Das folgende Gespräch fand vor 20 Jahren statt, kurz nachdem Florinda Donner-Grau ihr Buch »Der Pfad des Träumens« veröffentlicht hatte. Ursprünglich sollte es damals in einer deutschen Zeitschrift erscheinen, dann im Interview-Sammelband »Die Erben des Don Juan«, doch immer kam etwas dazwischen. Offenbar ist nun die Zeit reif für einige Offenbarungen der Mitstreiterin von Carlos Castaneda, die hier über die Lehren des Don Juan, die Kunst des Träumens und die Rolle der Frau in der Entwicklung des Bewusstseins spricht.
Wie definierst du »Zauberei«? Viele Leute reagieren negativ auf dieses Wort.
Ich habe mich schon immer über diese Assoziationen geärgert. Don Juan Matus und seine Gruppe erklärten, dass das, was in ihrer Tradition »Zauberei« genannt wird, etwas gänzlich Abstraktes ist: die Fähigkeit, die Grenzen der normalen Wahrnehmung zu erweitern. Diese abstrakte Eigenschaft macht jede positive oder negative Deutung hinfällig.
Ist Zauberei nur eine Sache der Wahrnehmung?
Die Zauberer beschreiben ihr Wissen als die Fähigkeit, Energie direkt zu »sehen«, die Essenz der Dinge zu sehen. Was wir hingegen in der Alltagswelt tun, ist nur das wahrzunehmen, was wir bereits kennen. Wir erklären die Welt für gültig, wieder und wieder. Sozialisation gibt uns die Konzepte davon, was die Dinge sind, und so nehmen wir eigentlich nie wirklich das wahr, was tatsächlich da ist. Wir kennen die »Wahrheit« a priori und alles, was wir von da an tun, ist, sie zu bestätigen. Zauberei hingegen ist der Akt, das Apriori auszulöschen.
Unsere Welt ist real, weil wir alle gemeinschaftlich darin einwilligen. Diese Einwilligung ist unterschwellig, wir willigen ein, ohne zu wissen, dass wir einwilligen. Der Beweis hierfür ist, dass wir, wenn wir im Träumen in andere Welten wechseln, plötzlich sehen, dass mehr an uns und der Welt dran ist, als wir zu sehen gelernt haben.
»Die Erde ist ein Ganzes. Die Menschheit ist ein
Ganzes. Der Kosmos ist ein Ganzes. Und ich selbst bin dies Ganze.«―Carlos Castaneda
Was sind »Träumen« und »Pirschen« in dieser Tradition?
Sie sind zwei Aspekte der Zauberei, die eine fast untrennbare Handlungseinheit bilden. In der Welt des Don Juan Matus ist man entweder »Pirscher« oder »Träumer«. Das hängt von deiner energetischen Veranlagung ab. Du hast eine natürliche Vorliebe für das eine oder das andere.
Was bedeutet es, ein Träumer zu sein?
Die Kunst des Träumens besteht darin, die natürliche Bewegung des »Montagepunkts« zu nutzen, der beim Träumen automatisch zu zittern beginnt. Carlos Castaneda hat ausführlich über den Montagepunkt und darüber, wie Zauberer Wahrnehmung definieren, geschrieben. Die Zauberer glauben, dass Wahrnehmung außerhalb des Reichs unserer Sinne stattfindet. Wenn sie »sehen«, sehen sie den Körper als leuchtendes Ei. In diesem Ei, das über die Grenzen des physischen Körpers hinausgeht, gibt es einen glühenden Punkt, der heller ist als der Rest des Eis. Diese Glut ist die Bewusstheit und sie »montiert« unsere Wahrnehmung; daher der Name »Montagepunkt«. Im Alltagsleben ist unser Montagepunkt unbeweglich; er beleuchtet lediglich bestimmte Energiebänder. Die größte Leistung menschlicher Erziehung ist es, unseren Montagepunkt auf seine gewohnte Position zu fixieren. Ist er einmal festgelegt, können wir unsere Wahrnehmung so lenken und leiten, dass wir das Wahrgenommene interpretieren können. Wir lernen zuerst, in Begriffen unseres Interpretationssystems wahrzunehmen und dann erst mit unseren Sinnen. Die Zauberer wissen, dass etwas weitaus Gewaltigeres existiert als das, worin wir eingewilligt haben, es unsere Sinne wahrnehmen zu lassen.
