Im Dialog mit Mutter Erde

Hierzulande ist oft die Rede davon, dass die Menschen den Kontakt zur Natur und zur Erde verloren haben. Naturvölker hingegen stehen im bewussten Dialog mit Mutter Erde und könnten uns als Beispiel dienen. Und tatsächlich wird der Ruf nach einer Partnerschaft von Mensch und Erde auch in der westlichen Welt immer lauter.

Der Physiker Sten Linnander ist dabei noch einen Schritt weiter gegangen: Er hat den Ruf von Mutter Erde selbst erhört – und übermittelt. Es ist ein Appell, unsere Verbindung zu ihr ernst zu nehmen.

Als der bekannte Chemiker, Mediziner und Biophysiker James Lovelock Mitte der 1960er Jahre seine Gaia-Hypothese entwickelte, brach er mit allen gängigen Vorstellungen über die Beschaffenheit unseres Planeten. Sein revolutionärer Ansatz ging davon aus, dass sich die Erde und ihre ganze Biosphäre wie ein Lebewesen, wie ein selbstständiger Organismus betrachten ließ. Demnach bildet die Erdoberfläche ein eigenes dynamisches System, welches auf menschliche Einflüsse stabilisierend reagiert. Der Name dieser These geht auf „Gaia“, die Erdgöttin und große Mutter der griechischen Mythologie, zurück.

Dass die Erde auch ein beseeltes Lebewesen ist, wurde von Lovelock noch bestritten. Heute jedoch wird diese These in verschiedenen Kreisen zunehmend vertreten. In zahlreichen religiösen Traditionen werden den Vorkommnissen im irdischen Ökosystem Bedeutungen zugesprochen, die eine bestrafende oder belohnende Dimension haben können. Als mütterliche Instanz reagiert die Erde demnach z.B. in Form von üppigen Ernten oder Überschwemmungen und Trockenperioden auf die Handlungen ihrer „Kinder“. Diese Vorkommnisse werden als eine Art „erzieherische Maßnahme“ interpretiert, die uns Menschen lehren soll, bewusst mit unserer Lebensgrundlage umzugehen.

Obwohl zwar die meisten bereits eine unbewusste Ahnung von dieser besagten non-physikalischen Verbindung zu unserem Heimatplaneten haben, gehören derartige Äußerungen bisher noch in das Repertoire esoterischer Erfahrungsberichte. Besonders wegen der Schwierigkeit, die Wechselbeziehung von Mensch und Erde nachzuweisen, finden derartige Theorien im aktuellen Diskurs kaum Beachtung. Umso erstaunlicher erscheint es da, wenn sich gerade ein klassischer Naturwissenschaftler für die These einer beseelten Erde stark macht.

Bei Sten Linnander handelt es sich nicht nur um einen Vertreter der These, sondern um einen direkt Erfahrenden. Zunächst einmal ist Linnander ein studierter Physiker und Geophysiker. Häufige Wohnsitzwechsel seiner Eltern, von Schweden nach Afghanistan und Nepal, brachten ihn schon in Kindertagen mit der Vielfalt fremder Kulturen und Glaubensrichtungen in Kontakt. Sein Weltbild war daher bereits früh von außereuropäischen Konzepten beeinflusst und an eine weniger rationale Mentalität gebunden. Zwar prägten ihn vornehmlich naturwissenschaftliche Leitsätze, doch waren ihm spirituelle Grundgedanken genauso vertraut.

Der pragmatische Naturwissenschaftler bricht daher nicht ohne gewisse Hemmungen sein Schweigen über seine persönlichen Erfahrungen mit Mutter Erde. Es fällt ihm manchmal selbst noch schwer, seine fantastische Geschichte vollkommen zu fassen. Doch sein Bericht ist auch die Einlösung seines Versprechens an die Erde, ihre Botschaft weiterzugeben.

