Wie kaum ein anderer Schriftsteller hat Carlos Castaneda mit seinen Büchern über seine Lehrzeit bei dem mexikanischen Schamanen Don Juan Matus eine ganze Generation geprägt. Seine Berichte über bewusstseinserweiternde Drogen, andere Welten und ein Leben für die Freiheit beflügelten die Jugend der späten 60er und frühen 70er Jahre weit über die Flower-Power-Bewegung hinaus – sie inspierierten Schriftsteller und Filmemacher genauso wie Wissenschaftler und Philosophen. Was Castanedas Werk so besonders macht, ist ein einzigartiges Wirklichkeitskonzept, das unsere Vorstellung von Realität nicht nur theoretisch hinterfragt, sondern ganz praktisch neue Horizonte erschließt – neue Möglichkeiten der Wahrnehmung, die uns in neue Welten und darüber hinaus tragen können.
Kritiker werfen dem 1998 verstorbenen Ethnologen und Bestsellerautor Carlos Castaneda bis heute vor, er habe seinen Lehrer Don Juan erfunden, etwas, dass schwer zu glauben ist, wenn man sich die Komplexität seiner Schriften und der darin enthaltenen Lehren der toltekischen Zauberer einmal genauer ansieht. »So intelligent bin ich nicht«, konterte Castaneda zu Recht – zumal er in seinen Büchern kein theoretisches Lehrgebäude wiedergab, sondern praktische Erfahrungen, die, wenn man seine Werke nicht als bloße Ethno-Fiction liest, für jeden Interessierten ebenso praktisch nachvollziehbar sind.
Da gibt es zum Beispiel die »Kunst des Träumens«, bei der man lernt, in einem nächtlichen Traum »aufzuwachen«, sprich bewusst zu werden. Eine Erfahrung, die inzwischen als »Klartraum« oder »luzides Träumen« auch in den psychologischen Jargon eingegangen ist und von »A Nightmare on Elm Street« über »Abre los ojos« oder »The Cell« bis hin zu »Inception« häufig im Kino thematisiert wurde. Aber den wenigsten ist klar, dass es sich um eine erlernbare Fähigkeit handelt, die unser Bewusstsein erweitert und im Leben ganz neue Möglichkeiten der Wahrnehmung erschließt.
Das Erbe der Tolteken
Laut Castaneda stammen die Lehren des Don Juan unmittelbar von den Tolteken, von Sehern und Zauberern des alten Mexiko, die ihr Wissen seit Jahrtausenden von Generation zu Generation weiterreichten – bis hin zu dem bekannten Autor und Zauberlehrling, der die Tradition nun auf Geheiß seines Lehrers einem breiten Publikum zugänglich machte. Dabei bezeichnet der Begriff »Tolteke« nicht etwa das gleichnamige präkolumbianische Volk, sondern bedeutet in Nahua, der Sprache der alten Mexikaner, soviel wie »Baumeister«, »Künstler« oder »Wissender«.
Ursprünglich, vor Jahrtausenden, arbeiteten die toltekischen Zauberer vor allem mit psychotropen Pflanzen, um zur Wahrnehmung anderer Welten, aber auch zu einer anderen Wahrnehmung unserer Alltagswelt zu gelangen. Auf die Dauer erkannten sie jedoch, wie schädlich die Auswirkungen der Drogen auf ihre Gesundheit und ihr Bewusstsein waren, und sahen sich nach anderen Möglichkeiten um. Eine dieser Methoden ist die oben genannte Kunst des Träumens, bei der es sich nicht, wie man annehmen könnte, um eine weitere Technik zur eskapistischen Flucht aus unserer Alltagswelt handelt, sondern um eine Möglichkeit, die Welt auf neue Weise sehen zu lernen – nämlich als das, was sie wirklich ist: Energie.
- Das Universum ist eine unendliche Ansammlung von Energiefeldern, die dünnen Lichtfasern gleichen.
- Diese Energiefelder, genannt die Emanationen des Adlers, strahlen aus einer Quelle von unvorstellbaren Ausmaßen, metaphorisch der Adler genannt.
