Wer heutztutage den Begriff Tantra hört, denkt zumeist an ausgefallene Praktiken beim Liebesspiel und spürt die Aura einer exotischen Sinnlichkeit, die den Genuss der Sexualität potenzieren soll. Die vollständige Bedeutung jener Lehre aber ist verloren gegangen, denn in erster Linie entspringt die tantrische Wissenschaft einem tief spirituellen Yogapfad, der mit Hilfe der mächtigsten aller Energien – der Sexualität – den Zugang zu einem allumfassenden Bewusstsein erlangen möchte. Wer sich auf die Ursprünge des Kriya-Yoga besinnt, hat die Möglichkeit, beide Aspekte in ihrem eigentlichen Sinne wieder zu vereinen.
Es gibt wohl keinen Bereich menschlicher Wirklichkeit, der sich in seinem Verständnis so weit von seiner eigentlichen natürlichen Absicht entfernt hat wie die Sexualität. Genauso wie es keinen Teil des Menschen gibt, der so unmanipulierbar animalisch und ekstatisch sein kann. Dennoch steht diesem Geschenk der Sinnesfreude eine gesellschaftliche Normierung und Bewertung gegenüber, die fern jeder Genussfähigkeit und Schönheit das Wesen dieser mächtigen Kraft verhüllt. Es sind nicht nur die Feigenblätter oder verschlossenen Vorhänge, die eine Form der Unterdrückung andeuten, sondern vielmehr die Glaubenssätze und Erziehungsmethoden, die speziell in westlichen Ländern für einen unnatürlichen Bezug zu des Menschens ureigenem Orkan geführt haben. Verbote in der Pubertät, erste sexuelle Erfahrungen, die von den Eltern gerügt worden sind oder die Vorstellungen einer sündhaften Selbstbefriedigung: Im Rahmen einer sexualfeindlichen Gesellschaft, wie es die europäische in ihrer religiösen Tradition zweifelsfrei ist, fällt es schwer, Dinge herauszuheben, die sich demgegenüber zwanglos und sinnlichkeitsfördernd darstellen.
Wenn fast jede dritte Internetseite in dem mit Billiarden von Informationen gespickten Internet pornografische Inhalte anbietet, so möge man einwerfen, kann es um das Verlangen und die Auslebung unserer zügellosen Triebe doch nicht so schlecht bestellt sein. Vielmehr handelt es sich hierbei aber um eine besonders prägnante Form der Verdrängung, die sich in digitalen Bildern und Filmen ausdrückt und in der sinnlichen Wirklichkeit dafür ein Gefühl der Leere und Betäubung hinterlassen wird. So werden die Künste der Darsteller für die persönlichen Bedürfnisse projiziert, der Akt selbst bleibt dabei ein mechanischer, den Regeln der funktionellen Moderne unterworfener Prozess. Genuss ja, aber bitte nach den Regeln der Leistungsgesellschaft. »Schneller, höher, weiter« gilt auch für die Sexualität. Sie ist messbar, berechenbar und omnipräsent geworden, ihre eigentliche Kraft, die mit nichts auf der Welt auch nur annähernd beschreibbar wäre, hat sie so verloren.
Es wäre ein Leichtes, einer solchen oberflächlichen Herangehensweise ein spirituelles Konzept wie das der tantrischen Wissenschaft Asiens entgegenzuhalten und auf die sinnliche und darüber hinaus spirituelle Dimension der Sexualität hinzuweisen. Dabei wird aber oft übersehen, dass moderne Tantriker eben jenen Prinzipien der Leistungsgesellschaft nicht minder frönen, indem sie Techniken oder Methodiken anwenden, um ihren Akt noch besser oder schöner zu machen. Immerhin, so sollte man konstatieren, wissen jene Neo-Tantriker, wie man sie heutzutage auch nennen kann, die Genussfähigkeit zu ihrem eigenen Wohle qualitativ zu verbessern. Eine Rückbesinnung zur tatsächlichen Urenergie der Welt ist aber damit nicht vollzogen.