Der Anfang

Den Anstoß für das Projekt gab ein schamanisches Training in der Wüste von Arizona. Dort wurde Sten aufgefordert, auf einen Berg zu steigen und „ganz normal mit der Erde zu reden“. Ungewöhnlich daran war vor allem, dass die Einladung von der Erde selbst stammte. Es war der erste bewusste Kontakt innerhalb eines dreimonatigen Zeitraums, in dem Linnander intensive Gespräche mit der Erde führte. Dennoch dauerte es weitere 15 Jahre, bis seine eigenen Zweifel ausgeräumt waren und er bereit war, seine Erfahrungen publik zu machen.

Seine Aufzeichnungen, die er in dem Buch „Die Erde spricht“ veröffentlicht hat, lassen uns die Erde als ein fühlendes und bewusstes Gegenüber wahrnehmen, das in enger Verbindung zu uns steht und im Gespräch mit uns sein will. In jedem Moment, in dem der Mensch Freude empfindet oder Schmerz erleidet, in dem er kreativ und schöpferisch ist, nimmt die Erde Anteil daran. Und die Handlungen seitens der Erde sind bewusst. Dies sind die Kernaussagen, die Linnander von unserem Heimatplaneten erhalten hat.

Der Physiker Sten Linnander

Den Grund, warum die meisten Menschen sich mit diesen Aussagen schwertun, sieht die Erde in demselben Phänomen, das auch zwischenmenschliche Beziehungen oft kompliziert macht. Sie erklärt, dass wir ebenso wenig Zugang zu uns selbst hätten wie zu ihr. Unsere eigenen Handlungsmotive seien uns meist unbekannt. Nahezu immer agieren wir, ohne dass uns unsere grundlegenden Absichten klar sind – und erliegen dabei unseren unreflektierten Verhaltensmustern. Oft spüren wir sogar intuitiv Impulse der Erde, haben aber keinen bewussten Zugang zu ihnen.

Um uns das Wesen der Erde deutlicher zu machen, sollten wir die Dinge nicht so stark in einen Männlich-weiblich-Dualismus einteilen, der weder ihr noch uns selbst gerecht werde, so Gaia. Sie sei zwar ganz recht vornehmlich unsere Mutter Erde, aber der väterliche Bezug sei ebenfalls gegeben. Jeder von uns hat Anteil an der göttlich-mütterlichen und der göttlich-väterlichen Dimension der Erde. Wir leben in der Aura der Erde, welche alles Lebendige, die fruchtbaren Böden, die Gewässer, die Atmosphäre und eine Vielzahl von Energiefeldern mit einschließt und sich weit in die Atmosphäre und das All erstreckt.

Wir Menschen und die Erde sind dabei nicht zufällig zueinander gekommen. Unser Planet hat uns in vollem Bewusstsein angezogen, genauso wie wir ihn auf einer bestimmten Ebene gesucht und gefunden haben. Das Empfindungsvermögen der Erde funktioniert in Teilen über unsere eigenen Empfindungen. Durch uns kann sie sich und ihre Schönheit erkennen: Unsere Augen sind ihr Spiegel zu sich selbst. Die beidseitige Wahrnehmung ist ein wichtiger Aspekt einer Übereinkunft, die wir miteinander haben.

Um welche Übereinkunft handelt es sich?

Doch um welche Art von Übereinkunft handelt es sich zwischen uns und der Erde? Auch Linnander stellte sich diese Frage und wurde auf die bestehenden Übereinkünfte in der Natur verwiesen. So wie Tiere in einem Rudel Vereinbarungen treffen, welche Rolle oder Aufgabe jedem Tier zuteil wird, so bestehen auch Übereinkünfte über die Grenzen einer Spezies hinaus. Sie organisieren das Zusammenleben aller in Symbiose und Kooperation. Zwar unterscheiden sich die verschiedenen Organisationsformen in ihrer Art. Alle haben jedoch den Zweck, das ökologische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.

Mensch und Erde haben das Zusammenleben also gewählt und gewollt. Bereits vor dieser Entscheidung waren wir Gaia zufolge stark aneinander ausgerichtet. Unser gemeinsames Ziel war es, zu lernen, Freiheit und Intimität in Einklang zu bringen und in ihrer Ganzheit zuzulassen. Möglich ist uns das über Gefühle, die die Erde ebenso besitzt wie wir. Gefühle seien, so erklärt Linnander, energetische Bewegungen, die unsere Wirklichkeit beeinflussten. Es gehe nunmehr darum, die Gefühle bewusst als Energien wahrzunehmen.

