Die Zeit ist eine Illusion

Schon immer hat den Menschen dieses Phänomen zum Nachdenken gebracht: Zeit. Als Vergangenheit ist sie wie ein dahinfließender Strom, der alles mitnimmt und unbedeutend werden lässt. Als Zukunft ist sie wie ein großer unbekannter See irgendwo weit oben in den Bergen, der so voll des Potenzials zu sein scheint, dass wir etliche Pfeile unserer Wünsche und Träume dorthin schießen, ohne zu wissen, ob sie je ankommen. Doch sind wir niemals eins mit ihr, der Zeit – weder mit der Vergangenheit noch mit der Zukunft. Irgendwie entwischt sie uns ständig. Der jetzige Augenblick ist der einzige Punkt, an dem wir wirklich auf sie treffen – doch er ist glitschig wie ein Fisch.

»Zeit ist überhaupt nicht kostbar, denn sie ist eine Illusion. Was dir so kostbar erscheint, ist nicht die Zeit, sondern der einzige Punkt, der außerhalb der Zeit liegt: das Jetzt. Das allerdings ist kostbar. Je mehr du dich auf die Zeit konzentrierst, auf Vergangenheit und Zukunft, desto mehr verpasst du das Jetzt, das Kostbarste, was es gibt.« So sieht es Eckhart Tolle, der Weisheitslehrer, der von sich sagt, er habe Erleuchtung erfahren. Wer seine Schriften und Vorträge kennt, mag es ihm gerne glauben.

Der viel gereiste gebürtige Deutsche hat erkannt, dass Zeit nur ein Konstrukt unseres Verstandes ist. Er hat es nicht nur intellektuell erkannt, sondern spürt es stetig, denn die meiste Zeit verweilt er im gegenwärtigen Augenblick.

Wenn man genauer darüber nachdenkt … ist Zeit ohne Denken eigentlich gar nicht erfassbar. Jeglicher Gedanke kann sich nur auf die Zukunft oder Vergangenheit beziehen. Vergleiche, Kausalitäten, Vermutungen, Hoffnungen, Erinnerungen – das sind die Bausteine, aus denen unsere Gedanken gemacht sind, und sie alle sind ohne eine Zeitschiene nicht denkbar. Das Denken selbst scheint ja bereits Zeit zu »verbrauchen«. Vergleiche ich etwa eine Person mit mir, so muss ich mich und die andere Person nacheinander wahrnehmen; die Informationen zu meiner Person rufe ich zudem aus der Erinnerung ab. Ähnlich verhält es sich mit Hoffnungen und Wünschen. Hoffe ich z.B. auf das Eintreffen einer Situation, bin ich nicht im Jetzt, sondern projiziere stetig die imaginierte Situation über die gegenwärtige, die ich am liebsten vermeiden würde. Vergehe ich in Nostalgie, bin ich ebenfalls nicht im Jetzt. Beschäftige ich mich mit Wissen, das auf den Erkenntnissen etlicher Menschen aufbaut, bin ich auch nicht im Hier und Jetzt. Und was ist im Traum? Wenn wir träumen, scheint alles in einer direkter spürbaren Zeit abzulaufen. Wir reagieren spontan und impulsiv auf alles und überlegen nicht lange. Doch selbst im Traum kann sich hin und wieder ein Gedanke einschleichen, der sich auf die Zukunft oder Vergangenheit bezieht. Das Denken bewirkt, dass wir ständig aus dem Jetzt herausgerissen werden, um Altes abzurufen oder die Imaginationskiste anzukurbeln. Das macht Denken aus.

Ohne Zeit kein Ego

Seltsamerweise ist ohne Zeit eigentlich auch keine Persönlichkeit, kein Ego, möglich. Könnten wir nicht auf unsere vergangenen Erfahrungen und Einsichten zurückgreifen, ließe sich unser Selbstbild nicht aufrechterhalten. Vielmehr wären wir völlig im Augenblick – so wie die Tiere, die, ganz präsent in jedem Moment, einfach sind. Sie mögen jetzt sagen, dass doch genau das der rühmliche Unterschied zu den Tieren sei. Doch dann stellt sich die Frage: Sind es nicht gerade der Verstand und die daraus entstandene Persönlichkeit, die uns zu nie zufriedenen Wesen machen? Das menschliche Glück kann zwar auch hohe Wellen schlagen, aber es ist nie von Dauer. Es ist flüchtig – und das macht uns unglücklich. Wie wir es auch drehen und wenden mögen, durch den Verstand erfahren wir kein dauerhaftes Glück.

