Mors certa, hora incerta (»Der Tod ist gewiss, die Stunde nicht«) wussten schon die alten Römer, und doch scheint der Tod, wie Walter Benjamin einst so treffend schrieb, die einzig »radikale Neuigkeit« für den modernen Menschen zu sein. Die meisten verdrängen die Gewissheit ihrer eigenen Sterblichkeit oder trösten sich mit Vorstellungen eines besseren Jenseits, eines ewigen Lebens oder mit Lehren von Seelenwanderung und Wiedergeburt. Die wenigsten nutzen das Wissen um ihren unausweichlichen Tod aktiv, um frei und glücklich zu leben.
Als ich das erste mal starb, war ich 15 Jahre alt. Ich befand mich in einer Klinik mit der Diagnose »Non-Hodgkin Lymphom« im finalen Stadium, einer sogenannten »Kinderkrebserkrankung«, der mit Bestrahlung und Polychemotherapie radikal auf den Leib gerückt wurde. Diese Therapieform ist heute gängig und bei Kindern recht erfolgreich, befand sich damals allerdings noch in der Versuchsphase. Bei einer dieser Behandlungen kam es zu einem anaphylaktischen Schock: Wenige Augenblicke nachdem die ersten Tropfen des Zytostatikums via Infusion in meinen Körper flossen, spürte ich, wie meine Zunge und mein Hals anschwollen – ich konnte gerade noch ein schwaches »Hilfe!« hinauspressen.
Mein Zustand war elend – physische Todesangst mischte sich mit wirren Gedanken, während meine Augen auf die Zimmertür starrten, hoffend, dass jeden Moment Hilfe eintreffen würde. Doch niemand hörte mich, meine Stimme war einfach zu schwach und meine Hände inzwischen zu stark angeschwollen, um den Klingelknopf zu drücken. Akute Atemnot und unerträgliche Schmerzen im Brustkorb kamen hinzu – bis plötzlich etwas Unerwartetes geschah: Entgegen meiner Erwartung wurde ich nicht ohnmächtig, sondern »etwas«, vielleicht mein Bewusstsein, verließ den Körper. Auf jeden Fall beobachtete dieses »Etwas«, von dem ich nicht sagen kann, dass »Ich« es war, die ganze Szenerie von oben – mit einigem Erstaunen, aber völlig frei von Angst und Schmerz.
Die Alarmklingeln schrillten, als die Apparate, die vorsorglich an den Körper angeschlossen waren, keinen Puls mehr registrierten. Eine Ärztin und zwei Krankenschwestern stürzten in den Raum und wirkten ratlos – jedenfalls übersahen sie, dass für diesen Fall bereits Adrenalin und Kortison auf dem Stuhl neben dem Krankenbett platziert waren. Hektisch checkten sie den nicht mehr messbaren Blutdruck und redeten unentwegt, bis Minuten später ein Notfallteam eintraf und ein erfahrener Professor dem leblos daliegenden Körper eine Adrenalinspritze ins Herz rammte.
Augenblicklich wurde das »Etwas«, das all dies fasziniert und zugleich mitleidslos beobachtet hatte, in den Körper zurückgesogen. Ich war wieder »Ich«, in meinem von Angst und Schmerz geprägten Elendsbewusstsein. Und fast hätte ich diese Episode rasch verdrängt, wäre da nicht eine der beteiligten Krankenschwestern gewesen, die später mit mir über den Vorfall sprach und sich wunderte, das ich alle Details mitbekommen hatte, obschon ich, wenn nicht für einen Moment klinisch tot, so doch zumindest bewusstlos gewesen hätte sein sollen.
Meine Neugier war geweckt und ich versuchte, mit verschiedenen Leuten – Angehörigen, Ärzten und Klinikpersonal – darüber zu reden, mit bescheidenem Erfolg. Man riet mir, nicht an den Tod zu denken, das Geschehene zu vergessen und hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen. Dabei war ich gar nicht hoffnungslos! Und ich hatte Glück, denn wenig später traf ich eine Schwesternhelferin, mit der ich offen über Sterben und Nahtoderlebnisse, wie ich eines gehabt hatte, reden konnte.