- Auch die Menschen bestehen aus einer unendlichen Zahl von faserförmigen Energiefeldern. Diese Emanationen bilden ein abgeschlossenes Agglomerat, das sich als Lichtkugel von der jeweiligen Größe der betreffenden Person mit ausgestreckten Armen darbietet und wie ein großes leuchtendes Ei wirkt.
- Nur ein sehr kleines Spektrum von Energiefeldern im Inneren dieser leuchtenden Kugel wird erhellt, und zwar von einem intensiv leuchtenden Punkt, der sich an der Oberfläche der Kugel befindet.
- Wahrnehmung findet statt, sobald die Energiefelder dieses kleinen, unmittelbar an den leuchtenden Punkt angrenzenden Spektrums ihr Licht aussenden, um identische Energiefelder außerhalb der Kugel zu erhellen. Weil nur jene Energiefelder wahrnehmbar sind, die durch den leuchtenden Punkt erhellt werden, bezeichnet man diesen Punkt als »Punkt, an dem die Wahrnehmung montiert wird«, oder kurz als »Montagepunkt«.
- Der Montagepunkt kann aus seiner gewohnten Position an der Oberfläche der leuchtenden Kugel in eine andere Position an der Oberfläche oder im Innern der Kugel verschoben werden. Weil das Leuchten des Montagepunktes alle Energiefelder, die es berührt, erhellen kann, wird der Montagepunkt, sobald er sich in eine neue Position bewegt, sofort neue Energiefelder erhellen und mithin wahrnehmbar machen. Diese Wahrnehmung bezeichnet man als Sehen.
- Sobald der Montagepunkt sich verschiebt, ermöglicht er die Wahrnehmung einer ganz anderen Welt, die ebenso faktisch und objektiv ist wie die Welt, die wir normalerweise wahrnehmen. Der Zauberer kann in jene andere Welt gehen, um sich dort Energie und Lösungen für allgemeine und besondere Fragen zu holen – oder um das Unvorstellbare zu schauen.
- Die allesbeherrschende Kraft und Ursache unserer Wahrnehmung ist die Absicht. Es ist nicht so, als würde uns etwas bewusst, weil wir es wahrnehmen, sondern wir nehmen wahr, weil die Absicht eingreift und uns dazu zwingt.
- Die Zauberer streben nach dem Ziel, einen Zustand absoluter Bewusstheit zu erreichen, um alle Möglichkeiten der Wahrnehmung zu erfahren, die uns Menschen offenstehen. Zu diesem Bewusstseinszustand gehört sogar eine andere Art zu sterben.
Die Fixierung des Montagepunktes
Der Montagepunkt eines Neugeborenen ist laut Carlos Castaneda noch nicht auf eine bestimmte Position fixiert, sondern schwankt in einem für uns Menschen spezifischen Bereich hin und her. Erst der Prozess der Sozialisation, in dem Eltern und Erzieher dem Kind beibringen, wie es die Welt wahrzunehmen hat, fixiert den Montagepunkt des Kindes nach und nach auf eine Position, in denen es diese »Wirklichkeit« mit seinen »Platzanweisern« teilt und so überhaupt erst auf sinnvolle und kohärente Weise mit ihnen interagieren kann. Es wird Schritt für Schritt mit einer Weltbeschreibung vertraut gemacht, die es wahrzunehmen und als die »wirkliche Welt« aufrechtzuerhalten und zu verteidigen lernt. Gelingt dies nicht oder nur unvollständig, bleibt das Kind in einer unzugänglichen eigenen Welt dem Chaos wechselnder Wahrnehmungen eines schwankenden Montagepunktes überlassen, wie z.B. bei Autisten, die dann stets versuchen, Ordnung ins Chaos zu bringen, indem sie z.B. bestimmte stereotype Handlungen ständig wiederholen.
Die Wahrnehmung einer gemeinsamen Welt – und viel mehr noch die Interaktion in ihr – fordert die Gleichschaltung aller Montagepunkte, sprich eine gemeinsame Position der Alltagswirklichkeit. Erst ein Konsens über die Eck- und Grenzwerte unserer Wahrnehmung lässt uns aus dem Chaos der Energiefelder des Universums eine Welt montieren, in der die nötige Klarheit herrscht, die für jede Interaktion und Kommunikation unabdingbar ist.
