Betrachte immer die helle Seite der Dinge!
Und wenn sie keine haben?
Dann reibe die dunkle, bis sie glänzt!
(Sprichwort)
„Zwerge sind die kleinsten unter den Naturgeistern. Sie sind wie Kinder: süß, verspielt, haben nichts als Flausen im Kopf, machen ständig Dummheiten und sagen unverblümt die Wahrheit“, schreibt die Autorin Annekatrin Puhle in dem wohl umfangreichsten aktuellen Buch über Zwerge, das sich zur Zeit finden lässt. Zwerge sind Naturgeister, die dem Element Erde zugeordnet werden. Sie leben oft direkt in der Erde, in Bergen und bei, unter oder in Bäumen. Sie tauchen in der Märchen- und Mythenwelt seit Jahrtausenden auf.
Allein im deutschsprachigen Raum finden sich Tausende und Abertausende von Sagen und Berichten aus der Zwergenwelt, die Amüsantes, Lehrreiches und Gutes, aber auch Schalkhaftes bis Unerfreuliches berichten. Die Autorin hat sich dennoch die Mühe gemacht, in ihren Recherchen einen Großteil des europäischen Raumes mit einzubeziehen; so ist ein Werk entstanden, das kaum einen Bericht über das kleine Volk außer Acht lässt.
Im Verlauf der zunehmenden Urbanisierung der Lebensräume hat sich das kleine Volk näher an die Siedlungen der Menschen heran gewagt, sich teilweise als Hausgeister bei ihnen eingenistet. Auch wenn sich ihre Zunft inzwischen laut eigener Verkündung von der Menschenwelt zurückgezogen hat, die Türen zu ihrem Reich haben sich nicht gänzlich geschlossen. Heute wie damals gibt es immer wieder Menschen, die mit eigenen Augen einen Blick auf die heimlichen Nachbarn erhaschen.
Dass die Zwerge unter vielen Namen bekannt sind und auch durchaus ein wenig mehr als Schabernack im Sinn haben können, beschreibt der folgende Buchausschnitt aus dem Zwergenschmöker, den wir Ihnen hier vorstellen wollen:
Jedes Ding hat zwei Seiten, auch das kleine Ding, der Zwerg. Wie oft ist doch den Hauskobolden der Kragen geplatzt! Wie allen Urbildern oder Archetypen haften auch Zwergengestalten gegensätzliche Züge an: Die einen weisen nach oben ins Helle, sind günstig, die anderen nach unten ins Dunkle, sind ungünstig oder neutral. Manche Zwerge haben nur ein Auge, ein Bein, eine Hand oder, wie das Einfüßle im Tübinger Nonnenhaus, nur einen Fuß. Das weist auf einen Verlust hin: Sie haben ihr Augenlicht, ihre Fähigkeit zur Ein-Sicht in die „dämonische Dunkelwelt” verloren. So birgt jede Begegnung mit einem Zwerg eine Überraschung und die Ungewissheit, wie die Sache ausgeht: Kommt die helle Seite zum Vorschein oder ist mit einem Durchbruch der unheimlichen Kräfte zu rechnen? Wie innen, so außen.
Die Ambivalenz des Zwergencharakters spiegelt sich in der Unterscheidung der Geister in helle und dunkle oder schwarze, wie bei den nordischen Alben. Beide Alben-Gruppen zeigen weiter konträre Aspekte von Totendämonen, todbringende und lebensförderliche, doch wie alle Gegensätze gehören Tod und Leben zusammen, sind Toten- und Fruchtbarkeitskulte eng miteinander verknüpft. Die meisten zwergenartigen Geister rangieren zwischen gut und böse auf der Werteskala, so Alben, Zwerge, Hauskobolde und Wichte. Sie können fürsorgliche, hilfreiche und liebenswerte Gütchen sein oder sich als Unruhestifter, als Quälgeister und Poltergeister entpuppen und gehörigen Schaden anrichten. Geister treiben ihr Wesen oder Unwesen. Die geheimnisvollen Bilwisse etwa, bekannt aus Bayern, der Oberpfalz, Schlesien, Sachsen und Thüringen, tragen Züge der germanischen Göttin Bil, der Asin, die den abnehmenden Mond personifiziert, und später elbische Züge.
Im Wesen der H a u s z w e r g e schwingt etwas Melancholisches mit. Die hypersensiblen Wesen reagieren leicht gekränkt und sind bitter enttäuscht, wenn die Menschen ihnen nachspionieren oder Kleidung schenken, um die sie nicht gebeten haben.
In arge Not geraten die Kleinen, wenn ihnen nachspioniert wird:
Als die Frau eines Schneiders nachts Erbsen streute, um den Heinzelmännchen auf die Schliche zu kommen, purzelten die Zwerge die Stufen herunter und ließen sich von Stund an nicht mehr blicken.
Da half auch kein Klagen mehr: „Ach, dass es noch wie damals wär!”
Die schöne Zeit kam nicht wieder her. Was Zwerge fast regelmäßig in die falsche Kehle kriegen, sind Kleidergeschenke. Es ist schwierig, ihre Wünsche zu erraten. Manche Zwerge verlangen von Zeit zu Zeit ein neues Gewand oder geben, wie Pück, eines in Auftrag, mit genauen Anweisungen, wie es auszusehen habe. Ein andermal sind sie tödlich beleidigt über ein Kleider-Geschenk und ziehen ein für allemal davon. Doch was in jedem einzelnen Fall angebracht ist oder nicht, bleibt ein immer wieder neu zu lösendes Rätsel. Selten nehmen die Hausgeister ein hübsches Jäckchen oder Höschen einfach freudig an und tragen es auch, manchmal nehmen sie es nur, um sich sogleich darauf aus dem Staub zu machen.
