Schamanismus ist „in“ – ganz gleich ob in seiner traditionellen Form oder in Gestalt des sogenannten „Neoschamanismus“. Um seine Popularität zu verstehen, reicht es nicht, auf die Ziele schamanischer Arbeit wie Ganzwerdung oder spirituelle Heilung zu verweisen. Man muss zunächst die bewegte Geschichte des Schamanismus in den letzten Jahrzehnten betrachten – eine Geschichte, die wir in diesem Leitartikel zu unserem Schwerpunktthema vorab erzählen möchten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Schamanen und die Kulturen, aus denen sie stammten, generell als „primitiv“ betrachtet und bestenfalls als exotische Kuriosität bestaunt. Medizinmänner, Zauberer und Schamanen hatten meist den Nimbus von Scharlatanen oder Psychopathen, die ihren Platz in ihrer jeweiligen Gesellschaft nur der Unwissenheit und Gutgläubigkeit jener Stammesmitglieder verdankten, die sich sonst einfach nicht zu helfen wussten. Und während im christlich dominierten Westen alle schamanischen Kulturen weiter wie in den Jahrhunderten zuvor unter Androhung ewiger Verdammnis zum „wahren Glauben“ bekehrt wurden, entledigte man sich der Schamanen in der ehemaligen Sowjetunion, in der Mongolei und in China im Rahmen der kommunistischen „Kulturrevolution“, indem man sie reihenweise in psychiatrische Anstalten einwies, um sie von ihrem „Wahn zu heilen“ und die Bevölkerung vor ihrem „gefährlichen Aberglauben“ zu schützen. Erst die bahnbrechende Arbeit des Religionshistorikers Mircea Eliade in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts leiteten eine ernsthafte Schamanismus-Forschung ein und erlösten das uralte Phänomen aus dem ethnologischen Kuriositätenkabinett und von seinem Ruf als gesellschaftlich sanktionierte Geisteskrankheit in primitiven Stammesgemeinschaften. Eliade konstatierte als erster Europäer, dass Schamanen im ekstatischen Zustand der Trance ihren Körper verlassen und auf diese Weise ferne Orte oder andere Welten besuchen können. Ob es sich hierbei um tatsächliche Orte oder vielmehr um innere Räume handelte, ließ Eliade erst einmal dahingestellt, genauso wie der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell, der in seinen Werken ebenfalls ein freundlicheres Bild des Schamanismus zeichnete.
Die Beschäftigung mit der sogenannten „Ur-Religion“ war salonfähig geworden und in den 60er und 70er Jahren befasste sich plötzlich ein Heer von Ethnologen mit Medizinmännern, Hexen und Zauberern bei den unterschiedlichsten Naturvölkern. Auch Bücher wie die vom Oglala-Lakota Medizinmann Black Elk wurden neu verlegt und erfreuten sich großer Beliebtheit in einer Gesellschaft, welche die „guten alten“ Stammestraditionen im Geiste des „Flower-Power“ in neuem Licht betrachtete und oft romantisch verklärte. Doch erst eine ganz neue Herangehensweise in der Ethnologie führte schließlich zu einer Annäherung an ein echtes Verständnis schamanischer Traditionen und zum Aufkeimen des Neoschamanismus.
Von Castaneda zum Neoschamanismus
Der Geist der 60er Jahre war nicht nur von Gedanken der Befreiung der Sexualität, der Überwindung von starren Normen, der Emanzipation und der Friedensbewegung geprägt – eine ganze Generation war bereit, Huxleys „Pforten der Wahrnehmung“ buchstäblich aufzustoßen und nicht nur bei dessen Lektüre stehen zu bleiben. Die Einnahme psychedelischer Drogen zur Bewusstseinserweiterung war „in“ – und so fanden die Werke von Carlos Castaneda („Die Lehren des Don Juan“ etc.), Barbara Myerhoff („Der Peyote Kult“) und Douglas Sharon („Magier der vier Winde“) sofort reißenden Absatz, da in ihnen anscheinend nicht nur ein neues schamanisches Weltbild vorgestellt, sondern auch der Gebrauch sogenannter „Kraftpflanzen“, d. h. halluzinogener Drogen, propagiert wurde.