Leider verfallen wir alle leicht dem Glauben, dass diese Welt, die wir als »wirklich« wahrzunehmen gelernt haben, die einzige und alleinige Wirklichkeit sei. Es kommt uns nicht einmal in den Sinn, dass unsere Alltagswelt – so komplex und vielfältig sie auch sein mag – nur eine mögliche und willkürliche Position des Montagepunktes neben unzähligen anderen möglichen Positionen, sprich Welten, ist.
Unsere alltägliche Welt ist also wie in Platos Höhlengleichnis nur ein Schattenspiel auf einer Wand, auf die wir gebannt starren. Und wir Menschen haben sowohl als einzelne als auch als Gesellschaft im Sinne der Wahrnehmung die Höhle immer noch nicht verlassen, unfähig aus einem kollektiven Traum einer »Wirklichkeit« zu erwachen, die nicht viel anders oder besser ist als die »Matrix« der gleichnamigen Kino-Trilogie – eine Welt, die uns gefangen hält.
Die Revolution der Zauberer
Bis zu seinem Tod wurde Castaneda nicht müde, Menschen den Höhlenausgang zu zeigen – nicht nur in seinen Büchern, sondern auch auf Vorträgen und Seminaren, die der vormals so publikumsscheue Autor zusammen mit seinen Gefährtinnen Taisha Abelar, Florinda Donner-Grau und Carol Tiggs vermehrt in den 90er Jahren in den USA und in Europa abhielt. Doch schon zuvor hatte Castaneda in Mexiko ausgewählten Zuhörern auf mehr oder weniger geheimen Vorträgen Lektionen in den Künsten der toltekischen Zauberer erteilt – etwas, wovon der mexikanische Autor Armando Torres in seinem nun auch auf Deutsch vorliegenden Buch »Begegnungen mit dem Nagual – Gespräche mit Carlos Castaneda« Zeugnis ablegt.
»Die Tragödie des modernen Menschen«, erklärt Castaneda dort seinem Publikum, »liegt nicht in seinen sozialen Umständen, sondern in seinem mangelnden Willen, sich selbst zu ändern. Es ist sehr leicht, kollektive Revolutionen anzuzetteln. Aber eine echte Veränderung – das Selbstmitleid aufgeben, das Ego auslöschen, unsere Gewohnheiten und Marotten ablegen – das ist etwas ganz anderes! Zauberer sagen, dass die wahre Rebellion eine Revolution gegen die eigene Dummheit ist, und dass dies unser einziger Ausweg sei. Ihr versteht, dass man diese Arbeit nur alleine tun kann.
Diese Art von Revolution ist das Ziel der Zauberer. Die unbeschränkte Entfaltung unserer Möglichkeiten als wahrnehmende Wesen. Ich habe niemals einen größeren Revolutionär als meinen Lehrer gesehen. Er schlug nicht vor, Tortillas durch Brot zu ersetzen. Er ging geradewegs auf den Kern der Sache zu. Er schlug einen Salto des Denkens ins Unvorstellbare vor, um sich von allen Fesseln zu befreien. Und er zeigte, dass dies möglich ist! Er schlug mir vor, mein Leben mit Entscheidungen der Kraft zu füllen, mit Strategien, die mich zur Bewusstheit führen würden. Er lehrte mich, dass die Ordnung der Welt ganz anders sein kann, als wir es gelernt haben, und dass ich sie jederzeit beiseite schieben kann. Ich bin nicht verpflichtet, anderen ein bestimmtes Bild von mir vorzugaukeln oder mit einem Inventar zu leben, das nicht zu mir passt. Mein Schlachtfeld ist der Weg des Kriegers.«
Der Weg des Kriegers
Castaneda betont hier wie auch in seinen Büchern, dass man ein »Krieger« werden muss, um die nötige Energie aufzubringen, um aus dem Gefängnis der alltäglichen Wirklichkeit auszubrechen. Dabei bezeichnet der Begriff »Krieger« in seiner Welt keinen kriegerischen Menschen, der in irgendwelchen Schlachten kämpft, sondern jemanden, der die Herausforderung annimmt, seiner eigenen Sterblichkeit ins Auge zu blicken und sich von den starren Begrenzungen der kollektiven Fixierung des Montagpunktes zu befreien. Und dazu ist es erst einmal nötig, den illusionären Charakter unseres Egos zu durchschauen und das abzulegen, was Zauberer »die eigene Wichtigkeit« nennen. Mithin kämpft ein Krieger also gegen sein »falsches Selbst«, das im Kern unserer alltäglichen Vorstellung von Wirklichkeit steht.
