»Wir brauchen weder ein Kloster noch ein ›stilles Kämmerlein‹ oder eine Waldeinsamkeit für eine kraftvolle spirituelle Praxis«, sagt Zen-Meister Zensho W. Kopp und spitzt noch zu: »Mitten auf einem Rummelplatz und in der schönen Natur offenbart sich das Tao. Mitten auf einer Kreuzung zur Hauptverkehrszeit, wenn viele Autos mit großem Lärm durch die Gegend rasen, genau dort ist es gegenwärtig – natürlich auch im Wald und in der Stille. In jeder Erscheinungsweise des täglichen Lebens begegnet uns das allem zugrunde liegende und somit allgegenwärtige Tao, wir müssen uns nur darauf einlassen. Wir brauchen uns keine besonderen Gelegenheiten oder Orte der Stille herbeizusehnen.«
Gerade in heutiger Zeit suchen immer mehr Menschen einen spirituellen Weg, der frei von religiösen Dogmen und komplizierter Philosophie ist. Sie suchen einen ganzheitlichen Weg, den sie im normalen täglichen Leben praktizieren können. »Genau diesem Bedürfnis nach einem spirituellen Leben mitten im Alltag wird das lebendige, ursprüngliche Zen gerecht: Hier wird der Alltag selbst mit der Erledigung all der täglichen Pflichten zum wahren Ort der Übung.« So betont Zensho, einer der bedeutendsten Zen-Meister der Gegenwart, der im Wiesbadener Zen-Zentrum Tao-Chan eine große Gemeinschaft von Schülern unterrichtet. Aber wie geht nun diese Praxis im Alltag?
»Gewöhne dich daran, den Geist ständig zu betrachten. Wenn du darin geübt bist, deinen Geist im absichtslosen Gewahrsein zu betrachten, so dass Objekte und Geist nicht voneinander getrennt sind, erfährst du das nicht-dualistische, ursprüngliche Bewusstsein«, so heißt es in einem alten buddhistischen Text, dem »Juwelenschmuck der Befreiung«, aus dem 12. Jahrhundert. Das klingt super, aber sind wir jetzt schon schlauer?
Zen-Meister Zensho macht es für uns heutige Menschen klarer: »Der Wahrnehmende, der Wahrnehmungsprozess und das Wahrgenommene, alles ist eine einzige Wirklichkeit. Alles, was wir wahrnehmen, sind nur Wellen unseres eigenen Geistes und demzufolge der Geist selbst. Nichts kommt von außerhalb des Geistes. Wenn man meint, etwas von außen wahrzunehmen, bedeutet dies nur, dass es in unserem Bewusstsein erscheint.« Wie aber komme ich dahin?
Freilich muss auch das anfangs geübt werden und dafür gibt es die Zen-Meditation: »Während der Zen-Meditation, dem Zazen, üben wir, den Geist im absichtslosen Gewahrsein verweilen zu lassen. Dies geschieht ohne Anstrengung, denn wahre Zen-Meditation ist kein Tun …«, so Zensho. »Wenn sich während der Meditation die Wellen des Denkens erheben, dann soll man ihnen keine Beachtung schenken. Lassen wir die Gedanken einfach nur vorbeiziehen wie Wolken am Himmel. Fangen wir nicht an zu analysieren, wo sie herkommen und wo sie hingehen, und versuchen wir nicht, das Denken zu verdrängen.« Aber womit beginne ich dabei?
Das Gewahrsein des Geistes hängt wesentlich mit der richtigen Atmung während der Meditation zusammen, erklärt Zensho. »Denn Körper, Atem und Geist bilden eine untrennbare Einheit. Ist die Atmung flach und ohne Stabilität, dann ist der Geist ebenso instabil und somit unruhig. Doch ist die Atmung ruhig, dann ist auch der Geist ruhig und klar.« Die Zen-Atmung ist ein tiefes, ruhiges Atmen, bei dem der Schwerpunkt im Unterbauch liegt. »In diesem Bereich, der im Zen ›Hara‹ genannt wird, erfahren wir beim Zazen ein Gefühl der Stabilität und Energieansammlung. Viele machen bei ihrem Bemühen, den Hara zu fühlen, jedoch den Fehler, den Atem mit Anstrengung nach unten zu pressen und so Druck auf ihren Unterbauch auszuüben. Dies ist aber vollkommen falsch und führt nur zu psychisch-physischen Verspannungen. Eine ruhige Atmung im Einklang von Körper, Atem und Geist setzt voraus, dass wir den Atem beobachten, indem wir uns bewusst auf ihn konzentrieren. Es geht bei der Zen-Atmung aber letztlich darum, dass wir in der fortlaufenden Übung einen Zustand erreichen, in dem man ›vergisst‹, sich des Atems bewusst zu sein.« Aber ist das schon eine spirituelle Praxis?