Eingerollt in dreieinhalb Windungen, ruht sie bei jedem Menschen in der Nähe des Steißbeins am Ende der Wirbelsäule: die Kundalini, die sagenumwobene »Schlangenkraft« der Yogis.
Ihre »Erweckung« und das anschließende »Aufsteigen« zum Gehirn soll zu paranormalen Fähigkeiten und zur ekstatischen Vereinigung mit dem Göttlichen führen, und das ist nichts Geringeres als das Endziel jeder Yoga- und Tantra-Praxis.
Wissenschaftliche Forschungen der letzten Jahre belegen, dass die Kundalini-Energie keineswegs bloße Einbildung jahrzehntelang meditierender indischer Asketen ist. Sie existiert tatsächlich, und zwar als ein verborgener »Mechanismus« in jedem Menschen. Mehr noch: Die Tests der Wissenschaftler zeigen auch, dass die »Kundalini-Erweckung«, also das In-Gang-Setzen dieses energetischen Mechanismus, ein neues, weit leistungsfähigeres »Betriebssystem« für Nerven und Gehirn erzeugt. Das Hirn arbeitet dann gewissermaßen mit »Starkstrom«, was im Alltag eine Steigerung der Kreativität, Reaktionsfähigkeit und des allgemeinen Leistungsvermögens bewirkt. Auch außersinnliche Wahrnehmungen und tiefe spirituelle Erfahrungen sollen dann leichter erreichbar sein […].
Jene Urenergie ist nicht nur mächtig und unbeschreiblich, sondern wurde auch von vielen Kulturen in früheren Zeiten wie selbstverständlich integriert. Wenn sich moderne Menschen an indischen oder griechischen Artefakten belustigen, die sexuelle Darstellungen zeigen, vergessen sie oft, wie unbeschwert und tief verankert die Sexualität – als Akt der Liebe und Transzendenz – in diesen gesellschaftlichen Gruppen integriert gewesen ist. Tantra, verstanden als bewusste Annäherung an die Sexualität, ist eine weltweite Konstante gewesen.
Tantra war ein Faden, an dem sich die Menschheit orientierte, weil ihr bewusst war, welche bedeutenden Kräfte dabei zu Tage treten. Ohne sich selbst als Tantriker bezeichnen zu müssen, fällt es auch heute niemanden schwer nachzuvollziehen, warum gerade in diesem Feuer der animalischen Hingabe neues Leben entstehen kann. Die Verschmelzung im Liebesakt geschieht unter höchsten energetischen Prozessen, und auch wenn es nur das Stöhnen davor und das Seufzen danach ist: Es gibt keinen, der nicht spürt, wenn er es einmal erlebt hat, wie tief in den Abgrund der Unendlichkeit man mittels der sexuellen Wirklichkeit tauchen darf.
Widmet man sich dieser Lebenskraft mithilfe der Prinzipien des Kriya-Yoga, entsteht eine umfassendere, tiefere Dimension, ein Bewusstsein, das manchen, wenn sie es wahrnehmen, als Erleuchtung vorkommen kann. Kriya bedeutet wörtlich »Handlung« oder »Tat« und meint im Zusammenhang mit Yoga die regelmäßige Übung und das stetige Studium des Selbst und seiner Verhaltensweisen. Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Weg des Yogi ist Urvertrauen, die völlige Hingabe an den göttlichen Kosmos. Wenn jede Situation, die auf einen zukommt, als genau die richtige angesehen wird, aus der man lernen und sich entwickeln kann, dann ist die spirituelle Reife so weit fortgeschritten, dass man aus den alltäglichen Dramen ausbrechen und sich dem höheren Bewusstsein zuwenden kann. Im Kriya Yoga sind dafür zahlreiche Übungen notwendig, die nicht nur im Rahmen der Sexualität die Wahrnehmung verändern, aber besonders durch das Wesen des Eros so richtig entfaltet werden können.