Dabei wurde damals (wie auch heute) meist völlig übersehen, dass gerade diese drei Autoren Studenten des Ethnologen Harold Garfinkel waren, der einen ganz neuen Forschungsansatz vertrat. Seiner Ansicht nach war es unmöglich, ein fremdes Kulturphänomen wie den Schamanismus von außen zu verstehen – man müsse sich schon selbst hineinbegeben, um es von innen (d. h. in seinen eigenen Begriffen) zu erfassen. Getreu dem Motto ihres Mentors wurden so aus Ethnologiestudenten Zauberlehrlinge, die in Südund Mittelamerika bei Schamanen in die Lehre gingen, um den Lehrstoff am eigenen Leibe zu erfahren. Dass aus diesen Erfahrungen Bücher, aus den Büchern Bestseller und aus den Bestsellern eine Bewegung wurde, war zunächst nicht geplant – das Ganze entwickelte eine ungeahnte Eigendynamik, gedüngt vom Zeitgeist der 60er und frühen 70er, in denen immer mehr junge Menschen je nach charakterlicher Disposition entweder gen Osten zogen, um bei einem Guru Erleuchtung zu suchen, oder in die Wildnis, um in den Bergen Mexikos oder in den Indianer-Reservaten Nordamerikas von einem Medizinmann initiiert zu werden.
Während vor allem die Werke Castanedas von den traditionellen Ethnologen immer mehr kritisiert wurden (sein Lehrer Don Juan Matus war vielen offenbar „zu gut“, um wahr zu sein), inspirierten sie andere zu eigenen Experimenten; wie z.B. Michael Harner („Der Weg des Schamanen“), der nach seinen eigenen Erfahrungen bei indigenen Völkern am oberen Amazonas die Foundation for Shamanic Studies gründete und damit die Basis für das schuf, was heute als Neoschamanismus bekannt ist. Die verschiedenen Richtungen des Neoschamanismus folgen meist keiner speziellen Tradition, sondern nutzen Techniken verschiedener Traditionen zur Visionssuche wie etwa geführte Imaginationsreisen, die mit Hilfe von Trommelrhythmen, Tanz oder Meditation den schamanischen Flug, die Reise in die Anderswelt ermöglichen sollen. Beliebt sind auch die Trance-Haltungen nach Felicitas Goodman („Trance – der uralte Weg zum religiösen Erleben“), begleitende Schwitzhütten-Zeremonien nach Vorbild nordamerikanischer Stämme, Fasten, Gesänge und Gebete sowie alles, was helfen kann, einen anderen Bewusstseinszustand herbeizuführen. Besondere Bedeutung erlangten all diese Hilfsmittel vor allem nach dem Verbot halluzinogener Drogen in den meisten westlichen Ländern.
Bei uns bekannte Vertreter verschiedener Formen des Neoschamanismus wie Sandra Ingerman, Nana Nauwald, Sinchota Genzmer oder Kurt Fenkart kommen in den folgenden Artikeln zu Wort. Doch auch „schamanisches Urgestein“ wie Brant Secunda, Schüler des legendären Huichol-Schamanen Don José Matsúwa, oder Alberto Villoldo („Die Macht der vier Winde“) beschreiten neue Wege und verknüpfen den traditionellen Schamanismus mit moderner Neurobiologie oder Erfolgstraining.
Schamanische Zeremonien für Liebende
Immer mehr Menschen erkennen die Kraft der Rituale und merken gleichzeitig, dass ihnen die konventionellen Zeremonien unserer Kirchen nicht ausreichen, um die Lebensübergänge, die ihnen wichtig sind, entsprechend zu würdigen.
Als Alternative bieten sich schamanisch inspirierte Rituale an, die alte Traditionen und neue spirituelle Wege vereinen und die Liebe eines Paares auf spiritueller Ebene feiern. Zentrales Element ist hierbei die Verbindung der Herzen bzw. Herzchakren, für die symbolisch das Krafttier Adler steht. Nach den Gelöbnissen und dem traditionellen „Handfasting“, bei dem eine weiße Handfessel durch ein festeres energetisches Band ersetzt wird, werden die inneren Adler miteinander verbunden und fliegen fortan mit einer gemeinsamen Vision Seite an Seite.
