Hinter den Mauern schweigen die Wälder. Und hinter den Wäldern summt leise der Horizont. Die milde Kühle, der Duft der Nacht, das glitzernde Gras zu unseren Füßen, die Bäume und Gärten, der Wald – ich fühle mich umarmt und würde gerne selbst das alles hier mit weitem Schwung umarmen. Hinein in das Herz und die Seele, den ganzen Geist und jeden Raum des Körpers mit dieser nachtländischen, kindermärchenhaften, tiefen Stimmung ausfüllen. Eine neue Welt bauen. Und alte Kinderbücher sollen die Baupläne sein. Hier ist der Anfang.
Es scheint lange her zu sein, dass der Großteil der Menschheit in direkter Verbindung mit der Natur gelebt hat. Heute finden sich nur noch einzelne indigene Stammesvölker, versteckt in dichtem Urwald oder anderen unzugänglichen Gegenden, die diese Lebensweise fortführen. Wir hingegen, moderne Menschen, die in einer künstlich hochentwickelten Kultur leben, kennen meist nur noch gebändigte Natur – und diese vornehmlich von Sonntagsspaziergängen. Doch die Natur ist unsere Grundlage zum Leben – und noch viel mehr …
Ohne Mutter Erdes Früchte und Gaben ist unser Leben unmöglich. Besonders in der „zivilisierten“ Welt scheint diese einfache Tatsache oft vergessen zu werden. Alle Technik und Technologie kann nicht dauerhaft davon ablenken, dass wir auf diesen Planeten und seine Ressourcen angewiesen sind. Und wir brauchen die Natur, das Natürliche auch für unser Innerstes, unsere Seele. In der Natur können wir frei durchatmen, vollkommen entspannen und zu unseren wahren Wurzeln zurückfinden. Die vielen Mauern und der harte Asphalt der Städte lassen dies kaum zu. Hier sollen wir geschäftig und angepasst den Triebwerken dienen, die das komplizierte Geflecht des urbanen Lebens am Laufen halten – kontinuierlich dem Rhythmus der Maschinen und Terminkalender gehorchend.
Wie weit wir uns von freier Natur, von ihren Kreisläufen, ihrer Stille, ihrer Schönheit und auch ihren Anforderungen entfernt haben, ist uns oft kaum noch bewusst. Manche lassen sich vom Treiben der Welt vollkommen einlullen und merken erst spät, dass ihrer Seele etwas fehlt oder abhanden gekommen ist. Andere spüren bereits früh eine tiefe Sehnsucht nach einer anderen Lebens- und Seinsweise und begeben sich in verschiedene Richtungen auf die Suche. Seit der Industrialisierung gab es immer wieder Bewegungen, die ganze Massen von Menschen auf diese Suche mitgerissen haben, die Hippie-Bewegung war eine der größten.
Ein Beispiel einer solchen persönlichen Suche nach einem naturnahen, harmonischen und freigeistigen Leben bieten zwei 16-jährige Freunde. Sehnsüchtig, idealistisch und voll sprühender kreativer Lebenskraft wollen die beiden jungen Männer der drögen Einheitlichkeit des Schulalltags entfliehen und lernen und schaffen, wie es ihren Herzen entspricht. Sie lassen sich vom Geist des Waldes inspirieren – zu einer etwas anderen Idee von „Schule“.