Sunyata Saraswati und Bodhi Avinasha berichten in ihrem Klassiker »Juwel im Lotos« nicht nur von den Hintergründen jener Tradition, sondern bieten eine Vielzahl an praktischen Übungen an, die das »Yoga der Tat« im Rahmen einer spirituellen Sexualität ermöglichen. Auch wenn sich in ihrem Werk die eine oder andere Sexualpraktik finden lässt, hat es weniger mit dem bekannten, sehr stellungsorientierten Kamasutra zu tun, als vielmehr mit Atem-, Reinigungs- und Wahrnehmungsübungen, die eine unbändige Kraft in sich bergen und darauf warten, in die Tat umgesetzt zu werden. Dies ist auch ein Grund dafür, warum dieses fast 30 Jahre alte Buch, das in vielen Bibliotheken seit Langem vergriffen ist, jetzt im Rahmen einer Neuauflage wieder zugänglich gemacht wird.
Warum ein solches Werk durch zahlreiche Tipps im Internet nicht ersetzt werden kann, ist einleuchtend. Dieser mächtige Schub sexueller Transformationsenergie darf und sollte nur in einem geschützten Rahmen weitergegeben werden, in einem Rahmen, der sich der spirituellen Dimension nicht nur bewusst ist, sondern sie auch behutsam integrieren will.
Es ist garnicht so einfach wie es aussieht, anderen Menschen Hinweise zu geben, wenn es darum gehen kann, den eigenen Orgasmus hinauszuzögern, dass Dritte Auge mit seinem Liebespartner aufeinander einzuschwingen oder die sexuelle Energie von den Genitalien bewusst im ganzen Körper zu verteilen. All das könnte nämlich schnell wieder als mechanische Praxis verstanden werden, die der eigenen Leistung, aber nicht dem Höheren Selbst zugute kommt. Hier bedarf es einer erfahrenen und transformierten Energie, die aus der reinen Technik ein spirituelles Erwachen werden lässt. Der Grat zwischen einem erleuchteten Wesen, das in seiner Ekstase die eigene Rückbesinnung wahrnehmen darf, und einem sexsüchtigen Pragmatiker, der sein Ego aufpolieren will, ist schmal. Dessen sollte man sich bewusst sein, wenn man, wie die Autoren es nicht nur theoretisch andeuten, sondern auch praktisch darstellen, aus einer Zehnminutennummer (»amerikanischer Sex«) einen mehrstündigen Hochgenuss der Sinnlichkeit werden lässt. Der höchste Orgasmus ist keine Leistung, sondern ein Geschenk.
Eine besondere Rolle kommt in diesen Praktiken des Kriya-Yoga der Kundalini zu, einer so bezeichneten Schlangenenergie, die sich aus yogischer Sicht am Grunde des Steißbeins befindet und dort mit Hilfe verschiedener Techniken erweckt werden kann. Ist sie einmal aktiv, steigt sie die Wirbelsäule empor und bewegt sich durch die Lebenszentren, die Chakras, wodurch entsprechende Kräfte freigesetzt werden, die dort beheimatet sind. Einmal am Scheitelpunkt des Kopfes angelangt, ermöglicht die Kundalini eine einheitliche Befreiung oder Erlösung. Aus Sicht der yogischen Spiritualität ist diese Erweckung das eigentliche Ziel menschlicher Inkarnation. Wer jenes Schlangenfeuer zu beherrschen weiß, kann gewaltige und ekstatische Kräfte erzeugen. Genauso gut können damit aber auch beunruhigende Energien in Gang gebracht werden, da die Kundalini schnell eine große Menge unterdrückten Bewusstseins – im wahrsten Sinne des Wortes – an die Oberfläche schießen lässt. Deswegen ist auch hier Vorsicht und eine behutsame Annäherung zu empfehlen.
