Heutzutage erleben wir immer häufiger, dass die Wahrheit manipuliert wird und nur noch eine Frage der Auslegung und Interessen zu sein scheint, ganz gleich ob in Bereichen der Politik und Wirtschaft, in den Medien oder im Privaten. Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind in der christlichen Tradition zwei wichtige Werte und Haltungen, denen Pater Anselm Grün in seinem neuen Buch nachgespürt hat.
newsage: Gerade in Zeiten der Krise und der Ungewissheit sehnen wir Menschen uns nach einem Fels in der Brandung, nach festem Land im Meer der Beliebigkeit. Kurz: nach Wahrheit und Verlässlichkeit. Sie haben sich intensiv mit der Frage nach der Wahrheit auseinandergesetzt und sie in Ihrem neuen Werk aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen? Was ist Ihr eigenes Verständnis von Wahrheit?
Pater Anselm: Für mich ist das griechische Verständnis von Wahrheit wichtig geworden. Wahrheit als „aletheia“ meint, dass der Schleier, der über allem liegt, weggezogen wird. Ich schaue die Wirklichkeit so, wie sie ist. In diesem Sinn hat auch das Johannesevangelium die Wahrheit verstanden. Wir nehmen die Brille weg, mit der wir die Wirklichkeit verfälschen, und schauen die Wirklichkeit im Licht Gottes. Jesus selbst sagt von sich, dass er die Wahrheit ist. Die Wahrheit macht uns frei. Sie gibt uns den Mut, uns selbst so zu sehen, wie wir wirklich sind. Genauso wichtig ist mir aber auch der hebräische Begriff von Wahrheit, der mehr Zuverlässigkeit bedeutet. Das deutsche Wort „Wahrheit“ hat von seiner Wurzeln her mit Vertrauen zu tun. Ich sage nur dem die Wahrheit, dem ich vertraue. Und umgekehrt vermittle ich Vertrauen, wenn ich die Wahrheit sage.
newsage: Was bedeutet es praktisch, in der Wahrheit zu leben? Wahrhaftig zu sein?
Pater Anselm: Wahrhaftig sein heißt, dass ich mir die Dinge nicht zurecht biege. Ich schaue die Welt so an, wie sie ist. Und ich schaue mich so an, wie ich bin. Ich mache mir kein Idealbild von mir selbst, um meiner Durchschnittlichkeit auszuweichen. Wahrhaftigkeit hat für mich immer auch mit Demut zu tun, mit dem Mut, hinabzusteigen in die Tiefen meiner Seele und mich auch mit dem Dunklen und Unbekannten in mir auszusöhnen.
newsage: Besonders interessant fand ich Ihre Abhandlungen über Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Umgang mit sich selbst. Sie empfehlen nicht nur die aus der katholischen Tradition bekannte Gewissenserforschung, sondern auch den Zugang über den Körper?
Pater Anselm: Früher hat man die Wahrheit über sich vor allem in der Gewissenserforschung erkannt. Das ist natürlich nach wie vor ein guter Weg. Ich frage mein Gewissen, ob ich mit meiner inneren Wahrheit übereinstimme oder aber ob ich mich selbst verfehle und an mir vorbeilebe. In der geistlichen Tradition wurde aber auch schon das geübt, was heute die Psychologie neu entwickelt hat: Ich höre auf meinen Leib. Mein Leib sagt mir, wo etwas nicht stimmt. Ich kann z.B. sagen: Ich vertraue auf Gott. Ich glaube an Gott. Aber meine hochgezogenen Schultern zeigen, dass ich voller Angst bin. Oder ich denke, ich sei ganz ruhig. Aber mein unruhiger Atem zeigt mir meine innere Unruhe an.
newsage: Dann ist da natürlich die Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander – etwas, das in unserer heutigen Gesellschaft mit all ihren Erwartungen und Maßstäben gar nicht so einfach ist. Wie entgeht man dem alltäglichen „Tanz der Eitelkeiten“ und den Fallstricken der „Selbstinszenierung“, ohne dabei gesellschaftlichen Schiffbruch zu erleiden?