Weiterhin kultivieren toltekische Krieger Disziplin, wobei dieser Begriff nichts mit der starren Disziplin von Klosterschülern zu tun hat. Castaneda erklärt: »Die Disziplin eines Kriegers ist kreativ, offen und führt zur Freiheit. Sie ist die Fähigkeit, dem Unbekannten mit einem Gefühl ehrfürchtigen Staunens gegenüberzutreten statt mit dem Gefühl, alles zu wissen. Bei ihr geht darum, Dinge zu betrachten, die über die Grenzen des Gewohnten hinausreichen und den einzigen Kampf zu wagen, der es Wert ist, gekämpft zu werden: Die Schlacht um die Bewusstheit. Und sie ist der Mut, die Konsequenzen all unserer Handlungen zu tragen, was immer sie auch sein mögen, ohne Selbstmitleid oder Schuldgefühle.«
Ziel der Krieger ist es auch, die Welt und alles, was in ihr geschieht, vorurteilsfrei zu betrachten und somit zum »Zeugen« zu werden. Und genau das ist es, was Armando Torres in seinem Buch »Begegnungen mit dem Nagual« tut – er wertet nicht, sondern lässt Castaneda posthum selbst zu Wort kommen. Entstanden ist ein authentisches und bewegendes Zeugnis einer Lehre, in der Bewusstheit, Wahrnehmung und das Streben nach der Befreiung aus den Zwängen eines willkürlichen Konsens zum Ausdruck kommen.
Dabei ist sein Werk sowohl für den Castaneda-Neuling geeignet, weil in ihm eine hervorragende Zusammenfassung der toltekischen Lehren vorliegt, als auch für den Castaneda-Kenner, weil Torres ein wahres Kaleidoskop an Details, praktischen Tipps, Übungen und Anregungen vor uns ausbreitet.
Was wir hiervon nutzen, liegt ganz bei uns selbst. Tatsächlich war es Castaneda, der Torres dazu ermutigte, all seine Erinnerungen aufzuschreiben und einen bestimmten Teil davon später im seinem Auftrag der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. »Und wenn ich etwas vergesse«, fragte ihn der besorgte Torres. »Dann war dieses Wissen nicht für dich bestimmt«, antwortete Castaneda. »Konzentriere dich auf das, was du erinnerst.«
Dieser Ansatz entspricht ganz der Grundhaltung der toltekischen Zauberer, die den Schwerpunkt immer auf die eigene Wahrnehmung anstatt auf äußere Dogmen oder einschränkende Prinzipien legen. Viele Castaneda-Leser wünschen sich auch heute noch ihren eigenen Don Juan oder einen anderen weisen Meister als Lehrer, weil sie glauben, man brauche einen solchen Anstoß, um zu lernen und aus dem Gefängnis des Ego und seiner vorgefertigten Welt auszubrechen. »Wer auch immer ernsthaft in die Lehren der Zauberer eindringen möchte«, entgegnet Castaneda, »braucht keine Führer. Aufrichtiges Interesse reicht aus – und Eier aus Stahl. Er wird durch unbeugsame Absicht selbst alles finden, was er braucht.«
Begegnungen mit dem Nagual. Gespräche mit Carlos Castaneda
ca. 260 Seiten, € 14,90
ISBN 978-3-86264-201-4
(erscheint im April 2012)
Hans Nietsch Verlag
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Ich schätze Castaneda ein Leben lang und ich kenne die Bücher von Torres und ich finde er ist ein Hochstapler. Er hat das Wesentliche nicht begriffen.