Weitere Informationen zu solchen Ritualen finden Sie z.B. hier:
Vom Neo- zum Neonschamanismus
Man muss heute nicht mehr in die Ferne schweifen, um Schamanen hautnah zu erleben. Die Programme fast aller bekannten Seminaranbieter sind voll mit Vorträgen und Workshops traditioneller und Neoschamanen. Der Inuit-Schamane Angaangaq begeistert z. B. in diesem Sommer beim Basler Psi Verein mit seinen Veranstaltungen zum Klimawandel genauso wie der Künstler und Neoschamane Yerpun Solar, der in seinen Seminaren u.a. für mehr Verständnis für energetische Hygiene wirbt. Gleichzeitig gibt es eine ganze Reihe alter und neuer Bücher zum Thema, die von fachkundigen Autoren wie z.B. Claudia Müller-Ebeling („Ahnen, Geister und Schamanen“) oder Christian Rätsch („Meine Begegnungen mit Schamanenpflanzen“) verfasst wurden. All dies zeigt, dass der gängige Vorwurf an den Neoschamanismus, er sei – anders als sein traditionelles Vorbild – nicht auf das Wohl des jeweiligen Volkes, sondern vielmehr auf Selbstverwirklichung und Selbsthilfe ausgerichtet, unbegründet ist. Wenn auch Selbsterfahrung zunächst im Vordergrund steht, ist genau diese doch Voraussetzung für alles weitere – und das gilt nicht nur für Schamanen. Ein weiteres gutes Beispiel für die soziale Einbindung des Neoschamanismus in das moderne Leben findet sich im untenstehenden Infokasten, in dem es um (neo-) schamanische Zeremonien für Liebende geht.
Noch einen Schritt weiter in Richtung Integration von Tradition und Moderne geht der Psychiater und Schamane Richard Yensen, einst Student von Carlos Castaneda und Schüler der MazatekenSchamanin Doña María Sabina, eben jener Frau, die das Geheimnis der Heiligen Pilze Mitte der 50er Jahre an den Ethnobotaniker Gordon Wasson weitergab. Schon während dieser Lehrzeit kam Richard in Kontakt mit dem mexikanischen Psychiater Salvador Roquet, der mit verschiedenen traditionellen Schamanen zusammenarbeitete und Elemente aus deren Zeremonien in seine gruppentherapeutische Arbeit einbaute – mit erstaunlichen Ergebnissen bei Alkoholikern, Drogenabhängigen, Neurotikern oder Menschen, die unter Posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Diese Erfahrung kam Yensen bei seiner späteren Arbeit mit Stan Grof am Maryland Psychatric Research Center in Baltimore zugute, bei dem er zunächst mit LSD und anderen Drogen arbeitete, um später gemeinsam mit Grof das Holotrope Atmen als wirkungsvollen Ersatz für die inzwischen verbotenen halluzinogenen Substanzen zu entwickeln.
Richard Yensen folgt in seiner Arbeit, die er inzwischen zusammen mit seiner Partnerin Donna im Orenda-Institut (www.orenda.org) weiterführt, einem alten schamanischen Grundsatz: „Nutze alles, was du hast.“ Genau wie Roquet setzt er in seiner Arbeit nicht nur rituelle Elemente im therapeutischen Setting ein, sondern auch zahlreiche Stereoanlagen, etliche Dia-Projektoren und computergesteuerte Beamer, um den Verlauf der schamanisch-therapeutischen Sitzungen zu steuern – etwas, was ihm den Spitznamen „Neonschamane“ eingebracht hat. Die Palette des Dargestellten, das die Teilnehmer sich während des Holotropen Atmens anschauen, reicht dabei von friedlichen und tröstlichen Liebesszenen bis hin zu übermächtigen Konfrontationen mit den Schrecken des Lebens.
All dies erzeugt bei den Teilnehmern eine kraftvolle Katharsis, Visionen sowie tiefe Begegnungen mit dem Unbewussten bzw. der schamanischen Anderswelt, die stärker sind und tiefer gehen als alle Drogenerfahrungen oder imaginierten Reisen. Weitere Sitzungen an folgenden Tagen dienen der Integration des Erlebten – eine wahre Initiation auf moderne und alte Art zugleich. Es ist schon zwanzig Jahre her, dass ich Richard begegnete und das Vergnügen hatte, seine Arbeit, die vielleicht die Zukunft des Schamanismus ist, selbst zu erfahren. Das Ergebnis der mehrtägigen Sitzungen ist ebenso verblüffend wie nachhaltig und ungefähr so, als ob man vor dieser Erfahrung sein Leben lang durch eine schmutzige Fensterscheibe ins Leben geblickt hätte, die nun plötzlich nicht nur sauber, sondern verschwunden ist. Eine Öffnung des Herzens, die uns die Einheit aller Dinge und Wesen unmittelbar fühlen lässt – die ursprüngliche schamanische Initiationserfahrung in neuem Gewand, die Integration von Licht und Schatten, die Ganzwerdung von Leib und Seele.
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