Und wenn sich der Montagepunkt bewegt, findet eine neue Wahrnehmung statt?
Genau. Wenn wir träumen, zittert der Montagepunkt automatisch. Die Zauberer nutzen diese natürliche Eigenschaft und üben sich darin, diese Bewegung willkürlich zu kontrollieren. Was sie durch ihr Träumen zu erreichen versuchen ist, die Kontrolle über die allgemeinen Elemente eines Traumes zu haben, eine Kontrolle, die jener vergleichbar ist, die wir über die Elemente irgendeiner Alltagssituation haben, wo wir frei wählen können, wann oder wie wir etwas tun.
Wie passt da das Pirschen dazu?
Pirschen ist die Kunst, den Montagepunkt in jeder beliebigen Position zu fixieren, in die er sich im Träumen bewegt hat. Wenn wir fähig sind, den Montagepunkt in ein neues Energieband zu verschieben, müssen wir ihn dort erst fixieren, damit wir das, was wir wahrnehmen, überhaupt »sehen« können. Träumen und Pirschen gehören also zusammen und ein Zauberer muss beide Aspekte praktizieren, und doch ist jeder besser im einen oder im anderen.
Sind Frauen besser im Pirschen oder im Träumen?
Sie sind in beidem besser! Frauen sind von Natur aus unvergleichliche Träumer. Träumen ist eine natürliche Funktion der Gebärmutter. Wie dem auch sei, so zu träumen, wie die Zauberer träumen, ist eine Sache der uns zur Verfügung stehenden Energie. Einmal mit genug Energie versorgt, wird der Körper einer Frau selbst die sekundäre Funktion der Gebärmutter wecken und unfassbare Träume träumen. Die dazu benötigte Energie ist jedoch wie die Hilfe für Entwicklungsländer – sie kommt nie an.
Warum nicht?
Die Ordnung unserer sozialen Strukturen verhindert, dass diese Energie frei wird und Frauen damit träumen können. Wäre diese Energie frei, würde dies die »zivilisierte« Ordnung auf den Kopf stellen. Es ist die Tragödie der Frauen, dass ihr soziales Bewusstsein ihr individuelles Bewusstsein dominiert. Frauen fürchten sich, anders zu sein, und wollen nicht zu weit von den Bequemlichkeiten des Bekannten abweichen. Der soziale Druck, dem Frauen ausgesetzt sind, nimmt irgendwann überhand und statt etwas zu ändern, ergeben sie sich in das, was man ihnen bestimmt hat: dass Frauen existieren, um Männern zu Diensten zu sein.
Willst du damit sagen, dass Frauen keine Chance haben?
Nein, ich sage, dass die meisten Frauen ihre sicheren Fesseln dem Schrecken des Neuen vorziehen. Der Ansatz der Zauberer ist revolutionär. Nicht im Sinne neuer Ideologien, sondern im Sinne totaler Veränderung, eines vollständigen Engagements von Körper, Geist und Seele. Um dies aufrechtzuerhalten benötigen wir Energie, sehr viel Energie. Der Großteil unserer Energie wird aber verbraucht, um unsere aufgeblähte Selbstvorstellung zu bewahren und zu verteidigen. In unseren eigenen Augen sind wir etwas ganz Besonderes, edle Wesen, egal wie elend unser Zustand ist. Das Ich ist unser Käfig. Es ist ein Gefängnis, bestehend aus Befehlen und Erwartungen, die von Geburt an über uns ausgegossen wurden.
Es gibt da einen angeborenen Unterschied zwischen der Art, wie Frauen und Männer sich dem Wissen nähern. Männer bauen dem Wissen entgegen, Stufe für Stufe. Zauberer nennen diesen Prozess »Kegeln«. Es ist, als ob ein Energiekegel auf dem Scheitel ihres Kopfes säße. Dieser Kegel-Prozess begrenzt die Männer darin, wie weit sie hinausreichen können. Ihr Pfad endet an einem Engpass: der Spitze des Kegels. Bei Frauen ist der Prozess umgekehrt, der Kegel auf den Kopf gestellt. Frauen sind fähig, sich selbst unmittelbar der Quelle zu öffnen oder, besser gesagt, die Quelle erreicht sie direkt.
