Sex und Achtsamkeit

Sexualität wird oft als ein rein körperliches Geschehen wahrgenommen. Doch unsere Überzeugungen und unser Seelenleben spielen immer eine Rolle dabei. Wir sollten diesen Aspekten mehr Aufmerksamkeit schenken, um uns von unnötigem Ballast zu befreien, und damit Sex zu einer zutiefst erfüllenden Erfahrung machen.

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Beim Sex schwingen unsere Überzeugungen und unsere Erfahrungen stets mit. Und diese Komponenten beeinflussen immer auch das sexuelle Erleben. Wir können besseren, freieren Sex haben, wenn wir bewusst wahrnehmen, was währenddessen in unserem Kopf und in unserem Herzen vorgeht. Dann lassen sich Blockaden lösen, und wir können beginnen, die Trinität aus Körper, Geist und Seele zu einem wunderbaren innigen zu Tanz führen.

Wenn sich störende Gedanken und Gefühle ausbreiten und der Körper sich davon ergreifen lässt, gerät das Liebesspiel ins Wanken. Je mehr wir lernen, dem Körper die Freiheit zu geben, seine Gefühle und Empfindungen auszudrücken, umso weniger werden diese störenden Gedanken ihre kontrollierende Macht ausüben können. Das beste Werkzeug für eine verfeinerte Wahrnehmung ist die Praxis der Achtsamkeit, die Fähigkeit der unmittelbaren und wertfreien Wahrnehmung dessen, was gerade ist. Eine gesteigerte Achtsamkeit dient dazu, uns unseres tatsächlichen Zustands, ob geistig, seelisch oder körperlich, bewusst zu werden. Achtsamkeit schenkt uns im Grunde die Aufmerksamkeit, die wir so oft im Außen suchen.

Vom Kopf in den Körper

Die Konzentration auf den Körper ist dabei äußerst hilfreich. Der Körper ist die Instanz, die uns im Hier und Jetzt verankert und uns deutlich zeigt, was wirklich in uns vorgeht. Denn alles, was sich im
Geistigen und Psychischen abspielt, drückt sich im Körper aus. Mittels Achtsamkeit erkennen wir somit die Hintergründe unseres Befindens.

Meist tritt während der Achtsamkeitspraxis von ganz allein eine Verlangsamung der üblichen Prozesse ein. Dies geschieht, weil wir intensiver in uns hineinspüren und nicht mehr jedem Gedanken nachhängen. Achtsam wahrgenommen merken wir z. B., dass sich bei einer Berührung etwas im Brustbereich verengt oder verschließt. Dies ist ein untrügliches Zeichen für eine Blockade. Bleibt man weiterhin achtsam bei der Wahrnehmung und lässt die Gefühle aufkommen, die sich hinter dem Reflex verbergen, dann kommt an die Oberfläche, was sich zeigen möchte.

Achtsamkeit hat immer einen erhellenden und befreienden Aspekt. Wir werden uns auf einer tieferen Ebene gewahr. Alte Muster, die sich ständig wiederholen, können endlich bewusst durchleuchtet werden. Es mag einige Phasen der Achtsamkeit in Anspruch nehmen, aber an irgendeinem Punkt macht es Klick und die reflexhafte Reaktion kann die tieferliegenden Gefühle nicht mehr schützen. Sie brechen hervor und befreien sich aus den »Muskelpanzerungen«, die durch Verdrängungen entstehen.

Blockaden, Muskelpanzerungen

Solche Muskelpanzerungen bilden sich bereits in der Kindheit. Dort lernen wir meist, mit negativen, belastenden Gefühlen umzugehen, indem wir bestimmte Körperbereiche unbewusst anspannen. Die Folge ist, dass sich eine emotionale Ladung nicht auflösen kann. Die meisten negativen Gefühle werden so im Körper quasi »eingefroren«. Dabei werden allerdings auch andere Gefühle mit eingeschlossen. Mit der Zeit können so immer stärkere Panzerungen entstehen.

