Lebenskrisen werden Lebenschancen

Verena Kast ist Psychotherapeutin, Dozentin am C.G.-Jung-Institut in Zürich, Professorin an der Universität Zürich, Vorsitzende der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie und nicht zuletzt erfolgreiche Autorin zahlreicher Bücher. Es war uns eine besondere Freude, sie zum Gespräch über den kreativen Umgang mit Krisen und Ängsten einzuladen.

newsage: In Ihren Büchern beschreiben Sie unter anderem, wie Krisen in Chancen umgewandelt werden können, nicht nur in Bezug auf Trauerfälle, sondern auch in Bezug auf Scheidungen oder Trennungen.
Kast: Die Dynamik des Verlustes, ob im Trauerfall oder bei einer Scheidung, ähnelt sich, ist aber auch nicht ganz gleich. Wir sind auf andere Menschen angewiesen. Einerseits wollen wir uns binden, mit anderen zusammengehören. Andererseits müssen wir aber auch autonom sein, für uns selber schauen. Integrität ist ganz wichtig. Selbstaufgabe für einen anderen bekommt einer Beziehung eigentlich nie. Wir dürfen uns selbst nicht aufgeben – das gehört zur Würde des Menschen.

Nehmen wir zum Beispiel einen Trauerfall. Wenn der Partner stirbt, dann ist die Bindungsperson, zu der wir gehen, wenn uns etwas beschäftigt, plötzlich nicht mehr da. Das nennen wir eine „Verlustkrise“. Ein innerer Prozess setzt ein, in dem wir uns von dem Menschen, den wir verloren haben, ablösen, doch gleichzeitig versuchen wir alles, was in der Beziehung zu diesem Menschen in uns gewachsen ist, aufrechtzuerhalten. Jeder Mensch, mit dem wir zusammen sind, belebt ganz bestimmte Aspekte in unserer Psyche, er „liebt bestimmte Aspekte aus uns heraus“. Das müssen wir nicht verloren geben, auch wenn dieser Mensch nicht mehr in unserem Leben ist.

Trauern ist ein langer Prozess und braucht viel Zeit. Es ist Erinnerungsarbeit. Wie bin ich mit diesem Menschen zusammen geworden? Was war wichtig in unserem Leben? In der Erinnerung können wir eine Beziehung noch einmal zurückholen und uns gleichzeitig von ihr trennen. Das, was wichtig ist, behalten wir in unserer Persönlichkeit. Am Schluss des Trauerprozesses sind wir dann mehr bei uns selbst, als wir es vorher waren. Zwar beraubt – der Mensch ist nun nicht mehr bei uns –, aber wir sind mehr bei uns selbst und können uns auch wieder auf eine neue Beziehung einlassen.

newsage: Bei Trauerprozessen helfen uns auch althergebrachte Rituale. Im Fall einer Scheidung haben wir jedoch nichts dergleichen …
Kast: Es wird heute tatsächlich stark nach solchen Ritualen gesucht und manche Menschen veranstalten inzwischen Trennungsgottesdienste. Trennung ist in unserer Gesellschaft aber einfach nicht vorgesehen. Sie gilt als Scheitern. Wenn sich aber die Hälfte aller Menschen trennt, wenn das so oft geschieht, dann ist das ja nichts, was man wirklich als Scheitern bezeichnen kann. Es ist etwas, das vorkommt, und es muss auf irgendeine Weise eingebunden werden. Früher ist man weggezogen und hat über das Vergangene geschwiegen; auch heute wird es oft noch verschwiegen. Es sollte aber etwas sein, über das man öffentlich reden darf und muss. Es ist ja auch ein Verlust. Wenn der Partner gestorben ist, kann man sich sagen: „Es war eine große Liebe bis zum Schluss“, selbst wenn es nicht stimmt. Bei einer Trennung kann man das jedoch nicht aufrechterhalten. Also ist man auch noch an der Liebe schuldig geworden, nicht nur am Partner, und daher ist es sehr wichtig, Rituale zu entwickeln.

newsage: Sie beschreiben in diesem Zusammenhang verschiedene Möglichkeiten beispielsweise symbolische Handlungen, Versöhnungsrituale …
Kast: Ja, man kann zum Beispiel aus dem Ehering ein anderes Schmuckstück machen, einfach aus dem Grund, nicht so zu tun, als wenn die Ehezeit nicht gewesen wäre. Die meisten Ehen fangen ja mit sehr vielen Hoffnungen an. Ein neues Schmuckstück zu machen heißt: Es hat diese Zeit meines Lebens gegeben, ich will sie wertschätzen. Ich will mich und den Partner wertschätzen, aber jetzt geht es einfach weiter. Das ist ein symbolisches Ritual.