Aber wir sind ja auch nicht nur unser Verstand. In diesen speziellen atemberaubenden Momenten, in denen die Zeit stillzustehen scheint, spüren wir, dass wir etwas sind, was irgendwie weiter und großherziger ist. In diesem grenzenlosen Raum unseres Bewusstseins lässt sich der Verstand als nur ein kleiner Teil unseres Selbst enttarnen. Tolle sieht dieses Selbstbild als etwas Trügerisches an. »Das falsche, unglückliche Selbst, das in der Identifikation mit dem Verstand begründet ist, lebt von der Zeit. Es weiß genau, dass der gegenwärtige Moment seinen eigenen Tod bedeutet, und fühlt sich natürlich von ihm bedroht. Es wird alles tun, um dich aus ihm herauszuholen. Es wird versuchen, dich in der Zeit gefangen zu halten«, sagt er dazu. Und wenn man einmal versucht hat, willentlich im Moment zu bleiben, ohne zu denken, kann man ihm nur zustimmen.

Eckhart Tolle, spiritueller Lehrer und Buchautor
Alles, was wir im Leben wirklich erleben können, ist der gegenwärtige Augenblick – das Jetzt. Es ist die einzige Konstante im Leben. Alles ist immer nur jetzt. Das ist schwer zu begreifen. Vielleicht, weil der Verstand eben nichts mit dem Jetzt anfangen kann. Doch es ist die Wahrheit: Mehr als das Jetzt gibt es nicht. Da ist nichts. Und wenn Sie in diesem Jetzt so etwas wie Flüchtigkeit erkennen, dann sind Sie schon wieder im Verstand gelandet. Der Geisteszustand, den wir brauchen, um das Jetzt wahrzunehmen, ist die Stille. Wenn die Gedanken verstummen, öffnet sich die Tür zur Gegenwärtigkeit. Plötzlich ist man ganz Wahrnehmung. Die Welt wird zu einem Gefühl.

Die Stille


In der Stille wird es uns zudem möglich, den Verstand zu beobachten. Wir lösen dadurch die Identifikation mit dem Verstand und können erkennen: Wir sind weder der Denker noch unsere Gedanken. Und die aus den Gedanken entstehenden Emotionen wie Angst oder Ärger sind ebenfalls beobachtbar. Es sind Zustände oder Anteile von uns, aber unser ganzes Wesen beinhaltet noch mehr. Wenn wir einfach nur aufmerksam beobachten, haben wir diesen gewissen inneren Abstand. In einem solchen Augenblick sind wir ganz bewusst, ganz Bewusstsein. Und von diesem Bewusstsein sind der Verstand, die Emotionen, Gefühle und die pure Wahrnehmung lediglich Anteile.

»Unsere Aufmerksamkeit ist unsere ursprüngliche Intelligenz«, erklärt Tolle. Sie sei reines Bewusstsein und löse die Schranken auf, die das begriffliche Denken geschaffen habe. Damit zugleich kommt die Erkenntnis, dass nichts für sich und aus sich allein existiert. In der reinen Wahrnehmung scheint alles ineinander eingebettet und voneinander abhängig. Alles ist auf irgendeine Weise gleich wichtig oder unwichtig. Ohne das verstandesmäßige Vergleichen und Bewerten trennt uns nichts mehr von irgendetwas. Alles hat seine Daseinsberechtigung und wir akzeptieren ohne Wenn und Aber, was ist. Im Zustand des Denkens hingegen führt uns das viele Wenn und Aber in einen inneren Widerstand, zu Disharmonie. Besonders das ziellose Herumdenken – gekoppelt mit Emotionen – bewirkt viel Widerstand. Das gezielte analytische Denken zur Lösung von Aufgaben ist hier weniger gemeint. Der Verstand ist in letzterem Fall ein nützliches Werkzeug, aber im ersten Fall ganz schön einengend.

»Dem Leben keinen Widerstand entgegenzusetzen bedeutet, in einem Zustand von Gnade, Mühelosigkeit und Leichtigkeit zu sein. Dieser Zustand ist nicht davon abhängig, dass alles auf bestimmte Art und Weise läuft.« (E. Tolle)

Doch warum ist es so schwer, in der Stille zu bleiben? Jeder, der schon einmal zu meditieren begonnen hat, weiß, wie hartnäckig Gedanken sein können. Der Strom der Gedanken hat eine enorme Kraft, die den Verstand immer aufs Neue in alle Richtungen mitreißen kann. Jeder Gedanke scheint dabei wichtig zu sein und buhlt um unsere Aufmerksamkeit. Die Stille entfleucht uns derweil immer wieder vom Radar.