Das Ganze führt dazu, dass wir zunehmend weniger spüren und immer stärkere Reize brauchen. Auf der Suche nach Reizen umgehen wir dabei stets unsere eigenen verdrängten Inhalte. »Um wirklich intensive Lust zu empfinden, müssen wir nicht nur unser Becken von seiner Enge befreien, sondern – im übertragenen Sinne – auch unser Herz, damit es wieder frei fühlen kann«, erklärt die Sexualtherapeutin Susanna-Sitaro Rescio. Machen wir damit einmal erst Fortschritte, können wir erfahren, wie aufregend und tief unsere eigenen Empfindungen wieder werden.

Für erfüllenden Sex sollte unser Körper und vor allem das eigene Geschlecht bewusst »bewohnt« sein, sagt die gebürtige Italienerin. Viele Menschen sind zu stark im Kopf verankert und denken pausenlos, während sie mit ihrem Körper ganz andere Dinge tun. Verlagern wir die Aufmerksamkeit vom Kopf auf das Spüren des Körpers, so erleben wir uns selbst wieder stärker. Verdrängtes kann dann auftauchen und bewusst angenommen werden. Achtsamer Sex sollte daher mit einer Person geschehen, der man vertraut. Damit ist nicht nur das Gefühl gemeint, sich beim Partner geborgen und gut aufgehoben zu fühlen, sondern die Fähigkeit, sich ihm so zu zeigen, wie man wirklich ist.

Sexuelle Probleme

Von großer Bedeutung bei der Entstehung von Problemen auf der sexuellen Ebene ist das jeweilige Beziehungsmuster, das sich zwischen zwei Menschen im Laufe ihrer Partnerschaft etabliert. Viele Muster entstehen aufgrund von Defiziten, die wir uns bereits in unserer Kindheit angeeignet haben. Gefühle von Unfähigkeit und Ungeliebtsein sind am häufigsten anzutreffen, denn genau diese Gefühle versuchen viele Menschen in einer Partnerschaft auszugleichen.

Um z.B. Gefühle der Ohmnacht nicht spüren zu müssen, wird Sexualität häufig als Machtinstrument eingesetzt. Konflikte, in denen es eigentlich um Macht geht, werden dann auf die sexuelle Ebene verschoben. Das kann so aussehen, dass ein Partner als Reaktion auf eine Kränkung den Sex erpresst oder verweigert. In eine andere Richtung geht die Vorliebe für S-M-Praktiken, bei der Macht-/Ohnmacht-Szenarien direkt ausgelebt werden. Doch Konflikte zwischen den Partnern bzw. innerhalb ihrer selbst sollten auf der Ebene geklärt werden, auf der sie entstanden sind. Sonst bleibt man in einem Teufelskreis, dessen Umdrehungen immer schneller werden.

Macht und Sex

Auch wenn der Sex hauptsächlich aus dem Bedürfnis heraus gelebt wird, sich vom Partner geliebt zu fühlen, geht es gewissermaßen um Macht. Der narzisstische Wunsch wird dann »funktionalisiert« und die sexuelle Begegnung, das Miteinander, gerät in den Hintergrund. Möchte ein Partner nur Sex, um sich selbst zu bestätigen, dann wird der andere Partner meist in anderen Bereichen nach Bestätigung und Dominanz suchen. Häufig kennen die Partner auch bestimmte Machtkonstellationen aus ihrer Kindheit, die sie unbewusst immer wieder suchen. Nur indem beide wieder mehr in sich selbst zentriert sind und die wahren Hintergründe sehen, können solche Situationen aufgelöst werden.

Interessant ist, dass jede Art von Ohnmacht auch eine Machtseite hat. So erlangt z.B. jemand durch Rückzug unweigerlich Macht über die Beziehung, da er bestimmt, wann Sex stattfindet. Auch bei Menschen mit Missbrauchserfahrungen wird häufig aus der einst erlebten Ohnmacht das Bedürfnis nach Macht über die eigene Sexualität derart stark, dass nur noch unter extrem kontrollierten Verhältnissen eine sexuelle Begegnung stattfinden kann. Das kann so weit führen, dass Emotionen und Gefühle völlig außen vor bleiben.

