Das Gehirn auf Liebe schalten

Liebesbeziehungen sind schön, aber oft kein Leichtes. Da käme eine Bedienungsanleitung für Zwischenmenschliches eigentlich ganz recht. Nicht ganz so simpel und dennoch effektiv verspricht eine neue Methode aus den USA zu sein. Die Devise lautet: Wer verstehen lernt, wie sein Gehirn verkabelt ist, kann es neu verschalten und auf Liebe programmieren!

Würde man eine Strichliste anfertigen, welches Thema die Menschheit seit jeher am meisten, am intensivsten oder am eindringlichsten beschäftigt hat, es wäre ziemlich sicher die Liebe. Ob als rosarote Brille in ihren Kinderschuhen oder als herzzerreißender Schmerz, wenn sie nicht erwidert wird: Kein Gefühl oder Sachverhalt war häufiger Gegenstand von Gedichten, Romanen, Songtexten, Kinofilmen, Kurznachrichten, Opern oder Lebkuchenherz-Aufschriften.

Das durch rote Herzen symbolisierte Empfinden macht vor Logik, Alter und Herkunft keinen Halt. Es überschreitet soziale und nationale Grenzen und nährt fleißig den Kundenkreis von Internetdatingbörsen und Beziehungsratgebern. Und obwohl die Erscheinungsformen der Wege, Liebe zu suchen und zu finden, neu und modern daherkommen, scheint es doch keine grundlegend neuen Erkenntnisse mehr zu geben. Ist über die Liebe bereits alles gesagt?

Ebenso wie bei der Liebe vermutete man auch in der Neuronalforschung, die entscheidenden Entdeckungen bereits gemacht zu haben und sich nur noch auf den Umgang mit ihnen konzentrieren zu müssen. Man ging davon aus, die Landkarte des Gehirns von leeren Stellen weitestgehend befreit zu haben. Doch zu früh gefreut! Wie in den meisten Fällen, wenn man sich zufrieden am Ziel wähnt, hält das Universum noch einen unbeachteten Aspekt bereit, der sämtliche bis dahin eruierten Ergebnisse völlig auf den Kopf stellt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass allerneueste Erkenntnisse der Neurologie nun auch das Konzept von Liebesbeziehungen auf den Kopf stellen könnten.

Bis vor Kurzem war man sich in der neurologischen Forschung über die Konzeption des Gehirns noch weitestgehend einig. Die allgemein gestützte These ging davon aus, dass unsere Nervenbahnen, die bei der Geburt zunächst noch lose sind, in der frühen Kindheit fest angelegt und für unser restliches Leben dauerhaft und unveränderlich verknüpft werden. Sie entstehen durch das Reaktionsschema, das von den Eltern am häufigsten an ihr Kind herangetragen wird. Auf diesen Verbindungen beruhen dann später die grundlegenden und quasi komplett unbewussten Verhaltensmuster in emotionalen Bereichen. Unser Beziehungsschaltplan sozusagen.

Das Gehirn ist lebenslänglich veränderbar

Daher verwundert es nicht, dass Ähnlichkeiten zwischen Eltern und ihren Kindern sich meist nicht auf Äußerlichkeiten beschränken. In den meisten Fällen werden der Umgang und die emotionale Beziehung zur Umwelt adaptiert oder zumindest als individuell modifiziertes Folgeschema weitergeführt. Trotzdem muss die ererbte Gefühlswelt kein unumkehrbares Schicksalslos bleiben. Denn die bahnbrechenden Erkenntnisse mehrerer Studien haben gezeigt, dass das Gehirn lebenslang veränderbar, ausbaubar, anpassungsfähig ist. Sogar die Masse der Gehirnzellen ist, entgegengesetzt der früheren Auffassung der Wissenschaftler, nicht endgültig festgelegt, sondern kann im Verlauf des Lebens noch zunehmen.