Versöhnung gibt es nicht sehr oft, sondern eher so etwas wie „Wir lassen es einfach gut sein“. Auch das ist wichtig, weil man dem verflossenen Partner nicht so eine Macht über sich gibt. Die Menschen, die immer noch sagen: „Hätte er oder hätte sie nicht …“, und sich dann nachts im Bett hin- und herwälzen, geben dem Partner ja eine ungeheure Macht. Das „Gut-sein-Lassen“ erfordert einen großen Prozess.

Man muss ja zunächst einmal herausfinden, was eigentlich geschehen ist. Es geht um die Wahrheitsfindung. Wie haben wir aufeinander eingewirkt, dass es so gekommen ist, wie wir es eigentlich nicht wollten? Wenn man feststellt, dass beide etwas dazu beigetragen haben, kann man möglicherweise empathisch aufeinander zugehen und dann kann es auch so etwas wie ein Versöhnungsritual geben.

Ein schönes Versöhnungsritual ist es zum Beispiel, wenn man zusammen an einen Ort geht, an den man oft miteinander gegangen ist, und sich noch einmal sagt, was gut war und was bedauerlich, und dass man dann von diesem Ort aus getrennt in die neuen Wohnungen geht. Es ist ein Versöhnungs- und Trennungsritual zugleich.

newsage: Noch einmal kurz zu den symbolischen Ritualen: Beim Einschmelzen der Ringe, sagen Sie, muss man aufpassen, dass man daraus keine Kette macht …
Kast: (Lacht) Ja, unbewusst würde das ja heißen, ich bleibe trotzdem an dich gekettet. Eine Kette sollte man also nicht daraus machen. Dann schon lieber eine Anstecknadel oder einen Ohrring.

newsage: Krisen stehen auch im Zusammenhang mit der Individuation, um einen Begriff aus der Jung‘schen Psychologie zu verwenden. Es ist also nicht nur ein geflügeltes Wort, dass wir an Krisen wachsen oder wachsen können?
Kast: Wir können an Krisen wachsen, wir können aber natürlich auch untergehen. Wir Psychologen verstehen Krisen in dem Sinne, dass die Anforderungen des Lebens und unsere Möglichkeiten, damit umzugehen, nicht mehr übereinstimmen. In eine Krise geraten wir dann, wenn wir zu lange einseitig gelebt haben oder uns auch zu lange gegen eine Entwicklung gesträubt haben. Deshalb kann man es mit dem Individuationsprozess zusammenbringen, dass die Krisen uns zu der Frage führen: „Wer bin ich wirklich? Was vermag ich an Gutem, was an Schlechtem?“ Es geht ja nicht nur darum zu sehen, was wir alles Wunderbares sind, sondern auch, was wir imstande sind, Schlechtes zu tun.

In einer Krise spitzt sich das Leben zu. Ich spreche jetzt nicht von den kleinen oder mittleren Krisen, mit denen wir ja meist ganz gut zurechtkommen. Wenn man aber merkt, es gibt einfach nur noch ein Thema und dieses ist absolut im Vordergrund, es gibt nur eine Emotion und das ist Angst, vielleicht noch Wut, dann werden wir panisch und es fällt uns nichts mehr ein. Dann brauchen wir in der Regel einen anderen Menschen, der uns einfach einen anderen Blickwinkel eröffnet. Die beste Frage im Zusammenhang mit einer Krise ist: „Wie sind wir früher schon einmal mit einer Krise umgegangen?“ Denn die meisten haben ja schon verschiedene Krisen bearbeitet. Wir haben Krisenkompetenz. Wenn man sich daran erinnert, dass man da auch nicht umgekommen ist, dann kann man wieder atmen, dann kommen sofort unsere Einfälle wieder.