Grundlegende emotionale Traumata und Verhaltensauffälligkeiten werden nicht durch Yoga oder Tantra geheilt, sondern gelten zuvorderst als Aspekte eines Bewusstseins, die es anzunehmen und zu transformieren gilt, bevor man sich jenen göttlichen Energien öffnen kann.
Insbesondere kann man sich dann einer geheimnisvollen Atemtechnik zuwenden, die lange Zeit geheim gehalten wurde und »Kobra-Atmung« genannt wird. Sie bereitet wie keine andere den kontrollierten Aufstieg der Kundalini-Energie vor und ist dabei eng an Verschlusspraktiken der Geschlechtsorgane, des Afters und der Zunge gebunden. Mit Hilfe der Kobra-Atmung kann die Kundalini erweckt werden und die sexuelle Energie im Körper nach oben geleitet. Dies wirkt besonders der geläufigen Form entgegen, bei der die Energie nach unten fließt und sich verflüchtigt.
Tantriker sagen, die Form des gewöhnlichen Sex zehre den Menschen aus und schwäche ihn. Mit diesem Werkzeug kann man den Energiefluss umkehren, um sich mit seinem inneren Wesen wirklich zu verbinden.
Wie bei allen anderen Kundalini-Übungen werden bei regelmäßiger Praxis mehrere positive Wirkungen erzielt: Die Wirbelsäule als zentraler Energiekanal wird frei und durchlässig, die einzelnen Chakras werden aufgeladen und entfalten ihre ganze Kraft und die männlich-weibliche Balance im körperlichen Energiesystem harmonisiert sich. Am Ende steht der Aufstieg der Kundalini-Kraft durch die Wirbelsäule und die damit einhergehende Verbindung von Becken und Kopf, Shakti und Shiva oder unten und oben. Die im Körper vollzogene Hochzeit von Erde und Himmel ist die selbstverständliche und unvermeidliche Konsequenz. Diese Analogie führt weit über die Sexualität hinaus und stellt die Verschmelzung der Gegensätze dar, die Verbindung von Mann und Frau, das Durchdringen von Hell und Dunkel, den fließenden Strom von Plus und Minus. Es ist nicht nur eine menschliche, sondern eine göttliche Herausforderung, diese scheinbaren Gegensätze ineinander zu verweben.
Warum dieser Akt so kostbar und mächtig ist, haben Sie im Rahmen auch einer nicht spirituellen Sexualität bereits erfahren. Welche Kräfte freigesetzt werden können, wenn diese Energien bewusst und nach den Prinzipien des Tantra ausgeführt werden, kann man mit Worten nur schwer beschreiben.
Die Möglichkeiten, die sich auch in einer vermeintlich globalisierten Welt dem westlichen Praktiker dadurch ergeben, indem er sich dem östlichen Lebensweg öffnet, sind grenzenlos. Das »Juwel im Lotos« gibt Zeugnis davon und die dort beschriebene Hong-Sa-Meditation ist ein fundamentaler Beleg dafür, wie nicht nur die eigene Sexualität inspiriert werden, sondern auch die yogische Meisterschaft des höchsten Bewusstseins erlangt werden kann. Bei dieser Meditation wird mittels einer bestimmten Technik der Atemfl uss so gesteuert, dass er an einem bestimmten Punkt eine Weile gänzlich aufhört. Die Yogis nennen dies »todloser Tod« oder »Atem Gottes«.
Bezogen auf die Sexualität kann so aus dem Gefühl der Erschöpfung des vielbesagten »kleinen Todes« nach einem Akt ein gänzlich neues Erleben aufsteigen. Kein Absterben, sondern ein Erwachen, kein Ausleeren, sondern ein Erfüllen. Kein Akt, sondern Liebe.
Juwel im Lotus: Ein Kurs in der Wissenschaft des Tantrischen Kriya-Yoga
256 Seiten, 14,80 €
ISBN: 978-3862643530
Hans Nietsch Verlag