Der Erde wird es durch uns Menschen ermöglicht, sich selbst von außen zu sehen. Über unseren Blick bekomme sie den intimsten Zugang zu sich selbst, so der Autor. Dafür nährt und behütet sie uns wie ihre Kinder und gibt uns die Chance, uns wiederum mit ihren Augen zu sehen. Durch ein aufrichtiges Hinsehen können wir dabei mehr über uns erfahren und gleichzeitig ein besseres Verständnis für die Motive der Erde bekommen. Dieses Wechselspiel autonomer „Parteien“ wird in Linnanders Buch als Basis einer Zusammenarbeit dargestellt, welche die Triebfeder der Evolution ist.

Leider verhält sich der Mensch nicht immer gemäß diesen natürlichen Gesetzmäßigkeiten. Stattdessen hat er komplexe Systeme geschaffen, die nicht im Einklang mit den irdischen Zyklen und Gegebenheiten stehen. Doch unser Wirken ist kaum ein Zeichen unserer Dominanz oder Vormachtstellung. Alle von uns zerstörten natürlichen Bereiche der Erde sind lediglich Kratzer auf ihrer Haut. Dass wir überhaupt hier leben dürfen, haben wir weniger unserer menschlicher Stärke zu verdanken, als dem Einverständnis der Erde. Akzeptieren wir diese Einsicht, so werden wir vielleicht wieder mehr Achtung für die Erde entwickeln, statt in unserem blinden Alltagstreiben den Energiefluss in uns selbst und zwischen der Erde und uns zu blockieren – was wie- derum die Wahrnehmung größerer energetischer Zusammenhänge erschwert.

Wahres Wissen

„Wissen“ bedeutet natürlich nicht, einfach nur an etwas zu glauben. Wissen reicht über das rationale Erkennen hinaus. Es beinhaltet die Ebene des Gefühls, die das Wissen ganzheitlich erfahrbar macht und in uns vergegenwärtigt. Diese Ebene intuitiven Wissens zu erlangen ist unsere langfristige Aufgabe für ein funktionierendes Miteinander auf der Welt. So kommen wir in Einklang mit uns selbst und unserer Umwelt.

Was sich in den Äußerungen der Erde an uns richtet, kann als Impuls aufgefasst werden, der den Kanal für eine Kommunikation öffnet, die von beiden Seiten her funktioniert. Es liegt an uns, diese Möglichkeit des Gesprächs zuzulassen und Raum dafür zu schaffen. Dabei geht es darum, die Erde als ein bewusstes Gegenüber ernst zu nehmen. Und zwar so, dass wir sie verstehen lernen und in unsere Entscheidungen mit einbeziehen.

Mit ihren Aussagen richtet sich die Erde nicht nur an Sten Linnander. Ihre Äußerungen beziehen sich auf die Menschheit als Ganzes. Erhören wir die Stimme von Mutter Erde, so kann die Welt wieder in ihren natürlichen Fluss kommen, denn wir haben ihre Stimme zu lang ignoriert. Wir sollten versuchen, unsere Verbindung wieder bewusst wahrzunehmen, zu spüren, dass wir im Inneren tief mit unserem Heimatplanteten verbunden sind. Diese Verbindung, sowohl kollektiv als auch individuell, ist nicht nur möglich, sondern seitens der Erde zutiefst gewünscht.

Einen konkreten Ansatz dafür lässt die Erde durch Sten Linnander mit den folgenden Worten übermitteln: „Geh nach draußen in die Natur, oder nur in den Park, an einen ruhigen, ungestörten Platz und sprich mit mir! Auf welche Art und Weise auch immer, die dir natürlich in den Sinn kommt!“ Was als Monolog seitens der Erde begonnen hat, könnte so der Auftakt für eine Begegnung auf Augenhöhe sein.

Buch-TIPP
Sten Linnander
Die Erde spricht: Ich bin bei euch!
192 Seiten, € 14,95
ISBN 978-3-890606-27-9
Verlag Neue Erde