Völlige Konzentration

Um zu mehr Gewahrsein und Stille zu gelangen, kann man neben der Beobachtung der Gedanken auch die Aufmerksamkeit auf den Körper oder auf das Tun lenken. Sich völlig auf eine Tätigkeit, auf jeden kleinen Schritt dabei zu konzentrieren, kann die Stille magisch anziehen. Ebenso wirkt die Konzentration auf den Körper. Das feine Erspüren des Körpers und der darin auf- und abtauchenden Emotionen und Empfindungen kann ein ganz neues Wahrnehmungsuniversum eröffnen. All dies sollte stets ohne Beurteilungen geschehen. Überhaupt seien Emotionen ehrlicher als Gedanken, so Eckhart Tolle. »Emotionen sind die Reaktion des Körpers auf Gedanken«, erläutert er. Sie zu fühlen, statt zu unterdrücken, bringt uns unserem wahren Selbst näher. Der Kopf kann uns häufig in die Irre führen, die Emotionen nicht, weil sie immer perfekt spiegeln, was in uns vorgeht. »Der Gedanke ist die Lüge, die Emotion die Wahrheit«, so drastisch drückt es Tolle aus. Zumindest sei dies die relative Wahrheit über unseren Geisteszustand – nicht aber darüber, wer wir in Wahrheit seien.

Ein weiterer Aspekt unseres – wie wir gemerkt haben – vielumfassenden Selbst ist das, was Eckhart Tolle »Schmerzkörper« nennt. Wenn wir noch keinen Zugang zur Gegenwart haben, bleiben emotionale Verletzungen in Verstand und Körper gespeichert. Diese Ansammlung von altem und neuem Schmerz stellt ein negatives Energiefeld, den Schmerzkörper, dar. Damit dieser nicht zu viel unserer Aufmerksamkeitsenergie verschlingt, ist es ratsam, aufkommende Emotionen und leichte Verstimmungen sofort zu beobachten. »Der Schmerzkörper lebt von jeder Erfahrung, die mit seiner eigenen Art von Energie mitschwingt: Wut, Zerstörung, Hass, Trauer, Drama, Gewalt und sogar Krankheit. Sobald er Macht über dich hat, wird er Situationen in deinem Leben erschaffen, die ihm seine eigene Energiefrequenz zurückgeben, damit er sich davon ernähren kann.« Tolle beschreibt diesen Prozess als Teufelskreis, bei dem man immer wieder den Schmerz sucht – als Täter oder Opfer. Nur das direkte Wahrnehmen des Schmerzkörpers kann die Identifikation mit ihm brechen.

Übung von Eckhart Tolle:
Achte auf Pausen – die Pause zwischen zwei Gedanken, die kurze Pause zwischen den Worten eines Gesprächs, zwischen den Tönen beim Klavier- oder Flötenspiel, auf die Pause zwischen Ein- und Ausatmen. Wenn du diesen Pausen Aufmerksamkeit schenkst, wird aus dem Gewahrsein von »etwas« einfach Gewahrsein. Die gestaltlose Dimension reinen Gewahrseins steigt in dir auf und tritt an die Stelle der Identifikation mit Form. Jedes Mal, wenn wir es schaffen, eine Lücke zwischen dem Strömen der Gedanken einzuschleusen, wird unsere Bewusstheit stärker.

Auch wenn die Stille uns anfangs immer wieder entschlüpfen mag wie ein glitschiger Fisch, kann das phasenweise innere Beobachten doch bereits wahre Wunder wirken. Man erkennt die Mecha- nismen, nach denen das ewige Hin und Her der persönlichen Gedankenspiele funktioniert. Und man merkt, dass man vieles eigentlich auch ganz anders sehen kann, wenn man seine Prägung nur ein wenig außer Acht lässt. Im Grunde ist alles eine Interpretation, eine von vielen möglichen Betrachtungsweisen, die nur davon abhängt, was wir als unsere Persönlichkeit – diese Ansammlung von Erfahrungen und Meinungen anderer über uns – betrachten. Es entstehen Leid und Unglück, wenn wir jeden Gedanken, der uns durch den Kopf geht, für wahr halten. Situationen mögen physische Schmerzen verursachen, aber sie machen nicht an sich unglücklich. Die Gedanken dazu tun dies. Befinden wir uns in solch einer negativen gedanklichen Endlosschleife, rät Tolle: »Wenn du dein Hier und Jetzt unerträglich findest und es dich unglücklich macht, dann gibt es drei Möglichkeiten: Verlasse die Situation, verändere sie oder akzeptiere sie ganz. Wenn du Verantwortung für dein Leben übernehmen willst, dann musst du eine dieser drei Möglichkeiten wählen, und du musst die Wahl jetzt treffen.«