Das alles sind aber keine Allüren, weil sie sich ihre Anziehsachen alleine aussuchen wollen, sondern verstehen sie neue Jäckchen und Höschen, mit denen sie ihre abgetragenen Lümpchen ersetzen könnten, als Auszahlung, als einen Wink mit dem Zaunpfahl, das Haus, in dem sie so treu und redlich gedient haben, verlassen zu müssen. Wer kann es ihnen verdenken, dass sie klagen und jammernd von dannen ziehen, wenn ihnen grundlos und fristlos gekündigt wird? Ihre Launen und Empfindlichkeiten, könnte man meinen, hingen mit Frau Luna zusammen, die das Zwergengemüt auf Trapp hält und launisch macht. Lateinisch luna, „Mond”, gehört zu „Laune”. Das Kleine Volk ist und bleibt ein Nachtvölkchen, das am liebsten im Mondlicht zum Vorschein kommt.
„Wer Zwergen etwas nimmt, der seh sich vor“, beginnt das Kopisch- Gedicht „Kaspars Löffel“ und erzählt die Geschichte eines Müllers, der einen Zwergen-Löffel mitgehen ließ.
Als der Dieb endlich gestellt war, weil ihm der Löffel aus der Tasche fiel, „da kam das ganze Kleine Volk herbei und schlug mit Löffeln ihn beinah zu Brei“.
An die Grenzen des Zwergengemütes stoßen wir unversehens, denn es ist nicht einfach und eindeutig, was den kleinen Wesen gefällt. Aufmerksamkeit und gebührende Achtung ihrer Arbeit, ihrer Person sind ein Muss, wenn wir sie nicht verstimmen oder vor Zorn platzen lassen wollen. Auch die Geschenke des Kleinen Volkes wollen gewürdigt sein. Im Haus des „tollen Geists von Beeren“, eines Gutsbesitzers in der Mark Brandenburg, veranstaltete das Kleine Volk einmal ein Familienfest, nachdem es die Hausdame um Erlaubnis gebeten hatte. Es bedankte sich anschließend mit einem schönen Geschenk, einem Püppchen namens Allerhühnchen, das als Maskottchen dienen sollte. Doch als der tolle Geist das gute Stück eines Tages voller Verachtung ins Feuer warf, ging es mit dem Haus und seiner Familie bergab.
Während sich Zwerge wie Kobolde als liebenswürdige und fröhliche Hausfreunde geben können, besteht daneben die Gefahr, dass ihr Temperament umschlägt und sie sich zu unberechenbaren Taten hinreißen lassen, wie z.B. ihrer Familie das Haus über dem Kopf anzuzünden. Heute noch kommen gelegentlich Poltergeistfälle vor, in denen berichtet wird, dass Feuer auf unerklärte Weise ausbricht, so etwa im Spuk auf Schloss Wildenstein, einem Fall, dem Prof. Hans Bender nachgegangen ist. Zum Glück entsteht in Poltergeistfällen niemals lebensgefährlicher Schaden. Daher ist es ein zuverlässiges Zeichen für die Unechtheit eines Spukfalles, wenn Menschen bei sogenannten Poltergeistaktivitäten ernsthaft Schaden nehmen oder gar den Tod finden – das Opfer wird nämlich in echten RSPK-Fällen in der Regel haarscharf verfehlt.
Ein Zwerg kann ein Glückszwerg sein,
doch nicht jeder ist ein Glückspilz, der
einen Zwerg oder Kobold im Haus hat.
(ital. Sprichwort)
Während es nicht einfach ist, einen frechen und lästigen Hauskobold wieder loszuwerden, kann es ganz schnell gehen, einen hilfreichen Hausgeist zu verlieren. Eine falsche Handlung reicht aus, um ihn auf immer zu vergraulen. So nehmen sie es übel, wenn ihre tägliche kleine Mahlzeit ausbleibt, verstehen sie diese doch als ihren bescheidenen Lohn. Auf plumpe Bezahlung dagegen reagieren sie höchst empfindlich, denn sie fassen ein Geldgeschenk meist als Auszahlung und Abschiedsgabe auf.
Nichts ist von Beständigkeit, und so entwickelt sich unser Wissen und unsere Einsicht in die tieferen Zusammenhänge des Lebens und der Welt im Laufe des Lebens weiter. Unsere Stimmungen unterliegen Schwankungen, selbst unser Wesen kann sich verändern. Auch ein Zwerg bleibt nicht immer derselbe.
Dr. Annekatrin Puhle ist Philosophin, Grenzwissenschaftlerin und Gesundheitsberaterin. Sie hat bereits mehrere Bücher über Geistwesen in Mythologie, Geschichte und Literatur geschrieben. Sie lebt in Deutschland und in Schweden.
BUCH-TIPP: |
Annekatrin Puhle |
‚Zwerge: Begegnungen und Erlebnisse mit dem Kleinen Volk‘ |
431 Seiten, € 14,95 |
ISBN 978-3-89427-517-4 |
Aquamarin Verlag |