newsage: Krisenkompetenz ist ein guter Stichpunkt – die Möglichkeit zu sehen, wie man aus der Krise rauskommt. Aber eine echte Krise ist ja ein finsteres Tal, in dem man nicht allzu gut sieht…
Kast: Ja, so eine Krise ist total. Sie legt sich über das ganze Leben. Sie legt sich auch über die ganze Zeit, sodass man das Gefühl hat, es wird nie mehr besser. Genau deshalb sollte man sich an seine eigene Krisenkompetenz erinnern – man muss diese nicht erst während der Notsituation entwickeln, sie hat sich schon zuvor entwickelt, indem man viele Krisen durchgestanden hat. Wann hatte man schon Krisen? Wie haben sich diese gelöst? Manchmal lösen sie sich ja auch durch die Gunst des Schicksals. Und manchmal fällt auch einem anderen Menschen mal was Kluges dazu ein.

newsage: Es gibt natürlich Verdrängungsmechanismen, die einen immer wieder zurückwerfen. Dass man nicht kreativ mit der Krise umgeht, sondern eher in alte Muster zurückfällt, die das Problem nur scheinbar lösen.
Kast: Ja, klar. Sobald wir Angst haben, befahren wir alte Autobahnen in unserem Gehirn. Man muss da aber aufpassen. Ich denke da gerade an einen Mann, der in Krisensituationen immer eine Fahrradtour von 100 Kilometern macht. Auf den ersten Blick würde man sagen, er wehrt ab und verdrängt die Krise. Wenn er aber nach seinen 100 Kilometern zurückkommt, hat er plötzlich eine Idee. Manchmal hilft es, wenn man etwas ganz anderes tut. Körperliche Ertüchtigung, etwas zu tun, was einen freut, ist da oft gar nicht schlecht. Dann kommt plötzlich wieder eine Idee. Man darf Krisen aber auch nicht idealisieren. Wenn Sie an Suizidkrisen denken, in denen die Menschen eben nicht aus der Krise finden, besonders die, die nicht zu einem anderen Menschen gehen. Es gibt in Deutschland bestimmt auch so etwas wie „Die dargebotene Hand“ oder „Telefonseelsorge“.

newsage: Ja.
Kast: Es ist im Zusammenhang mit Suizidalität etwas ungeheuer Wichtiges, weil das Reden mit einem anderen Menschen bewirken kann, dass man wieder ein bisschen Hoffnung hat oder an den richtigen Stellen Hilfe sucht. Wenn man das nicht tut und diese Menschen dann nicht mit anderen Menschen reden, dann bringen sich viele einfach um.

newsage: In den Medien werden heutzutage viele Ängste geschürt. Arbeitslosigkeit oder Scheidungsraten werden diskutiert – es wird eine Negativität aufgebaut, die große Angst hervorruft. Wie beurteilen Sie solche mediengeschürten Ängste und wie geht man am besten damit um?
Kast: Ich finde das ganz problematisch, denn wenn wir uns ängstigen, werden wir ja ein bisschen dumm. Wir verlieren unsere Kompetenz im Umgang mit dem Leben, und wenn wir uns ängstigen, sind wir natürlich viel anfälliger für Menschen, die uns ein Rezept geben, und das kann dann natürlich auch ein politisches Rezept sein. Grundsätzlich ist es natürlich nicht so, dass man das verbergen sollte, was uns ängstigt. Was mir aber fehlt, ist der Hinweis auf die Ressourcen, auf die Fähigkeiten in uns, mit Krisen und Ängsten umzugehen. Wenn immer nur einseitig die Angst betont wird und nicht auch, dass wir Menschen durchaus Möglichkeiten haben, mit der Angst umzugehen, dann wird es sehr einseitig und hilft den Menschen nicht, Krisen wirklich durchzustehen. Es führt dann eher dazu, dass man resigniert oder den Eindruck gewinnt, man müsse ein Medikament gegen die Angst schlucken.

newsage: Eines Ihrer Bücher trägt den Titel „Vom Sinn der Angst“. Können Sie uns dazu etwas sagen?
Kast: Angst heißt, man fühlt sich von einer Gefahr ergriffen. In einer Situation gefangen, in der man nicht weiß, was zu tun ist. Es gibt viele Möglichkeiten zum Umgang mit der Angst, wie etwa sich der Angst zu stellen. Es gibt nun aber Ängste, wo wir sagen: „Ne, da lassen wir die Finger davon.“ Wenn wir uns aber den Ängsten überhaupt nicht stellen, liegen wir am Schluss im Bett und haben sogar Angst vor der Luft um uns herum. Man muss manchmal „kontraphobisch“, als wenn man den Teufel nicht fürchten würde, der Angst entgegentreten, statt ihr nachzugeben, weil man sonst das eigene Leben verpassen würde.