Für diese Gespräche bin ich ihr bis heute dankbar, genauso wie dafür, dass sie mir ein Buch des Biologen Lyall Watson, »Geheimes Wissen – Das Natürliche des Übernatürlichen«, mitbrachte. Durch Watson stieß ich auf die Werke von Carlos Castaneda, las in der Klinik seine »Reise nach Ixtlan«, praktizierte einige der dort beschriebenen Übungen und fühlte mich nach langer Zeit wieder so richtig lebendig. Besonders beeindruckend fand ich das »Träumen«, bei dem man im Traum bewusst wird – damit erlebte ich willentlich zum ersten Mal einen ähnlichen außerkörperlichen Zustand wie in meiner Nahtoderfahrung.
Der Tod ist ein Ratgeber
»Carlos Castaneda, ist das nicht der, bei dem einem ständig der Tod über die Schulter schaut?«, meinte der Klinik-Psychologe besorgt, als ich ihm von meinen Erfahrungen erzählte. »Das ist nichts für sie – und das mit den Träumen bilden sie sich bloß ein. Es hat nichts zu bedeuten.« Der gute Mann meinte es sicher nicht böse, hatte aber offenbar keine Ahnung, wovon er sprach. Konkrete Erfahrungen ins Reich der Fantasie zu verbannen, mochte ihm helfen, seine heile Welt, seine »Realität«, aufrechtzuerhalten, doch ich hatte längst andere Welten betreten, die sich nicht so einfach hinwegerklären ließen.
In einem hatte der Psychologe allerdings recht: Der Tod spielt in Castanedas Werk und in den Lehren seines Mentors Don Juan Matus, einem alten mexikanischen Schamanen, eine große Rolle. »Der Tod ist unser ewiger Begleiter«, erklärt Don Juan seinem Schüler in »Die Reise nach Ixtlan«. »Er ist stets zu unserer Linken, eine Armeslänge entfernt. … Er hat dich immer beobachtet. Er wird es immer tun, bis zu dem Tag, an dem er dich anrührt.«
»Death is there to keep us honest, and constantly remind us we are free.«
Dan Fogelberg, Ghosts
Das mag wie eine düstere Metapher klingen oder wie ein mittelalterliches Memento mori. Mit Letzterem führten sich die katholischen Mönche nach dem Ende des »Dunklen Jahrhunderts« mit ihrem »Bedenke, dass du sterben musst« die Vergänglichkeit allen irdischen Lebens (Vanitas) vor Augen, was sie in ihren asketischen Bemühungen antrieb und zu einer Art geistigen Reinigung führen sollte – eine Vorbedingung für den Eintritt ins himmlische Paradies nach dem Tode. Und so wurde es zum Vorläufer des benediktinischen Ora et labora (»Bete und arbeite«), das die folgenden Jahrhunderte bis in die heutige Zeit prägen sollte.
Für die mexikanischen Schamanen aus der Linie des Don Juan ist es hingegen gar keine Metapher, sondern eine konkretes Phänomen. Der Tod sendet uns ab und zu Nachrichten, zum Beispiel in Form des wohl jedem bekannten Schauers, der uns in manchen Momenten eiskalt über den Rücken läuft. Ihnen zufolge kann man mit dem Tod sogar kommunizieren und ihn um Rat fragen. Sie sagen, er ist ein besserer Ratgeber als unsere Angst oder gar als unser Verstand, denn der Tod ist absolut unvoreingenommen, weil er am Ende ohnehin zum Zuge kommen wird.
Diese Methode hat mir damals vor mehr als 30 Jahren in der Klinik sehr geholfen, weil der Tod mir ganz klar auf meine Fragen antwortete und mir sagte, dass er nicht die Krankheit war, unter der ich litt. Es sei ohnehin falsch, irgendeine Krankheit mit dem Tod zu identifizieren. »Ich habe dich noch nicht berührt,« sagte er. »Und nur meine Berührung zählt.«
Der Tod ist für die mexikanischen Schamanen kein moralinsaurer Spaßverderber, der uns sagt, was wir zu tun oder zu lassen haben. Genauso wenig möchte er uns jedoch zu hedonistischen Ekzessen treiben. Die Schamanen nutzen das Wissen um seine ständige Präsenz und die Kommunikation mit ihm auf vielfältige Weise, zum Beispiel, um sich der Verantwortung für das eigene Leben bewusst zu werden und entsprechend zu leben. Er ist für sie auch ein Antriebsmotor, das Leben und all seine Gegebenheiten als Herausforderung anzunehmen und stets sein Bestes zu geben – der Kern des sogenannten »Kriegergeistes«, der alle Handlungen als seine »letzte Schlacht auf Erden« ausführt. Da bleibt kein Platz für Zweifel und Zaudern, für Sorgen oder Befindlichkeiten. Die Bewusstheit unserer eigenen Vergänglichkeit befreit uns von alledem.
