Können wir Vergangenes ungeschehen machen? Auf der energetischen Ebene ist dies laut den mexikanischen Schamanen um Don Juan Matus und Carlos Castaneda durchaus möglich. Dazu haben die Mitglieder ihrer Tradition schon vor Jahrtausenden eine spezielle Erinnerungsübung entwickelt, die uns mit Hilfe der magischen Kraft des Atems von Fremdenergien befreit und unsere eigene Energie zurück holt, die wir im Laufe des Lebens in der Welt zurückgelassen haben. Die sogenannte »Rekapitulation« ist eine Art energetischer Hygiene und gleichzeitig ein Instrument zur Wiedererlangung unserer ursprünglichen Ganzheit. Für die Schamanen ist sie sogar noch mehr – ein Weg zur endgültigen Befreiung und zum Erhalt ihrer Bewusstheit über den Tod hinaus.
Die Schamanen des alten Mexiko haben schon in grauer Vorzeit die Fähigkeit entwickelt, Energie direkt zu sehen. In diesem Sehen erscheint der menschliche Körper nicht so, wie wir ihn mit unserer alltäglichen Wahrnehmung zu betrachten gewohnt sind: Er offenbart sich als »leuchtendes Ei«, als längliche Lichtkugel, die sich etwa eine Armeslänge um den physischen Körper hinaus ausdehnt. Ähnliche Beschreibungen gibt es in vielen Traditionen und Kulturen, wo man den Energiekörper des Menschen als Aura oder als Astralkörper kennt. Es ist unser eigentliches energetisches Feld, in dem unser physischer Körper nach Auffassung der Schamanen nur eine Art holografische Projektion darstellt.
Es gibt zahlreiche Beschreibungen dieses Energiekörpers, mit genauen Karten von Lichtwirbeln, die in der indischen Tradition als Chakren bekannt sind, oder von Energieleitbahnen, die wir aus der Traditionellen Chinesischen Medizin kennen. Die meisten dieser Beschreibungen beschränken sich auf das Individuum und zeigen nicht, wie unser Energiekörper im Alltag mit anderen »leuchtenden Wesen« interagiert. Gerade dieser Aspekt hat die mexikanischen Schamanen jedoch von jeher fasziniert, denn sie hatten gesehen, dass der Energiekörper jedes Menschen ständig hauchdünne, spinnwebartige Lichtfäden ausstößt, die von unseren Gefühlen und Emotionen angetrieben werden und dann an dem Ort zurückbleiben, wo wir sie hinterlassen haben. Offenbar ist uns dieser Vorgang unterschwellig bewusst, da schon der Begriff »Emotion« ein »Hinausbewegen« beschreibt.
Tatsächlich kennen wir alle die sprichwörtlichen Blicke, die töten können: Gerade mit unseren Augen sind wir den Schamanen zufolge in der Lage, besonders massive Energielinien in ein Gegenüber hineinzuschießen. Nicht umsonst gibt es die Redewendung, »jemand anderen mit Blicken zu durchbohren«. Und auch aus unserem Zentrum, buchstäblich aus dem Bauch heraus, können wir solche Linien projizieren, die dann den Betroffenen tatsächlich energetisch schmerzen oder beeinflussen.
Jeder von uns kennt das Gefühl, von jemand anderem gekränkt worden zu sein – auch das ist letztlich auf einen energetischen Angriff zurückzuführen, der uns im wahrsten Sinne des Wortes krank machen kann. Im Orient trägt man daher augenförmige Amulette, um sich vor dem Bösen Blick zu schützen. Und in China bringt man in der Tradition des Feng Shui besondere Spiegel über der Haustüre an, um bestimmte Energien erst gar nicht ins eigene Heim zu lassen. Nahezu jeder kennt auch das Gefühl der plötzlichen Erschöpfung und Leere, das uns oft nach einem heftigen emotionalen Ausbruch überkommt. Es ist den mexikanischen Schamanen zufolge tatsächlich die unmittelbare Folge eines durch die Emotion verursachten akuten Energieverlustes.
