darf. Er ist sehr wütend geworden und hat mich mit dem Stock auf den Kopf geschlagen und laut ›Nein!‹ gebrüllt. Was hast du ihn gefragt?«, wollte nun der andere Schüler wissen. »Ich habe den Meister gefragt, ob ich während des Rauchens meditieren kann. Er hat sich darüber gefreut und gesagt: ›Gut, wenigstens meditierst du!‹«
Die Gewohnheiten des Alltags prägen unser Leben
Unser Leben steht und fällt mit unserer Wahrnehmung. Unsere Sinneseindrücke legen den Grundstein für unser Denken und Fühlen. Und unsere Gedanken und Empfindungen erzeugen den Impuls zur Handlung. Die Zen-Praxis beeinflusst unsere Wahrnehmung und dadurch auch unsere Gefühle und unsere Denk- und Handlungsmuster. Unsere Absicht, unsere Motivation hinter einer Handlung, entscheidet darüber, auf welche Art und Weise wir leben und wie wir unser Leben wahrnehmen, bewerten und erfahren. Es ist wichtig, dass wir uns über unsere Gewohnheitsstrukturen und Wahrnehmungsprozesse Klarheit verschaffen, denn nur so haben wir einen Einfluss auf unser Leben. Eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit, also eine subjektive Wahrheit, hält uns gefangen und behindert den freien Fluss. Wir alle haben Hoffnungen und Erwartungen, die willentlich und unwillkürlich unser Denken, Fühlen und Handeln in eine bestimmte Richtung lenken. Vor allem bewusste und unbewusste Ängste wirken sich auf unsere Denk-, Gefühls- und Handlungsmuster aus.
In einem chinesischen Dorf lebte eine alte Frau. Die Bewohner des Dorfes gaben ihr den Spitznamen »Weinendes Weib«, weil sie immer weinte, egal ob es regnete oder ob die Sonne schien. Ein Zen-Meister besuchte das Dorf und begegnete auch der alten Frau. Er fragte sie, weshalb sie immer weine. Sie antwortete: »Meister, ich habe zwei Töchter. Die Jüngere verkauft Regenschirme, die Ältere Strohschuhe. Wenn es regnet, dann denke ich an meine ältere Tochter, die keine Strohschuhe verkaufen kann, weil das Wetter schlecht ist. Wenn die Sonne scheint, dann denke ich an meine jüngere Tochter, die keine Regenschirme verkaufen kann, weil das Wetter gut ist!« Der Zen-Meister erwiderte darauf: »Ab heute denkst du an deine jüngere Tochter, wenn es regnet und bist glücklich darüber, dass sie Regenschirme verkaufen kann. Wenn die Sonne scheint, dann denkst du an deine ältere Tochter und freust dich darüber, dass sie Strohschuhe verkaufen kann!« Nach der Begegnung mit dem Meister weinte die Frau an keinem Tag mehr. Sie lächelte, wenn die Sonne schien, und sie lächelte, wenn es regnete. Und schon bald wurde ihr im Dorf der Spitzname »Lächelndes Weib« verliehen.
Was wirklich zählt, ist unsere geistige Haltung
Zen ist eine Haltung, die sich immer zuerst in Ihrem Geist entwickelt und manifestiert und sich dann über Ihre Handlungen im Alltag ausdrückt. Lassen Sie uns nun ein ganz konkretes Beispiel untersuchen. Ob Sie einer geregelten Arbeit außer Haus nachgehen, einkaufen fahren, einen Arztbesuch machen, die Kinder zur Schule bringen oder nur von einem Zimmer zum anderen gehen, Sie legen immer eine bestimmte Strecke zurück. Dabei spielt es keine Rolle, ob Sie mit dem Auto, dem Fahrrad, zu Fuß oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind. Wenn Sie von A nach B kommen wollen, dann ist der Weg das Ziel.
»Was ist der Weg?«, wollte eine Schülerin von ihrer Zen-Meisterin wissen.
»Das Gehen!«, gab diese zur Antwort.
Viele Menschen erachten die Zeit, die sie zum Beispiel im Flugzeug, im Auto oder in der Bahn verbringen, als Verschwendung. Zen ist aber im Grundsatz immer nur Praxis und Erleuchtung kann somit überall geschehen. Das Erleben von Zufriedenheit, Glück, universeller Freiheit, die Aufhebung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt, die Verwirklichung der wahren Natur, all das ist nicht an einen speziellen Ort oder an eine bestimmte Zeit gebunden. Die äußeren Faktoren spielen dabei keine Rolle. Diese besondere Haltung ist es, die Zen so stark mit dem Leben verbindet. Was wirklich zählt, ist einzig und allein Ihre innere, Ihre geistige Haltung. Ein Zen-Sprichwort lautet: »Dein alltäglicher Weg ist der wahre Weg.« Wenn wir wirklich gegenwärtig und bewusst leben, verschwindet die Angst, etwas zu verpassen oder zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Wir leben inmitten der Welt und sind doch frei von ihr. Wenn wir aber das Gefühl haben, dass die Ferien erst mit dem Blick auf das Meer beginnen, dann ist die Reise tatsächlich Arbeit, mühsam, anstrengend, d. h., sie ist nur Mittel zum Zweck! Jede Verspätung wird dann zur Qual, alles Unvorhergesehene raubt uns unsere wertvolle und wohlverdiente Urlaubszeit und unsere Energie. Wenn wir aber in der Lage sind, bereits mit dem Abheben des Flugzeuges alles hinter uns zu lassen, beginnen die Ferien in genau diesem Augenblick.
