Charles W. Leadbeater zählt zweifelsfrei zu den bedeutendsten Eingeweihten in die esoterische Tradition. Anfang des 20. Jahrhunderts war er einer der führenden Köpfe der Theosophischen Gesellschaft und ein weltbekannter Hellseher und Okkultist. Bekannt wurde er vor allem als „Entdecker“ und Förderer Jiddu Krishnamurtis, den er der Öffentlichkeit als Werk des wiederkommenden Christus präsentierte. Darüber hinaus hat Leadbeater wie kein anderer Geistesforscher die Astralwelt untersucht und beschrieben.
Leadbeaters hellsichtige Fähigkeiten sind die Grundlage für sein Leben und Werk. Deshalb verwundert es nicht, wenn seine Kritiker nicht nur versuchten, ihm unmoralisches Verhalten anzukreiden, sondern auch seine Hellsichtigkeit bestritten. Es kann hier nicht die Absicht sein, die Frage zu diskutieren, ob es überhaupt „Hellsehen“ gibt. Die Fähigkeit eines erweiterten Wahrnehmungsvermögens wird im Rahmen dieses Artikels als gegeben vorausgesetzt. Zu untersuchen bleibt, in welcher Weise und bis zu welchem Grad Leadbeater sie entfaltet hatte und zu welchen Resultaten seine hellsichtigen Forschungen führten.
Leadbeater hat sein Leben lang seinen Kritikern nicht geantwortet – mit einer Ausnahme. Im September 1923 schrieb er einen Brief an den Herausgeber der „Occult Review“, Loftus Hare, in dem er auf die kritischen Einwände hinsichtlich seiner hellsichtigen Forschungen eine grundsätzliche Erwiderung gab. „Wir stehen erst am Anfang der Untersuchungen über hellsichtige Forschungen; mit Sicherheit wird es bessere Resultate zeitigen, wenn die Ergebnisse behutsam und umsichtig verglichen werden, als wenn die Forscher in grober und unbegründeter Weise des Betruges bezichtigt werden. Können wir nicht zumindest die allgemeinste Form der Höflichkeit einhalten und dem anderen grundsätzliche Ehrlichkeit und gute Absicht zugestehen?“
Leadbeater war sich seiner Grenzen und Beschränkungen durchaus bewusst. In einer Selbstreflexion am Ende seines Kommentars zu „Licht auf den Pfad“ kommt er zu der Einsicht: „Ich trat in unsere Gesellschaft ein und habe mit Sir William Crookes gearbeitet. Jener Mann verbrachte sein Leben mit dem Studium der Chemie, und er wusste darüber vollkommen Bescheid. Immer und immer wieder dachte ich: ‚Wenn ich nur dein Wissen hätte oder du meine Hellsichtigkeit, welche Arbeit könnten wir tun!‘ Es erscheint bedauerlich, dass man in einem Leben nicht beide dieser Entwicklungsformen haben kann. Man braucht ein ganzes Leben, um sich einer davon zuzuwenden.“
Charles Webster Leadbeater (r.) mit zwei seiner treuesten Weggefährten, dem Mitbegründer der Theosophischen Gesellschaft, Henry Steel Olcott (l.) und Annie Besant, langjährige Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft in Adyar. |
Wer Leadbeater also ein „pseudo-wissenschaftliches“ Vorgehen vorwirft, verkennt, dass Leadbeater selbst nie diesen Anspruch erhoben hat. Er behauptete allein, sorgfältig zu beobachten und mit Ehrlichkeit und Genauigkeit zu beschreiben. Weitergehende Forderungen erhob er nie. „Ich habe sowohl in Reden wie in Schriften wiederholt erklärt, dass ich nicht wünsche, es möchte jemand seinen Glauben an Theosophie auf irgendwelche Aussagen meinerseits gründen.“
Eine ähnliche Stellungnahme findet sich auch in seinem Kommentar zur „Stimme der Stille“, dort unter ausdrücklicher Einbeziehung von Annie Besant. „Ich persönlich forsche und beobachte so sorgfältig ich kann und verbreite dann das, was ich weiß, da mir das als meine Pflicht erscheint, aber ich habe niemals behauptet, unfehlbar zu sein, und ich lerne jeden Tag dazu. Ich würde nie daran denken, an irgend jemandem etwas auszusetzen, der mit dem, was ich sage, nicht übereinstimmt. In der Tat habe ich Dr. Besant mehr als einmal sagen hören, wie sehr sie hofft, dass niemals jemand ein Dogma aus etwas machen wird, was sie gesagt hat…“.