Zwar kann sich unsere Energie immer wieder bis zu einem gewissen Grad regenerieren, und dennoch lassen wir mit jeder großen und kleinen Emotion leuchtende Fäden unserer eigenen, ursprünglichen Energie in der Welt oder in anderen Menschen zurück, während wir selbst förmlich mit den Linien anderer Menschen gespickt sind. Fremde Linien, die nach Auffassung der Schamanen für unser krankhaft gesteigertes Gefühl eigener Wichtigkeit verantwortlich sind. Das mag zunächst befremdlich klingen, doch wenn Sie sich einmal besonders egozentrische Menschen ansehen, werden Sie leicht erkennen, dass diese einen ständigen Nachschub an fremden Linien benötigen, die sie in Form positiver oder auch negativer Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Im Sinne der Energie macht es keinen Unterschied, ob sie geliebt oder gehasst werden – ihre eigene Wichtigkeit beziehen sie aus der Energie anderer.
Alle Erinnerung ist Gegenwart.
Im reineren Element wird alle Erinnerung uns wie notwendige Vordichtung erscheinen.
Novalis (1772-1801)
Ein weiteres Feld starker energetischer Vermischung ist die sexuelle Interaktion, begleitet von überwältigenden Gefühlen und Emotionen, aber auch durch energetische Mechanismen, die für den Akt der Erschaffung neuen Lebens notwendig sind. Es würde hier zu weit führen, im Detail darauf einzugehen, aber wir alle kennen die gefühlsmäßigen Verstrickungen, die Sex und Liebschaften in den meisten Fällen nach sich ziehen. Auch da sind fremde Linien im Spiel und natürlich beziehen manche Menschen ihr scheinbares »Selbstbewusstsein« aus ihren sexuellen Aktivitäten. Leider sind sich gerade diese Menschen meist weniger bewusst darüber, dass auch hier fremde Linien die Strippen ziehen und sie somit mehr oder minder fremdgesteuert sind.
Der Fegeatem
Wir alle wurden also im Laufe unseres Lebens mehr und mehr mit fremden Linien kontaminiert und haben andererseits einen Teil unserer ursprünglichen Energie in der Welt und in anderen Menschen gelassen – ein Prozess, der so unumstößlich scheint wie der Fluss der Zeit. Die Schamanen des alten Mexiko haben jedoch schon vor Jahrtausenden entdeckt, dass wir unsere eigenen Energielinien lenken und kontrollieren können – etwas das besonders gut über das Atmen funktioniert, da uns der Atem ohnehin ständig mit der Welt und die Welt mit uns verbindet. Die lebenspendende Funktion des Atems machte ihn für die Schamanen zu einem magischen Akt, den sie auf pragmatische Weise zu nutzen lernten, um die eigenen Linien aus der Welt zurückzuholen und die fremden Energien, die andere Menschen in ihnen zurückgelassen haben, aus ihrem Energiefeld zu entfernen. Das Ergebnis war eine Atemtechnik, die sie den »Fegeatem« nannten.
Ein in doppelter Hinsicht treffender Begriff, da er zum einen das sprichwörtliche Auskehren des eigenen Energiefeldes bezeichnet. Zum anderen bezieht er sich auf die Technik selbst, bei der während des Atmens gleichzeitig der Kopf hin und her bewegt wird, während man sich an eine bestimmte Szene aus seinem eigenen Leben erinnert und mit der langsam fegenden Bewegung des Kopfes die Szene gleichsam energetisch reinigt. Man beginnt mit einem tiefen Einatmen, während man den Kopf bedächtig von der rechten bis zur linken Schulter dreht, und fährt fort, indem man kräftig ausatmet, während man den Kopf von der linken zur rechten Schulter dreht. Mit dem Einatmen zieht man die eigenen Linien aus der betreffenden Szene zurück, während man beim Ausatmen die fremden Linien an die anderen Protagonisten der Szene zurückgibt.