Je mehr es uns gelingt, die Ebenen des äußeren und des inneren Geschehens voneinander zu trennen und klar zu erkennen, desto freier werden wir. Neben der Achtsamkeitspraxis hilft es, durch Körperarbeit gezielt neue positive Gefühle zu kreieren. Dabei wird primär der Körper anhand kleiner Veränderungen dazu animiert, neue positive (Lust-)Erfahrungen zu machen. Gespeist von diesen Erinnerungen, kann die Bereitschaft wachsen, sich wieder emotional zu öffnen.

Eine neue Ebene beschreiten

Egal, welches sexuelle Problem besteht, man sollte es weniger als »Störfaktor«, der oft mit Scham und Schuldgefühlen besetzt ist und »beseitigt« werden muss, ansehen, sondern eher als inneren Wegweiser, der dazu da ist, das eigene tiefere Potenzial als ganzheitliches Wesen zu erschließen, so Susanna-Sitari Rescio. Man könne das Problem als eine Art »Trick der Natur« erkennen, der uns sowohl zu uns selbst führt als auch zur Überwindung der künstlichen Trennung zwischen unserer menschlichen Natur und dem universellen göttlichen Prinzip. »Letztlich sind diese ‚Probleme‘ keine Probleme, sondern vielmehr die notwendigen Stolpersteine, die unsere Entwicklung und Selbstfindung anregen«, schreibt sie und verweist damit auf eine Dimension der Sexualität, die viel mehr Beachtung verdient. Diese Dimension erschließt sich mit der Reifung und Weiterentwicklung eines Menschen.

Verliebtheit gibt uns einen Vorgeschmack auf diese Dimension. Sind wir verliebt, so sind wir völlig offen und akzeptieren den Partner noch bedingungslos. Wir fühlen uns absolut angenommen, stark, fast unbesiegbar. Doch leider ist dies meist kein dauerhafter Zustand – und es ist auch ein etwas trügerischer, da er von der Bestätigung des anderen abhängt. In langjährigen Beziehungen ist sexuelle Lust weniger das Resultat von aufgeregter Verliebtheit als das Ergebnis einer bewusst getroffenen Entscheidung. Vergeht die Phase der Verliebtheit, ist die willentliche Bereitschaft, sich hinzugeben und zu öffnen, der Schlüssel zur Lust. Herrschen hingegen negative Erfahrungen und Blockaden vor, so wird die Phase nach der Verliebtheit einige Schwierigkeiten zutage fördern.

Spirituelle Verbundenheit

Wenn wir generell begreifen, dass wir genauso Verantwortung für die Beziehung tragen wie unser Partner, wenn wir uns entwickeln, statt den Partner ändern zu wollen, dann erfährt auch die Sexualität Veränderung und bewegt sich auf eine neue Ebene. Dann erkennen wir uns selbst und können auch unseren Partner klar – und nicht nur in Beziehung zu uns – erkennen. Wir erfassen die Dinge hinter der Oberfläche und begreifen, wie alles zusammenhängt.

Die Erfahrung einer tiefen, untrennbaren Verbindung von Körper, Geist und Seele und des Einsseins mit dem Ganzen, dem Universellen Prinzip, dem Göttlichen, rückt so in erfahrbare Nähe. Dann grenzen die Erfahrungen an das, wovon in der tantrischen Tradition gesprochen wird:

Die Befriedigung löst sich von einem Objekt; der Liebesakt wird in sich befriedigend, ohne nach einer »Erlösung« daraus durch einen Orgasmus zu suchen. Es ist die Befreiung von Anhaftung und die ultimative Erfahrung der eigenen Lebensenergie, die sich offenbart in ihrem atemberaubenden Tanz, wenn man still und ganz geworden ist.

Susanne-Sitari Rescio
1964 in Italien geboren, ist seit 10 Jahren als ganzheitliche Sexualtherapeutin mit Schwerpunkt Achtsamkeitspraxis in eigener Praxis in Hamburg tätig. Sie gibt Kurse und Workshops zum Thema und berät individuell.

Buchtipp
Buch Sex&Achtsamkeit
Susanna-Sitari Rescio
Sex & Achtsamkeit Sexualität, die das ganze Leben berührt
250 Seiten, 16,95 €
ISBN: 978-3-89901-841-7
Verlag J. Kamphausen
www.weltinnenraum.de