Douglas E. Harding (1909–2007) war ein britischer Philosoph und Mystiker. Er entdeckte einen modernen, experimentellen Weg zur Beantwortung der Frage »Wer bin ich?«. Sein »Kopfloser Weg« nutzt die phänomenologisch-wissenschaftliche Beobachtungsmethode, um zur eigenen zentralen Identität zu finden. Zugleich ist dies auch ein Weg, zum »Sehen« der großen Mystiker dieser Welt zu gelangen und deren Behauptung zu überprüfen, unsere wahre Identität sei Gott, die Buddha-Natur, das eine Selbst in allen Wesen.
Der beste Tag meines Lebens – mein Wiedergeburtstag sozusagen – war, als ich herausfand, dass ich keinen Kopf habe.« Mit diesem Satz, der ausdrücklich nicht als literarischer Schachzug gedacht ist, beginnt Douglas E. Harding sein außergewöhnliches Buch »Die Entdeckung der Kopflosigkeit« – und er meint es durchaus ernst: »Ich habe keinen Kopf«, betont er.
»Aber auf dem Portraitbild (siehe Ende des Beitrags) ist er doch deutlich zu sehen, der Kopf von Harding«, mögen Sie zurecht verwundert einwenden – »was soll also das ganze Gerede von ‚Kopflosigkeit‘?« Um es kurz zu fassen: Es geht um Hardings Erkenntnis, dass er aus seiner Sicht, aus der phänomenologischen Perspektive unmittelbar gegebener Wahrnehmung keinen Kopf hat. Aber lassen wir ihn das am besten selbst erklären: »Ich machte diese Entdeckung, als ich 33 Jahre alt war. Obwohl sie aus heiterem Himmel kam, war sie die Antwort auf eine drängende Fragestellung. Seit mehreren Monaten war ich ganz durchdrungen von der Frage: WAS bin ich? Die Tatsache, dass ich zu dieser Zeit zufällig durch den Himalaya wanderte, hatte wahrscheinlich wenig damit zu tun, obwohl in diesem Land ungewöhnliche Bewusstseinszustände ja leichter auftreten sollen.
Die Neugeburt
Wie auch immer, dieser sehr stille, klare Tag und der Blick von dem Bergrücken, auf dem ich stand, über diesige blaue Täler bis hin zu den höchsten Bergen der Welt, bildete die perfekte Kulisse für die großartigste Schau. Was tatsächlich passierte, war etwas absurd Einfaches und Unspektakuläres: Ich hörte nur einen Augenblick lang auf zu denken. Verstand und Vorstellung sowie das Geplapper der Gedanken erstarben. Ausnahmsweise mal versagten mir wirklich die Worte. Ich vergaß meinen Namen, mein Menschsein, meine Dinghaftigkeit, alles, was ich oder mein genannt werden könnte. Vergangenheit und Zukunft fielen weg. Es war, als wäre ich in diesem Moment geboren worden, nagelneu, ohne Verstand, frei von jeder Erinnerung. Es existierte nur das Jetzt, der gegenwärtige Moment und das, was eindeutig gegeben war. Zu schauen war genug. Und was ich erblicken konnte, waren khakifarbene Hosenbeine, die unten in einem Paar brauner Schuhe endeten, khakifarbene Ärmel, die an den Seiten in einem Paar rosafarbener Hände endeten, und eine khakifarbene Hemdbrust,die oben auslief in – absolut nichts! Mit Sicherheit nicht in so etwas wie einen Kopf.