Man muss oft auch einen Mittelweg finden. Die Angst ist ja dadurch gekennzeichnet, dass wir körperlich Angst haben – unser Leib hat Angst. Wir sind erregt, verkrampft und verspannt. Deshalb sind alle Möglichkeiten, den Körper zu entspannen, auch angstlösend, selbst wenn wir zunächst gar nicht daran denken. Wenn wir Joggen oder Tanzen gehen, hilft uns das, mit der Angst umzugehen.

Ein anderer, ganz wichtiger Aspekt ist, dass wir, wenn wir Angst haben, eine Bindungsperson suchen. Das können unsere Eltern, Partner oder Freunde sein. Man kann aber auch sehr wohl mit einem, den man irgendwo trifft, zum Beispiel mit einem Taxifahrer, über seine Ängste reden. Man muss mit anderen Menschen über seine Ängste reden. Es ist aber wichtig, die Ängste nicht an den anderen abzugeben – das machen viele irrigerweise.

Dann muss man das Thema der Angst anschauen: Was macht mir wirklich Angst? Vieles stammt noch aus einem lebensgeschichtlichen Überhang. Angenommen, es gibt Menschen, die haben furchtbare Angst vor Autoritäten. Da ist ja wahrscheinlich etwas aus der Kindheit nicht aufgearbeitet.

Es gibt aber auch Dinge, da ist es in Ordnung, Angst zu haben. Da gilt es, unser Selbstwertgefühl und eben auch unsere Krisenkompetenzen stärken. Ja, wir haben Angst, dass wir, wenn wir mit anderen Menschen nicht gut umgehen, plötzlich allein dastehen. Das ist auch sinnvoll. Wie wollen wir damit umgehen?

Es gibt, wie gesagt, ganz viele Möglichkeiten, mit der Angst umzugehen. Wenn ich zum Beispiel Angst habe vor einem Gespräch, dann kann ich in meinem Kopf das Gespräch x-mal durchgehen und schauen, wie könnte dieses Gespräch ausgehen. Dann helfen uns auch oft Träume – sie „verträumen“ unsere Angst. Wir haben recht viele Träume mit Angst oder erinnern sie wahrscheinlich am meisten, weil wir die Träume am ehesten erinnern, die mit Emotionen verbunden sind. Da gibt es sehr interessante Dinge, wenn man sie sich einmal anschaut.

Wenn wir zum Beispiel im Traum abstürzen, schauen wir uns plötzlich zu … also wir sind zuerst die, die abstürzen, dann schauen wir uns zu, und dann verlangsamt sich der Fall und irgendwann schlägt man entweder gar nicht auf der Erde auf oder nur ganz sanft. Das sind Methoden, die wir auch im Alltag haben. Wenn wir uns sehr ängstigen, sagen wir uns: „So, jetzt nimm mal Abstand. Atme tief durch und zähl auf Zehn.“ Das hat sogar physiologisch seinen Sinn – dann schaut man aus einer gewissen Distanz zu.

newsage: Wo wir beim Thema sind: Ich hatte noch Jahre nach meinem Abitur den immer wiederkehrenden Traum, das Abitur machen zu müssen. Das scheint ein recht verbreiteter Traum zu sein, von dem mir auch schon Freunde berichteten.
Kast: Das ist tatsächlich eine sehr verbreitete Geschichte und wissen Sie, das wird auch nicht aufhören. Ich habe einen 89jährigen Mann gekannt, der noch kurz vor seinem Tod geträumt hat, er müsse noch das Abitur machen. Er hat sich im Traum auch gleichzeitig daran erinnert, dass er schon längst seinen Doktor gemacht hat. Das ist so ein Traum, der immer wiederkehrt. Er ist natürlich auch symbolisch interessant. Was versteht man denn alles unter „Reifeprüfung“?

newsage: Man scheint den Reifeprozess also nie wirklich abzuschließen?
Kast: Ja, genau.

newsage: Frau Kast, welchen Rat würden Sie unseren Lesern zum Abschluss gern mit auf den Weg geben?
Kast: Wenn man sich diesen Emotionen, die im ersten Moment verstörend wirken, stellt, dann können diese sehr hilfreich werden.

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