Macht dies Frauen spiritueller als Männer?
Nein, Frauen sind einfach von Natur aus unvergleichliche Träumer. Die Gebärmutter gibt ihnen zusätzlichen Spielraum. Ursprünglich sahen Frauen keine Notwendigkeit darin, ihre Fähigkeit auszunutzen, sich direkt an den Geist anzuschließen zu können. Sie hielten es nicht für nötig, darüber zu reden oder diese natürliche Fähigkeit zu intellektualisieren. Es reichte ihnen, zu wissen, dass sie diese hatten und aktivieren konnten. Die Unfähigkeit der Männer, sich direkt an den Geist anschließen zu können war es, was sie dazu gebracht hat, ständig über den Prozess des Erreichens von Wissen zu reden – und sie haben nicht aufgehört, darüber zu reden! Es ist genau dieses Beharren auf der Analyse des Prozesses, das ihnen die Gewissheit gibt, dass Vernünftigsein eine männliche Eigenschaft ist. Die Konzeptualisierung der Vernunft wird ausschließlich von Männern vorgenommen, und das hat es ihnen erlaubt, die Gaben und Leistungen der Frauen kleinzureden. Noch schlimmer, es hat den Männern erlaubt, weibliche Charakterzüge aus der Formulierung der Ideale der Vernunft auszuschließen.
Warum nutzen Frauen ihren Vorteil nicht?
Sie haben ihre direkte Verbindung zum Geist vergessen. Sie haben vergessen, wie man sie nutzt, oder sie haben den Zustand der Männer kopiert, die Verbindung gar nicht zu haben. Jahrtausendelang haben die Männer dafür gekämpft sicherzustellen, dass die Frauen sie vergessen. Das Bedürfnis der Männer, andere zu dominieren, und das Desinteresse der Frauen, ihr Wissen zu formulieren, bildeten eine unheilige Allianz. Sie hat es ermöglicht, dass Frauen von Geburt an gezwungen wurden, zu akzeptieren, dass Erfüllung in Liebe, Ehe, Kinderkriegen und Selbstverleugnung liege. Frauen sind von den dominanten Formen des abstrakten Denkens ausgeschlossen und in die Abhängigkeit hinein erzogen worden. Frauen sind so gründlich in dem Glauben trainiert worden, dass Männer für sie denken müssen, dass sie am Ende das Denken ganz aufgegeben haben.
Aber es gibt viele weibliche Denker – Frauen, die Großes geleistet haben.
Natürlich. Dennoch ist ihre Art zu denken von Männern bestimmt worden. Männer definieren die wahre Natur des Wissens, egal ob spirituell oder wissenschaftlich, und haben all das ausgeschlossen, was zum Weiblichen gehört. Obwohl Frauen Zugang zum Wissen haben, hat man ihnen nicht erlaubt, dabei zu helfen, zu bestimmen, was dieses Wissen ist. Wenn ihr Wissen einbezogen wird, dann stets in negativem Licht. Und die Frauen haben das akzeptiert. Es gibt Ausnahmen, aber nicht genug, um einen Unterschied zu machen. Noch nicht.
Ist das verbunden mit der Frage nach unserem Fortbestehen auf diesem Planeten?
Die Zauberer sind überzeugt, dass der biologische Imperativ zur Fortpflanzung etwas ist, dass nicht geändert werden kann – außer dadurch, ihn durch einen ähnlich starken Imperativ zu ersetzen. Sie schlagen Entwicklung als Gegengewicht zur Fortpflanzung vor. Entwicklung bedeutet im Sinne der Zauberer, unserer wahren Natur ins Auge zu sehen. Es bedeutet, die gängige Meinung über das, was wir sind und tun, in Klammern zu setzen. Auf diese Weise geben die Zauberer der Psyche einen Moment Zeit, lange genug, um eine Neuordnung der Prioritäten zu starten. Wenn der Zwang, den Männern zu dienen, durch die Notwendigkeit der Anerkennung des menschlichen Geistes ersetzt wird, wird dies eine sehr gesunde Gesellschaft hervorbringen.
Der Pfad des Träumens
240 Seiten, € 14,90
ISBN: 978-3-939570-31-8
Hans Nietsch Verlag