»Enthaupte dich selbst! … Löse deinen ganzen Körper in der Schau auf: werde sehend, sehend, sehend!«
Dschalaladdin Rumi
Im selben Moment wurde mir klar, dass dieses Nichts, dieses Loch, wo ein Kopf hätte sein sollen, keine gewöhnliche Leere, kein bloßes Nichts war. Im Gegenteil, es war zur Gänze ausgefüllt. Es war eine unermessliche Leere, unermesslich erfüllt, ein Nichts, das Raum bot für alles – Raum für Gras, Bäume, schattige ferne Hügel und weit über ihnen schneebedeckte Berggipfel, die wie eine Reihe kantiger Wolken über den blauen Himmel zogen. Ich hatte einen Kopf verloren und eine ganze Welt gewonnen.«
Die Offenbarung
Für Hardings Erweckungserlebnis gibt es in verschiedenen spirituellen Traditionen unterschiedliche Namen: in der abendländischen Überlieferung ist es die Mystische Schau oder die unio mystica, in östlichen Traditionen ist es die Erleuchtung und das Satori im Zen – eine Erfahrung des Einsseins, in der es nicht länger einen Beobachter und ein beobachtetes Objekt gibt. Alles ist eins im einzigen Sein, das uns wirklich unmittelbar gegeben ist: im Bewusstsein. Und für Harding war es eben jene »Kopflosigkeit«, die vor allem anderen für diese Erfahrung kennzeichnend war und mit der er jene »Offenbarung des absolut Offensichtlichen« umschrieb.
Als er an seinem Körper herabschaute, fiel ihm auf, dass er seinen Kopf nicht sehen konnte. Er erkannte, dass er aus seiner Perspektive kopflos war. Er schaute nicht aus zwei Augen heraus, sondern aus einem einzigen Auge – aus einer grenzenlosen Offenheit, die alle Dinge enthielt. Hier war, klar erkennbar, das zeitlose Zentrum all seiner Schichten, sein unveränderlicher Kern. Auf so einfache, unmittelbare Weise hatte Harding den Schatz gefunden, nach dem er gesucht hatte, und diese Erfahrung sollte ihn den Rest seines langen Lebens beschäftigen.
Jeder kann es erleben
Harding kultivierte den Zustand der Kopflosigkeit, hinterfragte ihn wissenschaftlich und vor allem auch phänomenologisch, bis er sich ganz sicher war, keiner fixen Idee aufgesessen zu sein. Seine Erkenntnisse legte er dann zum ersten Mal im Jahr 1961 in der Urfassung von »Die Entdeckung der Kopflosigkeit« vor, die er 1986, nach mehr als 40 Jahren Erfahrung mit dem kopflosen Zustand, um ein weiteres Kapitel ergänzte, in dem es u.a. um die Verbreitung jener Erfahrung geht. Denn jedem steht dieser Zustand jederzeit offen – all das, was wir dazu brauchen, ist eine offene Wahrnehmung, ein wacher Geist. Mit ein paar einfachen Experimenten kann man sehr schnell dorthin gelangen, wohin Harding sein Erleuchtungserlebnis führte.
Letztlich muss man laut Harding nichts weiter tun, als den Richtungspfeil unserer Aufmerksamkeit für einen Moment umzukehren und so von unserer gewohnten Blickrichtung nach außen zur Innenschau zu gelangen. Etwas, das jeder hierfür offene Leser sofort ausprobieren kann (wichtig ist, dass Sie diese einfache Übung wirklich machen, weil Sie sonst im weiteren nur schwer verstehen werden, worüber geredet wird!):
- Das, auf was Sie jetzt schauen, ist der hier gedruckte Text. Aus was Sie jetzt herausschauen, ist leerer Raum für das hier Gedruckte. Wenn Sie Ihren Kopf dagegen eintauschen, stellen Sie dem nichts in den Weg: Sie verschwinden zu seinen Gunsten.