Für Leadbeater, der mit Hilfe seines Meisters Zugang zu einer erweiterten Wahrnehmung gefunden hatte, stellte der hellsichtige Mensch nur die nächste Stufe in der Entwicklung des Lebens dar. „Der Hellseher ist einfach ein Mensch, der die Fähigkeit entwickelt hat, eine Oktave mehr aus der Tonleiter der unendlichen Schwingungen, die uns umgeben, wahrzunehmen, und das befähigt ihn, mehr zu sehen und zu wissen, als jene, deren Sehkraft nur auf den physischen Plan beschränkt ist.“
Die Erlangung hellsichtiger Fähigkeiten erforderte auch keine schwierigen okkulten Übungen oder geheimnisvolle Yoga-Praktiken; sie war das Ergebnis einer seelischen Reifung und charakterlichen Weiterentwicklung. Allerdings war eine Beherrschung des physischen, ätherischen und astralen Körpers erforderlich, um zu korrekten Wahrnehmungen zu gelangen. „Der physische Körper muss vollkommen gesund sein; ist das nicht der Fall, so können ganz außergewöhnliche Täuschungen und Verzerrungen entstehen. Eine unbedeutende Störung in der Verdauung, die kleinste Veränderung im Kreislauf des Blutes durch das Gehirn, … können die Tätigkeit des Gehirns so sehr stören, dass es ein gänzlich unzuverlässiger Übertragungsapparat der ihm übermittelten Eindrücke wird. …
Gruppenbild aus Adyar mit den „führenden Köpfen“ der Theosophioschen Gesellschaft. In der ersten Reihe, unter anderen (von links), Anna Kamensky, Jiddu Krishnamurti, Charles Leadbeater, Annie Besant, Curupumulage Jinarajadasa und George Arundale. |
Der Gehirnmechanismus ist sehr verwickelt, und wenn nicht beide – der ätherische Teil, durch den die Lebenskraft fließt, und der dichtere Stoff, der den Kreislauf des Blutes aufnimmt – ihre Tätigkeit in ganz normaler Weise ausüben, so ist kein korrekter Bericht möglich; jede Unregelmäßigkeit in einem der Partner kann dessen Aufnahmefähigkeit so sehr abstumpfen oder stören, dass von allem, was ihm vorgeführt wird, nur verwischte oder entstellte Bilder zurückbleiben.
Auch der Astralkörper muss vollkommen beherrscht werden, was viel mehr bedeutet als man zunächst annimmt, denn er ist die natürlich Wohnstätte der Gefühle und Wünsche, und gewöhnlich ist er bei der Mehrzahl der Menschen in einem Zustande wilder Erregung.“
Leadbeater hat sich zeitlebens auch mit dem Jenseits auseinandergesetzt und erstaunliches über den Prozess der Wiedergeburt herausgefunden, die ihm zufolge für Schüler eines Meisters ganz anders abläuft, als beim Durchschnittsmenschen. In „Die Astralwelt“ schreibt er:„Es ist oft in der theosophischen Literatur darauf hingewiesen worden, dass der Schüler eines Meisters, der eine gewisse Stufe erreicht hat, mit dessen Hilfe imstande ist, sich dem Gesetz zu entziehen, das für gewöhnlich den Menschen nach dem Tod zur Himmelswelt führt, um dort das volle Auswirken aller spirituellen Kräfte zu ernten, welche sein hohes Streben auf Erden ins Leben gerufen hat.
