Ohne Schlamm kein Lotos

Unsere Suche nach Glück ist ein ständiges Unterfangen – und doch ziemlich absurd. Es ist eine Illusion zu glauben, dass Glück dauerhaft sei. Es gehört zu den schwierigsten Dingen im Leben, zu akzeptieren, dass es keinen Bereich gibt, in dem nur Glück allein existiert. Doch hat man dies einmal geschafft, wird man paradoxerweise glücklicher …

lotosWenn wir uns immer nur auf das Erlangen von Glück konzentrieren, betrachten wir das Leid häufig als etwas, dem wir Widerstand entgegensetzen müssen. Oder wir ignorieren es. Wir sehen es als etwas an, das uns auf dem Weg zum Glück in die Quere kommt. Doch menschliches Glück beinhaltet immer das volle Paket an Erfahrungen und dazugehörigen Gefühlen – angenehmen wie unangenehmen.

Der beste Weg, um tatsächlich mehr Positives zu erleben, ist die Akzeptanz dieser Tatsache. Im Grunde bedeutet diese Akzeptanz Liebe: Wir nehmen negative Gefühle und Erfahrungen an und umarmen sie. Statt sie abzublocken oder vor ihnen wegzulaufen. Wir kümmern uns um sie, fühlen sie, und dies führt erfreulicherweise dazu, dass sie nachlassen. Unser Leid anzuerkennen ist damit ein Weg, um mehr Glück im Leben zu verspüren. Und eigentlich leuchtet es ein, wie wichtig eine solche Akzeptanz ist: Wir begegnen ja nur uns selbst, wenn wir unseren leidvollen Gefühlen bewusst begegnen. Wir nehmen uns an, wie wir sind.

Wie Yin und Yang

»Die Fähigkeit, Glück zu erfahren, setzt nicht die vollständige Abwesenheit von Leid voraus. In Wahrheit besteht die Kunst des Glücks auch in der Kunst, auf gute Weise zu leiden«, sagt der in Vietnam geborene buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh. In seinen Seminaren und Büchern lehrt er besonders diese einfache Wahrheit. Glück und Leid können ihm zufolge nie getrennt voneinander betrachtet werden. Dies sei genauso irrig wie die Annahme, es gäbe eine linke Seite ohne eine rechte.

»Die meisten Menschen fürchten sich davor zu leiden. Doch das Leiden ist eine Art Schlamm, der die Lotosblüte des Glücks zum Erblühen bringt. Es gäbe keine Lotosblüte ohne den Schlamm.«
Thich Nhat Hanh

Schmerz und Freude hängen voneinander ab – ohne Leid wäre Freude ein Zustand, der bald zu einer Gewohnheit würde, die uns nicht mehr erhebend vorkäme. Freude und Leid gehen oft nahtlos ineinander über, können sogar gleichzeitig erfahrbar sein. Sie verändern sich ständig, wie alles im Leben. Dem können wir uns nicht entziehen. Festhalten bringt hier gar nichts.

Wir müssen nicht auf das Ende allen Leids warten, bevor wir glücklich sein können. Das Glück ist hier und jetzt erfahrbar. Doch wir müssen unsere Vorstellung von Glück verändern, denn diese ist unser größtes Hindernis, wahres Glück zu erleben. Der Knackpunkt liegt in unserer Bewertung einer Erfahrung, unserer emotionalen Reaktion auf den Schmerz, der Geschichte, die wir darum weben. Statt nun allerdings dazu überzugehen, sie einfach positiv zu bewerten, kann man Gefühle auch einmal lediglich … fühlen.

Lotosblüten

»Lotosblüten benötigen Schlamm, um zu wachsen. Der Schlamm riecht nicht gut, doch die Lotosblüte duftet wunderbar«, sagt Thich Nhat Hanh. Dieses Sinnbild der engen Beziehung von »gut« und »schlecht« repräsentiert jeden Lebensprozess. Leid hat immer auch nützliche Aspekte, die das Wachstum fördern.

Das Grundproblem des modernen Menschen besteht darin, dass er nicht mit dem Leid in sich umzugehen weiß und es mit allen möglichen Arten von Konsum zu verdecken versucht. Um es zu vermeiden, ist er ständig auf der Hut und in Sorge. Das Gegenteil von Entspannung. Sobald er mit sich alleine ist, hat er Angst, dass das Leid in ihm, die Verzweiflung, die Wut und Einsamkeit ihn überwältigen könnten. Doch solange er nicht fähig ist, seinem Leid zu begegnen, klopft das Leid immer wieder an seine Tür, während das Glück daran vorbeigeht. Was wir brauchen, sind Mut und Präsenz.

Achtsamkeit

Präsenz ist Achtsamkeit. Es die Fähigkeit, im gegenwärtigen Moment zu bleiben und zu merken, was hier und jetzt geschieht. Unser Geist ist anwesend wenn wir gehen, wenn wir essen, wenn wir eine Bewegung machen. Und wir halten inne, wenn ein unangenehmes Gefühl auftaucht und lassen es zu. Tiefes bewusstes Atmen kann diesen Prozess unterstützen. Hanh empfiehlt dazu eine Reihe von einfachen, aber effektiven Atemübungen, wie z.B. die Konzentration auf zwei Sätze, während man atmet: »Einatmend bin ich mir des schmerzhaften Gefühls in mir bewusst. Ausatmend bin ich mir des schmerzhaften Gefühls in mir bewusst.« Der Prozess des bewussten Erlebens unserer Emotionen kann auf diese Weise heilend wirken.

»Achtsamkeit ist eine Quelle der Freude, eine Quelle des Glücks«, sagt Thich Nhat Hanh. Sie hilft, die vielen kleinen Glücksmomente, die das Leben bereithält, wieder wahrzunehmen, zu genießen und auszudehnen. So kann das einfache Gehen zu einer Meditation werden, bei der jeder Schritt Freude macht. Ob Sie eine Tasse Tee trinken, einen Spaziergang machen oder einfach sitzen und schauen, immer können Sie dabei Glück verspüren.

»Wenn Sie morgens aufwachen, sollten Sie als Erstes achtsam ein- und ausatmen und sich bewusst machen, dass Ihnen 24 nagelneue Stunden zur Verfügung stehen. Das ist das Geschenk des Lebens«, so Hanh.

Unsere Ahnen

Nicht immer ist das Leid, das wir verspüren, nur unser eigenes. Wir sind mit anderen Menschen und besonders mit unseren Eltern und Vorfahren verbunden. Häufig tragen wir unerlöstes Leid mehrerer Generationen in uns. Wenn wir nicht wissen, woher ein bestimmter Schmerz kommt, können wir versuchen, die tieferen Ursachen zu entdecken. Manche Formen des Leids werden von Generation zu Generation weitergegeben, weil niemand gewusst hat, wie es geheilt werden kann. Wenn es uns heute gelingt, unser Leid zu umarmen, umarmen wir auch unsere Vorfahren.

Gerade dann, wenn etwas unangenehm wird, sollten wir achtsam werden, damit wir altes Leid mehr und mehr transformieren können. Und natürlich bereichert Achtsamkeit auch das Leben während allen anderen Phasen. Achtsamkeit bedeutet Anwesenheit. Wenn wir nicht wirklich da sind, können wir auch nicht leben und auch nicht lieben – weder uns noch andere.

Buchtipp
Thich Nhat Hanh
Ohne Schlamm kein Lotos
Die Kunst, Leid zu verwandeln

160 Seiten, 18,00 €
ISBN: 978-3-485-02845-5
nymphenburger Verlag