- Das, woraus Sie jetzt herausschauen, sind nicht zwei kleine und festsitzende »Fenster«, die Augen genannt werden, sondern es ist ein riesiges und weit geöffnetes »Fenster« ohne jeden Rand. In Wirklichkeit sind
Sie dieses rahmenlose, glaslose »Fenster«. - Um sich davon zu überzeugen, brauchen Sie nur auf das eine »Fenster« zu zeigen und festzustellen, auf was – wenn überhaupt auf irgendwas – dieser Finger zeigt. Bitte machen Sie genau das, jetzt …«
»Ich finde hier, wohin mein Finger zeigt, da wo andere mein Gesicht sehen, keine Farbe oder Form«, sagt der Harding-Schüler Richard Lang, der dieselbe Übung auch auf seiner Website www. headless.org präsentiert. »Ich finde einen offenen Raum, eine grenzenlose Kapazität und Bewusstheit. Diese offene Kapazität ist leer, klar und transparent. Sie ist still, wach und bewusst. Zugleich ist sie gefüllt mit all den Erscheinungen der Welt: meinem Finger, der Szenerie dahinter, Geräuschen, Körperempfindungen, Gefühlen etc. Jetzt sehe ich, wer ich wirklich bin. Ich sehe das grenzenlose Eine in meinem tiefsten Inneren, das All-Eine, in dem die Welt sich abspielt.«
»Die Törichten lehnen das ab, was sie sehen, und nicht das, was sie denken; die Weisen lehnen das ab, was sie denken, und nicht das, was sie sehen … Nimm die Dinge wahr, wie sie sind, und kümmere dich nicht um andere Leute.«
Huang-po (9. Jh.)
Was sehen Sie?
Was sehen Sie? Schauen auch Sie heraus aus diesem weit offenen, alles umfassenden, kristallklaren Bewusstsein? Wenn ja, sind Sie im »kopflosen« Zustand angekommen und somit »nach Hause zurückgekehrt«. Es war wirklich einfach, richtig? Harding warnt allerdings davor, die Erfahrung aufgrund ihrer leichten Reproduzierbarkeit und Schlichtheit zu unterschätzen und schreibt: »Eigentlich werden ihre immense Tiefe und spirituelle Kraft beinahe immer übersehen, zumindest anfangs. Wie, so wird dagegengehalten, sollte denn eine so preisgünstig (tatsächlich sogar gratis) erhältliche Erkenntnis bloß so wertvoll sein können?«
Es ist auch kaum verwunderlich, wenn Sie diese Erfahrung nicht unter die Rubrik »spirituelle Gipfelerfahrungen« verbuchen – sie kann tatsächlich ausgesprochen trist daherkommen.
Doch gerade die Tatsache, dass diese Erfahrung oft als »nicht-religiös« und »emotionslos«, als »kalter wissenschaftlicher Beweis oder Tatbestand«, als »nüchtern und ohne besonderen Zauber« erlebt wird, beweist laut Harding ihre Echtheit.
Harding wusste allerdings aus langjähriger Erfahrung, dass die meisten Interessierten es bei dem einen Experiment belassen. »Für sie ist es (falls überhaupt) kaum mehr als ein interessantes Erlebnis, eine ungewöhnliche Art, die Dinge zu betrachten, oder auch nur ein harmloser Spaß, eine nette Art Kinderspiel, auf jeden Fall aber ohne Bedeutung für das Alltagsleben. Es ist nichts, was vertieft, wiederholt oder sorgfältig untersucht wird, und sicherlich nichts, was geübt wird. Und so hat es tatsächlich überhaupt keine Wirkung.«
Daher gilt es, diese Erfahrung zu kultivieren, sie immer wieder zu untersuchen, zu vertiefen, um ständig so zu sehen wie ein Mystiker und zu erkennen, dass es kein Drinnen und Draußen, kein Hier und Dort, sondern nur eine einzige, untrennbare Bewusstheit gibt. Ob wir diese nun »göttlich« nennen oder als »trivial« empfinden, macht dabei keinerlei Unterschied.
Über Skype-Konferenzen können sich Interessierte aus aller Welt über ihre Erfahrungen mit der Kopflosigkeit austauschen.
Die Entdeckung der Kopflosigkeit
Einfach sehen wer ich wirklich bin
144 Seiten, € 14,95
ISBN: 978-3-930243-68-6
Omega Verlag