Diese Technik bedarf einiger Übung, da es zunächst ungewohnt ist, so zu atmen und sich zugleich auf eine ganz bestimmte Erfahrung aus der Vergangenheit zu konzentrieren, doch mit ein bisschen Praxis läuft der Fegeatem ganz wie von selbst und man spürt physisch als auch psychisch, wie die eigene Energie zurückkehrt und man weniger durch Fremdenergien gesteuert ist. Wenn man sich zum Beispiel in einem ganz konkreten Fall über jemand anderen geärgert hat und Emotionen im Spiel waren, sind nachher, wenn man das betreffende Ereignis wirklich gründlich rekapituliert hat, die gekränkten Gefühle im buchstäblichen Sinne wie fortgeblasen: Wir haben die Vergangenheit ausgeatmet, sie nicht nur losgelassen, sondern sie im energetischen Sinne ungeschehen gemacht.
Wenn Sie dies selbst einmal ausprobieren möchten, sei hinzugefügt, dass es wichtig ist, während der Erinnerung nicht bloß an ein vergangenes Erlebnis zu denken. Für Schamanen bedeutet aktives Erinnern eine Art Wiedererleben des Geschehens, was durch eine vorherige Visualisierung der Szene in allen – auch scheinbar unbedeutenden – Details vorbereitet wird. Wie sah der Raum aus, in dem die Szene gespielt hat? Wie hat es gerochen? War es Tag oder war es Nacht? Gab es Geräusche oder spielte Musik? Holen Sie die ganze Szene im Detail zurück, bevor Sie das Erlebte vor Ihrem inneren Auge abspielen und mit dem Fegeatem beginnen. Sie werden staunen, an was Sie sich alles erinnern, und können mit Hilfe des Atems immer tiefer in die Vergangenheit eintauchen, so als ob Sie sie noch einmal erlebten.
Ein Weg zur Freiheit
Für die Schamanen aus der Tradition Don Juans und Carlos Castanedas ist die Rekapitulation jedoch weit mehr als nur eine Methode, unangenehme Gefühle loszuwerden. Natürlich ist es eine Art täglicher energetischer Hygiene, hinter sich aufzuräumen und aus der rekapitulierten Vergangenheit zu lernen. Wo verstricke ich mich immer wieder in dieselben Muster? Wo lasse ich meine Energie oder wo lasse ich mich auf Energievampire in meiner Umgebung ein, die ständig um Infusionen negativer oder positiver Emotionen betteln? Man lernt eine ganze Menge über sich selbst durch den beständigen Reflexionsprozess und kann sein eigenes Verhalten mithilfe der zurückgewonnenen Energie leichter ver- ändern und hartnäckige Routinen durchbrechen.
Doch im weiteren Sinne ist die Rekapitulation für den Schamanen ein monumentaler Akt, in dem das gesamte Leben rekapituliert wird, rückwärts vom gegenwärtigen Moment bis hin zur Geburt oder darüber hinaus. Die Kraft des Atems ist, wie es auch die Technik des Holotropen Atmens zeigt, durchaus in der Lage, uns in die frühesten Momente unseres Lebens zurückzuversetzen, so dass wir diese nicht nur wiedererleben, sondern Störungen wie etwa bestimmte Geburtstraumata energetisch ausgleichen können. Die Rekapitulation des gesamten Lebens führt uns zur eigenen Ganzheit zurück, sie macht uns im energetischen Sinne heil. Darüber hinaus schafft sie eine Art Kopie unserer eigenen Bewusstheit, etwas das für die Schamanen jener Tradition besonders wichtig ist.
Sie sind nämlich durch ihr Sehen auch auf die Antwort einer der ältesten Fragen der Menschheit gestoßen: Was ist der Sinn des Lebens? Warum sind wir hier? Bei der Konzentration auf die Quelle, aus der alle Energie und Bewusstheit entspringt, sahen sie eine gewaltige Dunkelheit, die sie aufgrund ihrer Form den »Adler« nannten, eine mächtige Energiequelle, die jedem lebenden Wesen bei seiner Entstehung einen Funken Bewusstheit verleiht, den es durch seine Lebenserfahrung mehren soll. Und im Augenblick des Todes kassiert der Adler die Leihgebühr, indem er die durch Erfahrung gemehrte Bewusstheit verschlingt und sich selbst einverleibt.