„Nur wenige Schritte trennen euch noch von der Sicht auf die mögliche Verwirklichung eurer Träume, die ihr angesichts dieser zerrütteten Welt in euren Seelen kultivieren musstet. Eure Sehnsucht nach einem köstlichen, einem in jeder Hinsicht vorzüglichen Leben, das die paar Jahrzehnte, die man als Mensch auf Erden hat, lohnt, diese Sehnsucht hat uns hier und an diesem Tage nun zusammengeführt. Und ich bin davon überzeugt, dass die Schule des Eichenbundes euren sehnenden Vorstellungen entspricht und eure Suche nach der Quelle abschließen wird. Ich bin mir aber auch gewiss, dass das Ende dieser Suche zugleich der Anfang eines Kampfes für ein neues Leben und Lernen sein wird. Allda hinter den letzten Kiefern dieses Berges wird euch der Blick auf die Anlagen des Eichenbundes freigegeben. Folgt mir!“
Während geschwänzter Schulstunden verbringen die Schüler Zeit auf Wanderungen im Wald. Der eine, poetisch begabt, will seine romantische idealistische Kraft in Worten auf Papier bannen, der andere in verwunschenen Bildern, die seiner Welt im Innern Ausdruck verleihen. Mit Hilfe des Elementarwesens „Eichbart“, das ihnen im Wald begegnet, erschaffen sie schließlich ein Buch, das nicht nur Zeugnis ihrer tiefen Verbundenheit mit der Natur ist, sondern besonders ihres Traumes von einem Ort, an dem Lernen und Leben für junge Menschen wieder zu einem Abenteuer, einer herzerfüllenden, passionierten Mission wird.
„Ich bin Eichbart, Exarch der Eichenbund-Schule, einer sehr abgelegenen Geheimschule. Sie liegt weit hinter den übernächsten Horizonten, und doch sind ihre Eingänge an vielen Stellen eingerichtet und offen … für manchen. Folgt mir, wir haben noch ein gutes Stück bis dorthin und so kann ich euch unterwegs noch einiges über den Wald und seinen Geist erzählen. Denn es ist der Waldgeist, der die Eichenbund-Schule prägt und erhält. … In unserer Eichenbund-Schule werden nicht nur die Kräfte der reinen Phantasie angespornt, sondern es wird auch das Wissen um die geheimen Mächte der Natur vermittelt und vertieft; wir nennen es Waldwissen.“
Die Schüler ersinnen in zeitlosen Stunden im Wald – in Zwiesprache nur mit den im Wind säuselnden Baumblättern und den flüsternden Naturwesen – eine Art Schule, die das beste aus jedem Schüler holt, Freiräume für Individualität, für Muße und Traum gewährt, die das Gebot zu Aufrichtigkeit und Gefühlstiefe mit einschließt, ohne es zu fordern, und die Geheimnisse offenbart, die an normalen Schulen unbekannt sind.
„Ihr habt sicher schon von Waldschraten, Baumbärten, Zwergen und Heinzelmännern, Trollen, Wiesen- und Sumpfgeistern, wilden Jägern und Elfen gehört. Alte Sagen und Berichte erzählen uns von solchartigen Wesen. Und glaubt mir: Diese Erscheinungen entspringen nicht allein der menschlichen Phantasie. In alten Tagen lebten noch haufenweise geheime Wesen in den Wäldern. Heute aber sind manche dieser Geschöpfe ausgestorben. Auch das ist eine Folge der stets fortschreitenden Naturvernichtung durch den Menschen. Da denkt nur kaum einer drüber nach. So viele stille Völker sind schon für immer gegangen. Andere Kreaturen haben sich in die unterirdischen Wurzelwelten, in die Schatten der Nacht oder an gänzlich unbekannte Orte zurückgezogen, wo sie warten, warten auf günstigere Zeiten…“
Diese Schule, die der alte, weise Naturgeist „Eichbart“ den Jungen zeigt, ist ein traumhafter Ort, der kaum Leid außer dem Liebesleid kennt – ein Ideal, eine Utopie. Die Schüler und Schülerinnen gehen völlig auf in den Schulfächern, die besonders Kreativität, Eigeninitiative, Naturverbundenheit und Harmoniefähigkeit voraussetzen. So wird der „Sonnenchor“, die „Wolkenfreiheit“, der „Minnesinn“ oder die Geschichtskunde, die in Form von Theaterstücken vermittelt wird, zu wahrer Meisterschaft und Schönheit entfaltet. Auf dem wunderschönen, mittelalterlichen Anwesen inmitten von Wald und Feldern gehen die Schüler alten Sagen und Märchen auf den Grund, üben sich in Schwert- oder Gartenkunst, widmen sich dem Tanz, der Rhetorik oder der Mathematik. Und wem es entspricht, der kann sich dem Leben als Mönch hingeben, ohne einer Religion anzugehören – lediglich der mystischen Innen- und kontemplativen Naturschau verbunden.