Pater Anselm: Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander meint einmal, dass ich mich vor den andern so gebe, wie ich wirklich bin. Zum anderen bedeutet es auch, dass ich die Wahrheit sage, dass ich zuverlässig bin, dass man sich auf mich verlassen kann. Schon das Sprichwort sagt, dass Lügen kurze Beine haben. Lügen werden irgendwann aufgedeckt. Auf Dauer tue ich mir keinen Gefallen, wenn ich die Wahrheit verbiege. Wer es nicht nötig hat, sich in der Öffentlichkeit besser zu geben, als er ist, oder irgendeine Rolle zu spielen, der wird auf Dauer mehr geachtet werden als die Menschen, die es nötig haben, sich ständig selbst zu inszenieren. Doch die Wahrheit ist zweckfrei. Ich bin nicht wahrhaftig, um besser anzukommen. Vielmehr bin ich wahrhaftig, weil das für mich stimmt und weil ich es nicht nötig habe, von allen anerkannt zu werden. Gerade wenn ich frei bin von der Sucht, überall anzukommen, werde ich auf Dauer mehr Achtung erfahren. Natürlich stoße ich mit der Wahrhaftigkeit immer auch an und werde angefeindet. Aber das ist das Problem derer, die die Wahrheit nicht vertragen können.
newsage: Sie fordern auch mehr Wahrhaftigkeit von unseren Politikern und Wirtschaftsbossen. Scheinbar ist es heute unmöglich, in Politik, Wirtschaft und Finanz erfolgreich und gleichzeitig ehrlich zu sein. Als Celerar der Abtei Münsterschwarzach führen Sie allerdings selbst ein Unternehmen – offenbar mit viel Erfolg. Wie gelingt Ihnen das und hilft Ihnen die Wahrhaftigkeit dabei?
Pater Anselm: Im Umgang mit den Firmen ist Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit nach wie vor die Bedingung, dass man fair und letztlich auch kostengünstig auf lange Zeit hin zusammen arbeiten kann. Firmen, die keine Werte leben, werden wertlos. Mit ihnen will niemand mehr zusammen arbeiten. Werte machen eine Firma wertvoll. Wer den Wert der Wahrhaftigkeit schätzt, der wird auf Dauer auch finanzielle Werte schöpfen. Wer andere betrügt, wird auch von ihnen betrogen. Wer ehrlich ist, wird Ehrlichkeit ernten. Wer wahrhaftig ist, wird auch in den anderen die Wahrhaftigkeit hervor locken.
newsage: Sie sagen, in der Wahrheit zu sein und wahrhaftig zu sein, spare Energie, sei heilsam und mache frei. Können Sie das näher erläutern?
Pater Anselm: Schon Jesus sagt im Johannesevangelium: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh. 8,32) Viele Menschen sehnen sich heute danach, zur Ruhe zu kommen. Aber sobald alles still ist um sie, geraten sie in Panik. Oft ist es die Angst, in der Stille der eigenen Wahrheit zu begegnen. Da könnte ich erkennen, dass ich an mir vorbei lebe, dass mein Leben nicht mehr stimmig ist. Nur wer sich der eigenen Wahrheit stellt, kommt letztlich zur Ruhe. Und ohne Ruhe sind wir schnell überfordert. Die Ruhe ist heilsam. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist: Wahrheit spart Energie. Wer lügt, braucht viel Energie, um sein Lügengebäude aufrecht zu erhalten. Und er lebt ständig in der Angst, dass das Lügengebäude irgendwann doch zusammenbricht. Die Angst verbraucht viel Kraft. Angst weckt keine Energie in uns, sondern lähmt sie eher. Daher ist die Wahrhaftigkeit immer auch ein Energiespender.
Von Wahrheit und Wahrhaftigkeit
128 Seiten, € 9,95
ISBN: 978-3-579-06494-9
Gütersloher Verlagshaus