Da ein solcher Schüler ein sehr reines Leben voll hoher Gedanken geführt haben muss, werden seine spirituellen Kräfte wahrscheinlich von ungewöhnlicher Stärke sein, und wenn er ’sein Devachan (Devachan: in die geistige Welt eintreten) nimmt‘, um diesen technischen Ausdruck zu gebrauchen, so würde dieses wohl von außerordentlich langer Dauer sein. Wenn er aber statt dessen den ‚Pfad des Verzichtens‘ wählt – und so, wenn auch auf seiner niedrigen Stufe und auf seine bescheidene Weise, den Fußstapfen des großen Meisters des Verzichtes, Gautama Buddha selbst, folgt –, dann ist er imstande, diese Kraftreserve in ganz anderer Richtung zu verwenden, sie zum Wohl der Menschheit zu benutzen und so, wie unendlich klein auch sein Opfer sein mag, in geringem Maße an dem großen Werk der Nirmanakayas teilzunehmen. Wenn er diesen Weg einschlägt, dann opfert er zweifellos Jahrhunderte höchster Seligkeit; aber andererseits hat er den außerordentlichen Vorteil, dass er sein Leben der Arbeit und des Aufstiegs ohne Unterbrechung fortsetzen kann.
Leadbeater mit seinen „Zöglingen“ Krishnamurti und dessen in jungen Jahren früh verstorbenen Bruder Nitya. |
Wenn ein Schüler, der sich hierzu entschlossen hat, stirbt, dann verlässt er einfach seinen Körper, wie er es vorher schon oft getan hat, und wartet auf der Astralebene, bis sein Meister eine passende Wiederverkörperung für ihn vorbereiten kann. Da dies eine ganz besondere Abweichung von dem gewöhnlichen Lauf der Dinge einschließt, ist die Zustimmung einer sehr hohen Autorität nötig, bevor der Versuch gemacht werden kann. Aber selbst wenn diese Zustimmung erteilt wurde, ist die Kraft des natürlichen Gesetzes so stark, dass, wie es heißt, der Jünger sorgfältig darauf achten muss, sich während dieser Vorbereitung streng auf der Astralsphäre zu halten; denn wenn er auch nur für einen Augenblick die Devachan-Sphäre berührt, kann er durch einen unwiderstehlichen Strom wieder in den gewöhnlichen Lauf der Entwicklung hineingerissen werden.
In manchen, allerdings seltenen Fällen wird es ihm ermöglicht, die Mühe einer neuen Geburt zu sparen und sofort den Körper eines Erwachsenen einzunehmen, dessen früherer Besitzer ihn nicht mehr benötigt. Natürlich ist es nicht oft der Fall, dass ein passender Körper bereit steht. Viel häufiger geschieht es, dass er, wie erwähnt, auf der Astralebene zu warten hat, bis sich die Gelegenheit einer passenden Geburt bietet. Währenddessen verliert er jedoch keine Zeit, denn er ist ebenso vollständig er selbst wie immer, und er ist imstande, seine vom Meister gegebene Aufgabe weiter auszuführen, ja noch leichter und wirkungsvoller als im physischen Körper, denn das Hindernis der Ermüdung ist hier nicht mehr möglich. Sein Bewusstsein ist selbstverständlich vollständig und klar, und er kann sich auf allen Abteilungen der Astralsphäre mit gleicher Leichtigkeit bewegen. Ein Jünger, der seine Wiederverkörperung abwartet, ist keineswegs eine gewöhnliche Erscheinung auf der Astralebene, dennoch sind solche dort anzutreffen und bilden daher eine unserer Klassen. Wenn die Entwicklung der Menschheit weiter vorrückt und ein stetig wachsender Teil den geistigen Pfad einschlägt, wird diese Klasse zweifellos immer zahlreicher werden.“