„In der Eichenbund-Schule ist jeder in seiner Art willkommen. Wir sind ein Garten, in dem jeder Wurzeln schlagen kann, der wachsen und gedeihen möchte. Und wer gar dabei über sich selbst hinauswächst, wer aufstrebt, den Sternen näher sein will, dem wird das Köpfchen hier nicht abgezwackt, damit er wieder gleich sei den allermeisten. Was wachsen will, soll wachsen, ganz gleich, ob es sich um ein schattiges Mooskissen oder eine sturmfeste Bergkiefer handelt. Gute Wesen sorgsam zu entfalten, das verstehen wir als unsere vornehmste Aufgabe.“
Mit jeder Seite, die man im „Eichenbund-Buch“ schmökert, kann man sich ein bisschen mehr fallen lassen in diesen Traum von einer idealen Jugend. Wie in einer meditativen inneren Reise schreitet man mit den staunenden jungen Männern durch die schönen vielgestalten Räume der Eichenbundschule, durch erhabene Baumwelten und lauscht den poetischen, fast schamanisch anmutenden Worten, die der Geist des Waldes vermittelt.
„Wind ist uns ewiger Ratgeber, ein Freund und Verwandter, eine Instanz allen Seins. Der Wind bringt uns den salzigen Geschmack der Meere, über die er Tage und Nächte gefahren ist, er bringt uns die Kühle der Gipfel entfernter Gebirge und die Einsamkeit der endlosen Ebenen und Wüsten weht er hinein in die Kammern unserer Herzen. Sich dem Wind hinzugeben, sinnreicher und vernünftiger kann eine menschliche Beschäftigung kaum sein. Hernach sollen die Schüler ihre Erfahrungen mit dem Wind aufschreiben. Dadurch soll eine Windbibliothek begründet werden, welche später die Grundlage für das Erlernen der Windsprache bilden könnte.“
Man wandelt in einer halb vergessenen, altertümlichen Welt, berauscht, wie es Hermann Hesse gewesen sein muss, als er seine ähnlich sehnsüchtig-romantischen Erzählungen ersann, spürt die Lebendigkeit der Erde förmlich unter den Füßen vibrieren und die tiefe Sinnenfreude, die ein freies Ausschöpfen der einem innewohnenden Schätze mit sich bringt. Eine jede Tätigkeit – geistig oder physisch – als eine Kunst anzusehen, das ist die Richtlinie, der sich diese ideale Schule verschrieben hat. Dieses Ideal kann durchaus als Anreiz zu einer natürlicheren, erfüllenderen Art des Lehrens und Lernens dienen. Ganz umsetzen lässt es sich in unserer heutigen Welt aber wahrscheinlich nur vereinzelt, denn für eine derartige Schulform wäre eine Art von Mensch und eine Art von Welt nötig, die frei ist von Negativität und Missständen. Aber Träumen … darf man schließlich immer!
Es dämmert schon. Die Kerzen glimmen sich in die Halter hinein. Ich lege die Papiere beiseite, betrachte mein Zimmer … Es ist voller Wind, voller Fernen und Träume; in manchen Winkeln schlafen vergessene Königreiche und unter meinem Bett beginnt ein unendlicher Wald. Ich öffne das Fenster, lausche den gurrenden Tauben. Noch ein paar Stunden Schlaf, dann werden wir wieder aufbrechen …