Dieser Mythos, der auf die systematischen Forschungen und Wahrnehmungen der mexikanischen Seher des Altertums zurückgeht, zeichnet das Bild eines unbewussten Schöpfers, der sich durch den Prozess der Schöpfung seiner selbst zunehmend bewusst wird, das Bild eines dunklen Universums, welches die Sterne nur geschaffen hat, um seine eigene Tiefe mit Licht zu durchdringen. In einem solchen Universum ist der Sinn des Lebens mehr als evident und besteht darin, Bewusstheit zu mehren, Erfahrungen zu sammeln und zu lernen, um Licht ins Dunkel bloßer Existenz zu bringen.
Doch um den Preis des Lebens? Die Schamanen sahen nicht ein, warum sie erst sterben mussten, um ihre Aufgabe zu erfüllen, und ersannen die Rekapitulation als eine Technik, um dem Adler bereits zu Lebzeiten das zu geben, was ihm zusteht, und dafür das eigene Leben im Moment des Todes nicht einzubüßen. »Sie waren überzeugt«, erklärt Castaneda, »dass Bewusstheit und Leben nicht untrennbar miteinander verwoben seien, sondern nur der Umstände halber zusammenfallen. Der Adler wolle uns gar nicht das Leben nehmen, beteuerten sie, er sei lediglich an unseren Lebenserfahrungen interessiert. Doch aufgrund mangelnder Disziplin sei der Mensch gewöhnlich nicht in der Lage, seine Lebenskraft von der Kraft seiner Lebenserfahrungen zu trennen, und daher büße er sein Leben ein, während er eigentlich nur die Kraft seiner Lebenserfahrungen hätte einbüßen sollen.«
Die Rekapitulation des Lebens schafft diese Trennung von Lebenserfahrungen und Lebenskraft, indem man durch die Erinnerung an jedes kleinste Detail seines Lebens eine exakte Kopie seiner Lebenserfahrungen erstellt, die dem Adler dann als Ersatz für die eigentliche Bewusstheit angeboten wird. Auf die Weise gelingt es den Schamanen, ihre Schuld gegenüber ihrem Schöpfer zu begleichen, ohne im Augenblick des Todes unwiderruflich ausgelöscht zu werden.
Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Schamanen dadurch zu ewigem Leben gelangen oder unsterblich werden – zumindest nicht in dem Sinn, wie dies gemeinhin verstanden wird. Es ist vielmehr so, dass ein Mensch, der eine vollständige Kopie seiner Bewusstheit und seiner Lebenserfahrungen erstellt hat, im Moment des Todes nicht ausgelöscht, sondern in reine Energie verwandelt wird – in eine Energie, die sich aber dennoch der Individualität ihres früheren Seinszustands bewusst bleibt. Die Schamanen transzendieren mithilfe der Rekapitulation den Tod, der für sie nicht länger der gefürchtete Zerstörer ist, sondern eine vereinigende Kraft, der sie sich zu gegebener Zeit freiwillig öffnen.
Castaneda erinnert sich an eine Metapher, mit der Don Juan ihm dies einst verständlich machen wollte: »Er versuchte, mir dies sinnbildlich zu erklären, indem er sagte, dass wir im Laufe unseres Lebens aus einer Anzahl ‚einzelner Nationen‘ zusammengesetzt seien: die Nation der Lungen, die Nation des Herzens, die Nation des Magens, die Nation der Nieren usw. All diese Nationen würden zu gewissen Zeiten unabhängig voneinander arbeiten, doch im Augenblick des Todes würden sie alle zu einem einzigen Wesen verschmelzen. Diesen Zustand nannte er totale Freiheit.«
Das Wissen der Tolteken
Carlos Castaneda und die Philosophie des Don Juan
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ISBN: 978-3-86264-265-6
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Carlos Castaneda und das Vermächtnis des Don Juan
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