Eine Zen-Schülerin erkundigt sich bei der Meisterin: »Muss ich mich erst verlaufen, damit ich mein Ziel finden kann?« Die Meisterin entgegnet darauf: »Seit ich kein Ziel mehr habe, verlaufe ich mich auch nicht mehr!«
Immer wenn unser Körper und unser Geist keine Einheit bilden, entsteht das Gefühl, dass uns die Zeit davonläuft. Wenn wir an einem anderen Ort sein möchten als an dem Ort, an dem wir gerade sind, wenn wir etwas anderes machen möchten als das, was wir gerade tun, dann steigen in uns unweigerlich Gefühle wie Unruhe, Stress, Ärger und Unzufriedenheit auf. Diese Empfindungen können wir nur umgehen, wenn wir bereit sind, die Lebenssituationen so anzunehmen, wie sie sind. Das setzt die Erkenntnis voraus, dass wir nie an einem anderen Ort in der Zeit sein können, als dort, wo wir uns im Moment befinden. Das klingt sehr logisch und einfach, und trotzdem sind wir oft genervt, wenn wir im Stau stehen, der Bus Verspätung hat, wir einen Umweg gehen müssen, am Telefon in der Warteschlange landen oder im Supermarkt an der Kasse anstehen müssen. Wenn es Ihnen aber gelingt, Ihren Körper und Ihren Geist auf den gegenwärtigen Augenblick zu fokussieren, wenn Sie Gedanken an Vergangenes und Zukünftiges loslassen können, dann sind Sie bereits überall angekommen. Aus dieser inneren Haltung heraus entstehen automatisch Ruhe, Gelassenheit und Akzeptanz für das, was ist. Jetzt ist der Weg tatsächlich das Ziel!
Der weglose Weg
Wir verlieren viel Energie, wenn unsere Handlungen nicht im Einklang mit unseren Überzeugungen stehen. Deshalb ist es wichtig, dass Sie sich Gedanken darüber machen, nach welchen Grundsätzen Sie Ihr Leben führen möchten. Denn nur, wenn Ihre innere Einstellung mit der äußeren Haltung übereinstimmt, entsteht ein Gefühl des Glücks und der Zufriedenheit. Wie viel Macht und Einfluss Gedanken über Sie haben können, zeigt eine einfache Aufschlüsselung. Gehen wir einmal davon aus, dass wir zwischen 50 000 und 80 000 Gedanken pro Tag haben. Dann sind im Durchschnitt 70 Prozent davon belanglos, unwichtig, oberflächlich und flüchtig, 25 Prozent der Gedanken sind negativ, destruktiv und schädlich. Und nur 5 Prozent davon sind positiv, stärkend, aufbauend und motivierend. Anhand dieses Beispiels können Sie einerseits erkennen, wie wichtig die Hygiene des Geistes ist und andererseits, wie bedeutend es ist, dass Sie Ihre Achtsamkeit und Ihre Wahrnehmung schulen.
Eine Schülerin fragte ihre Zen-Meisterin: »Ist die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft wichtiger?« Die Meisterin stand auf, verpasste der Schülerin eine Ohrfeige und gab zur Antwort: »Was war schlimmer? Als ich aufstand und meine Hand hob, der Schmerz oder die Erinnerung daran?« Die Schülerin ging, ohne ein Wort zu sagen. Darauf erwiderte die Meisterin: »Aua!«
Zen ist die unmittelbare, direkte Erfahrung der Wirklichkeit und die bewusste Veränderung der geistigen Einstellung und der daraus resultierenden Handlungen. Erleuchtung im Verständnis von Zen bedeutet, den Schleier der Unwissenheit und Verblendung zu lüften und klarzusehen. Es ist das Verstehen der Wirklichkeit, das Sehen und Erkennen der Reinheit und der allumfassenden Wahrheit, die jedem Wesen innewohnen. Die Lehre des Zen schenkt dem Augenblick das höchste Maß an Lebenssinn. Das heißt, dass das Leben nur in der Gegenwart stattfindet. Die wichtigste Botschaft des Zen, die sich daraus erschließt, ist, dass Menschen die Fähigkeit haben, ihr Leben und sich selbst zu verändern. Ergreifen Sie diese Chance. Ich wünsche Ihnen von Herzen viel Freude, Erkenntnis und Inspiration auf dem weglosen Weg!
Erleuchtung zum Frühstück Nimm dir Zeit zum Leben – Achtsamkeit im Alltag
191 Seiten, € 19,95
ISBN: 978-3-8434-1078-6
Schirner Verlag