Nach den neuesten Erkenntnissen der Hirnforscher hat die Art und Weise der Nutzung des Gehirns einen entscheidenden Einfluss darauf, welche neuronalen Verschaltungen angelegt und stabilisiert oder auch destabilisiert werden. Die innere Struktur und Organisation des Gehirns passt sich also an seine konkrete Benutzung an. Unter dem Begriff Neuroplastizität in die Fachliteratur eingegangen, ebnet uns diese erstaunliche Beschaffenheit unseres Gehirns den Weg, um unseren Verstand eigenständig neu zu programmieren. Bleibt nur noch die Frage, wie genau man diese Strukturen und Netzwerke im Gehirn ändert, die verantwortlich sind für glückliche Beziehungen und die Zufriedenheit mit der eigenen Person.

Neueste Forschungen führender Verhaltensforscher und Neurowissenschaftler einiger renommierter Universitäten wie Harvard, Standford und Cambridge zeigen etwa eine nachweisbare Wechselwirkung zwischen Achtsamkeitspraxis und der Veränderung von bestimmten Gehirnregionen. Interessanterweise handelt es sich bei den durch Meditation angeregt und neu verknüpften Arealen um diejenigen Teile des menschlichen Gehirns, welche man als unsere «Beziehungskiste« bezeichnen könnte. In diesen Bereichen ist alles neuronal gespeichert, woraus wir unser Verhalten für Freundschafts- und Liebesbeziehungen schöpfen.

Marsha Lucas, Psychologin, Neuropsychologin und Buchautorin

Es konnte außerdem nachgewiesen werden, dass in den Gehirnen von Praktizierenden der Achtsamkeitsmeditation neurologische Veränderungen stattfanden, die die Art und Weise, wie die Probanden fühlten, entscheidend beeinflussten. Damit übten sie durch ihre Meditation einen nachhaltigen Einfluss darauf aus, wie sie aktiv fühlten, wie sie mit Gefühlen umgingen und entsprechend in Beziehungen agierten. Besonders erstaunlich war dabei, dass dieses Phänomen nicht erst nach langen Jahren der Übung zu verzeichnen war, sondern bereits in einem sehr frühen Stadium der Praxis auftrat.

Folglich etabliert sich zunehmend ein ganz neuer Ansatz in der Psychotherapie, der sich diese bahnbrechenden Forschungsergebnisse zunutze macht. Eine Pionierin auf diesem Gebiet ist die langjährige Psychologin und Neurowissenschaftlerin Dr. Marsha Lucas. Bereits seit über 20 Jahren erforscht die gebürtige Amerikanerin mittlerweile den Zusammenhang von Psychotherapie, den Verbindungen unseres Gehirns und dem Verhalten in Beziehungen. In ihrer eigenen Praxis kommt Achtsamkeitsmeditation seit langer Zeit mit überzeugenden Resultaten als wertvolles Instrument zum Einsatz. Weil wohl viele ihrer Patienten zunächst etwas befremdlich auf ein meditationsgestütztes Konzept reagierten, greift Dr. Lucas inzwischen gleich zu Beginn einem verklärten Verständnis von Meditation vor. Sie versichert, dass zur täglichen Meditationspraxis weder Räucherstäbchen noch Kerzen oder der vermeintlich obligatorische Schneidersitz von Nöten seien. «Man kann beim Gehen meditieren, beim Essen, im Liegen, selbst beim Geschirrspülen. Haben Sie erst einmal genug Übung, können Sie überall meditieren, bei jeder Tätigkeit.«