»Das grundlegend Wesentliche in der Praxis der Zen-Meditation ist – die richtige ›Geisteshaltung‹: Diese ist Achtsamkeit, verbunden mit Anstrengungslosigkeit und Absichtslosigkeit. Das heißt: Es gibt nichts weiter zu tun, als den Geist natürlich zu lassen. Seien wir bei unserer Meditation also gelöst, entspannt und zugleich hellklar bewusst und achtsam«, so erläutert Zen-Meister Zensho und sagt weiter: »Dieses achtsame Gewahrsein des Geistes, das ohne Gedanken auskommt, bedeutet aber nicht, den Geist zu kontrollieren, denn das wäre Zwang und entgegen jeder buddhistischen Praxis. Das Gewahrsein des Geistes bedeutet vielmehr, dass wir in gelöster, entspann-ter Geisteshaltung bei uns selbst verweilen und in ruhiger, heiterer Gelassenheit auf den eigenen Geist schauen.« Und wohin führt das?
»Du musst nicht das Tätigsein in der Welt aufgeben, um das mühelose Gewahrsein des Geistes zu erlangen. Wisse, dass weltliches Tätigsein und müheloses Gewahrsein nicht zwei verschiedene Dinge sind – nur wenn du an Zurückweisen oder Ergreifen denkst, machst du zwei daraus.«
Zen-Meister Yüan-wu, 12.Jhd.
»Wer dann dahin gelangt, dass er das allem zugrunde liegende Gewahrsein ›ständig aufrechterhält‹, überall und in jeder Situation, der befindet sich wirklich auf dem Weg zur Befreiung. Der ist auch am Ende seines raumzeitlichen Lebens, im Sterbeprozess, im Gewahrsein des Geistes«, erläutert Zensho W. Kopp. Absichtslosigkeit ist hierbei das grundlegende, wesentliche Wort der gesamten Zen-Praxis: »Absichtslosigkeit bezieht sich auf ein nicht-identifiziertes Handeln, das frei ist von jeder egobedingten Anhaftung. Es ist jene Geisteshaltung, die als Grundgedanke der chinesischen Lehre des Taoismus in dem Wort ›Wu-wei‹ zum Ausdruck kommt. Wu-wei heißt ›Nicht-Tun‹. Im Sinne des Zen und des Taoismus ist dieses Nicht-Tun aber niemals ein passives ›Nichtstun‹, bei dem man einfach nur dasitzt und nichts tut. ›Wahres‹ Wu-wei bedeutet vielmehr, dass wir im harmonischen Einklang sind mit der allumfassenden Ganzheit des Seins. Das heißt, dass unser Tun zu einem friedfertigen Handeln ›ohne Handelnden‹ wird, so dass wir handeln, ohne das Gefühl zu haben, der Täter zu sein. Wir haben unter Wu-wei eine im höchsten Grade wirkkräftige Geisteshaltung zu verstehen, aus der jede Aktion zu jeder Zeit möglich ist.«
Ganz eigene innere Zwiegespräche mit Zenshos Lehren können sich einstellen, wenn man sich auf sein neues Hörbuch »Wahres Leben aus Zen« einlässt. In ihm geht Zensho der Frage nach, was wahres Leben aus dem Zen heraus ist. In zehn Kapiteln erläutert er in zeitnaher Sprache, aber auch mit vielen alten Gleichnissen und Parabeln, was »Wahres Leben aus Zen« bedeutet. So erläutert er unter anderem ein »Handeln im Einklang mit dem Tao«, die »Allgegenwart des Tao«, »Hellklares Selbstgewahrsein«, »Augenblicksbewusstsein« und den »Weg zur Unsterblichkeit« im Sinne des Zen. Zeitgemäß und lebensnah vermittelt er einen direkten Weg zur Erleuchtung mitten in der Welt und wie man im Alltag geistige Klarheit und Glück in sich selbst verwirklichen kann. Jeder soll die Kostbarkeit des Augenblicks mit seinem ganzen Sein erleben und hellklares Bewusstsein und aktives Handeln als eine einzige Wirklichkeit erfahren. Und Zensho betont: »Durch dieses achtsame, bewusste Leben gelangen wir zu innerem Frieden und zur Harmonie mit der allumfassenden Ganzheit des Seins.«