In diesem Geist nahm ich damals den Kampf gegen die Krankheit auf und habe sie besiegt, mithilfe des Todes und im vollen Bewusstsein meiner eigenen Sterblichkeit. Der Tod ist nicht der Feind des Lebens, sondern untrennbarer Teil derselben Kraft, die uns am Leben erhält.
Frei im Jetzt leben
Gerade wir als durch unsere Geschichte geprägte Europäer in christlicher Tradition müssen jedoch aufpassen, die Beschäftigung mit dem Tod nicht zu etwas Schwerem oder Morbidem werden zu lassen. Nehmen wir uns ein Beispiel an den Mexikanern, die den Dios de los Muertos, den »Tag der Toten«, vom 31. Oktober (Haloween) bis zum 2. November (Allerseelen) ausgiebig in Form eines farbenprächtigen Volksfestes feiern, das sowohl auf den Straßen als auch auf den Friedhöfen stattfindet. Totenschädel aus Zucker und Schokolade gehören für die Mexikaner genauso zu diesem Fest wie zahllose Blumen, die den Toten den Weg zu den Lebenden und den Lebenden den Weg zu den Toten zeigen. Man feiert den Tod als untrennbaren Bestandteil des Lebens und fürchtet ihn nicht als sein Ende.
Dazu gehört es, sich selbst und sein Tun nicht allzu wichtig zu nehmen. Im Bewusstsein des Todes fällt es leichter, den Ballast des Alltags hinter sich zu lassen. Tatsächlich ist das Wissen um unsere eigene Vergänglichkeit das beste Heilmittel gegen unsere Hybris, die unser Herz und unser Leben schwer macht, weil wir ständig etwas zu verteidigen und zu bewahren haben.
Wenn wir in unserer eigenen Tradition etwas Ähnliches wie die mexikanische Leichtigkeit am Tag der Toten suchen, müssen wir in die vorchristliche Zeit zurückgehen, zum Beispiel zum römischen Dichter Horaz, der mit seinem Carpe diem (wörtlich übersetzt: »Pflücke den Tag«) für einen Umgang mit unserer eigenen Sterblichkeit plädiert, die dem »Tod als Ratgeber« der mexikanischen Schamanen recht nahekommt. Die gängige Übersetzung als »Nutze den Tag« trifft die Sache jedoch nicht ganz und enthält zu viel benediktinische oder auch pietistische Frömmigkeit, die zu Mühsal und Arbeit aufruft, um ein »gottgefälliges« Leben zu führen, für das man im Jenseits belohnt wird. »Genieße den Tag« trifft es schon besser, wenn auch damit nicht ein ständiges Fest mit Pauken und Trompeten gemeint ist.
Wörtlich schreibt Horaz in der betreffenden Ode: »Noch während wir hier reden, ist uns bereits die missgünstige Zeit entflohen: Pflücke den Tag, und vertraue möglichst wenig auf den folgenden!« Tatsächlich geht es also nicht nur um eine Einstellung zum Leben, sondern auch um einen durch die Erkenntnis der Vergänglichkeit bedingten neuen Umgang mit der Zeit: Was wir erleben, ist stets Gegenwart, ein ewiges Jetzt. Für unsere unmittelbare Wahrnehmung gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft: Es ist stets heute, stets jetzt, und nur in diesem Jetzt können und müssen mir handeln – oder eben nicht handeln. Beides ist im Angesichte unsere Vergänglichkeit gleich wichtig oder unwichtig, denn wir sind frei, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Jetzt ist der Augenblick, unser Leben zu leben, es zu feiern, es zu genießen und – wie die mexikanischen Schamanen sagen – unsere Augen an der Welt zu laben. Tatsächlich ist der Moment stets das Einzige, dessen wir uns gewiss sein können. Carpe diem!
Das Wissen der Tolteken –
Carlos Castaneda und die Philosophie des Don Juan
324 Seiten, € 14,90
ISBN: 978-3-86264-265-6
Hans Nietsch Verlag
Carlos Castaneda und das Vermächtnis des Don Juan
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