Gedankenströme selbst lenken

Lucas erklärt, dass bei der Achtsamkeitspraxis entscheidend sei, seine Gedankenströme selbst zu lenken. Es geht darum, die Betriebsamkeit im eigenen Kopf wahrzunehmen, die in Gestalt von Gedanken und Gefühlen zutage tritt. Sich von diesem Treiben nicht mitreißen zu lassen ist die scheinbar schlichte Aufgabe der Meditation. Die Folge dieser mentalen Konzentration sind neuronale Veränderungen, die sich positiv auf viele Fähigkeiten auswirken, die für die Entwicklung und Erhaltung gesunder, glücklicher Beziehungen am entscheidensten sind. Solche Fähigkeiten sind Merkmale von Menschen mit gesunden Beziehungen und damit ausschlaggebend für unsere zwischenmenschlichen Verhältnisse. Sie demonstrieren die Verbindung zwischen diesen gut belegten Eigenschaften bei Menschen, die mit gesunden, harmonischen Bindungen aufwuchsen, und den Gehirnstrukturen, die sich durch Achtsamkeitsmeditation nachweislich verändern. Ohne deswegen eine breite Handvoll Eltern verteufeln zu wollen, wird damit auf die entscheidende Rolle frühkindlicher Erfahrungen hingewiesen. Schätzungen zufolge sind nur knapp weniger als die Hälfte aller Amerikaner mit überwiegend unsicheren Bindungen aufgewachsen, was also eine Menge von ihnen auch zu diesem Bindungstypen macht.

Wie eine solche unsichere Bindung auch ganz ungewollt entstehen kann, erklärt Dr. Marsha Lucas an einem Beispiel: «Stellen Sie sich vor, ein weinendes Baby zu sein. Ihre Mutter wiegt Sie singend in ihren Armen. Sie ist etwas angespannt und ausgelaugt, weil sie wegen ihnen die letzte Nacht kaum geschlafen hat. Sie fürchtet, auch diese Nacht nicht schlafen zu können, wenn Sie sich nicht beruhigen lassen. Während sie alles versucht, um Sie zu besänftigen, empfindet ihre Mutter auch noch den ganz natürlichen Stress durch ein schreiendes Baby und wünscht sich dringlich, dass sie endlich aufhören zu schreien. Sie denkt vielleicht etwas wie: «Ich bin so kaputt! Ich liebe dich, aber gerade nervst du mich total! Mein Alltag besteht darin ein Baby zu betreuen und nicht mal das bekomme ich hin!«

Entscheidend ist, dass, obwohl die Mutter ihr Bestes gibt, das Kind nur eine ambivalente Information behält. Es denkt noch nicht reflektiert und begreift nur über seine unteren, tiefen Gehirnschichten. Bei ihm verfestigt sich dann allerdings der trügerische Erfahrungsschatz, dass im Arm gehalten zu werden mit Anspannung und Sorge zusammenfällt. Weil es sich dabei um eine gänzlich unbewusste Information handelt, umfasst sie vor allem, was wir uns durch inneres Verständnis angeeignet haben, und führt beispielsweise dazu, dass körperliche Zärtlichkeiten später vermieden werden, weil sie mit einem unsicheren Gefühl der Sorge gekoppelt sind – besonders wenn sich die einstige Erfahrung häufig wiederholte oder sehr intensiv war. Diesem unbewussten Muster unterliegen im weiteren Verlauf unseres Lebens alle zwischenmenschlichen Beziehungen – solange wir unser Gehirn nicht neu «verschalten«. «Die uralte Tradition der achtsamen Meditation, so hat sich herausgestellt, führt wirkliche, messbare Veränderungen in wichtigen Gehirnregionen herbei. Tiefere Verbindungen, ein besseres Liebesleben und gesündere Beziehungen sind damit zum Greifen nah«, schwärmt die neurowissenschaftsverliebte Dr. Lucas. Gerade einmal zwanzig Minuten am Tag müsse man investieren. Und sie fragt weiter: «Was denken Sie? Sind Ihnen Ihre Beziehungen zwanzig Minuten am Tag wert?«

Buch-TIPP
Marsha Lucas
Schalten Sie ihr Gehirn auf Liebe: Erfüllende Beziehungen durch Achtsamkeitsmeditation
220 Seiten, € 16,95
ISBN 978-3-89901-648-2
Verlag J. Kamphausen