Religiöse Menschen mögen die globale Krise vielleicht einer Trennung des Menschen von Gott zuschreiben; Menschen mit einer ökologischen Überzeugung sehen die Ursache in der Trennung von der Natur und sozial engagierte Menschen würden den Schwerpunkt wohl auf die Entfremdung in der Gesellschaft legen. Der Philosoph Charles Eisenstein hat diese und weitere Aspekte untersucht und herausgefunden, dass die Ursache noch etwas tiefer liegt.
Charles Eisenstein, 1967 geboren, graduierter Yale-Student, hat das Zeug dazu, als Sprachrohr zu dienen, als Wortgeber für die Generation occupy und alle, die sich nicht länger mit der gegenwärtigen Lage in der Welt zufriedengeben wollen. Sein wortgewandtes Manifest »Der Geist von occupy« hat ihn bereits dazu prädestiniert. Nun hat der Befürworter einer »Revolution der Liebe« in einem 700 Seiten gewaltigen Werk die ausschlaggebenden Wegmarken auf der Strecke zur menschlichen Zivilisation unter die Lupe genommen, um darzulegen, worin die ökologischen, politischen und wirtschaftlichen Probleme heute wirklich begründet liegen.
Eisenstein, der viele Jahre in Taiwan gelebt und sich der inneren Weiterentwicklung verschrieben hat, ist dabei keineswegs pessimistisch. Vielmehr nimmt er sich das Recht, empört zu sein und sich zu fragen: »Welcher Wahn ließ uns das geringere Leben und die geringere Welt, in der wir uns heute wiederfinden, akzeptieren?« Und er hegt genügend Optimismus, um zu deklarieren: »Ob nun für mich oder die Welt, ich teile mit Träumern, Utopisten und jungen Leuten die ungebührliche Intuition, dass das Leben und die Welt ein großartiges Potenzial besitzen, dass sie mehr sein könnten als das, was wir daraus gemacht haben.«
Anhand seiner ausführlichen Untersuchungen der möglichen Ursachen für die Destruktivität unserer Kultur zeigt Charles auf, dass es durchaus eine spirituelle Dimension der planetarischen Krise gibt. Der einstige Rationalist, der erkennen muss-te, dass der Verstand nicht alles ist, sieht die Hauptursache für die mangelnde Ein- und Weitsicht des modernen Menschen in dessen Trennung von der Natur und von seinem eigenen Ursprung.
»Die Wurzel und der Inbegriff der Separation ist das abgetrennte, isolierte Selbst in der modernen Wahrnehmung«, sagt er. Er erkennt darin dieselbe Trennung, von der Heilige und Mystiker seit Tausenden von Jahren sprechen.
In den letzten Jahren ist die Unzufriedenheit der Menschen, die merken, dass es so nicht weitergehen kann, stark angestiegen. Es erscheint immer unmöglicher, sich beruhigt zurückzulehnen. Stattdessen hat man das Gefühl, sich immer mehr bemühen zu müssen, um ein gewisses Maß an Lebensqualität und Sicherheit zu erhalten. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung entstehen aus einem Leben, das nur noch durcheilt wird und wenig tiefe Erfüllung bringt. Diese Unzufriedenheit ist bei vielen schon in ein Gefühl der Ohnmacht und Isolation übergegangen und äußert sich besonders in den Krankheiten der Moderne wie Burnout und Depression.
Für Charles Eisenstein sind diese Gefühle Symptome der Separation des Menschen von seinem tieferen Selbst und der Natur: »Der Schmerz, den diese Trennung erzeugt, äußert sich auf unzählige Arten: allgegenwärtige Einsamkeit, unangemessene Traurigkeit, ungerichtete Wut, nagende Unzufriedenheit, brodelnder Hass.« Beim Ich, das sich von der Welt getrennt fühlt, sind diese Gefühle sozusagen vorprogrammiert, da es Depersonalisation und Angst bereits miteinschließt. Von der Warte des Ego aus zu handeln hilft uns also nicht weiter. Eisenstein warnt zudem davor, das Ego mit der »menschlichen Natur« gleichzusetzen. Das Ego sei vielmehr die verleugnete menschliche Natur.
»Hinter den enormen Trümmern, die unsere Zivilisation herausgearbeitet hat, steckt nicht die menschliche Natur, sondern ihr Gegenteil: die Verleugnung der menschlichen Natur«, erläutert er. Entdeckten wir hingegen wieder unsere Verbindung zum tieferen Sein, zur Natur, dann könnten wir erkennen, dass wir »machtvoll jenseits der Vorstellungskraft« seien.
Eisensteins Buch beleuchtet, warum vermehrte Anstrengungen in die gleiche Richtung niemals funktionieren können. Den alten Fortschrittsglauben mit seiner Idee, dass neue Technologien schon alles richten werden, zerlegt er in seine Bestandteile. Technisch orientierte Lösungen tragen meist schon die nächsten Fallen und Tücken in sich. »Hilflos reagieren wir auf jeden Misserfolg bei der Kontrolle mit noch mehr Kontrolle, womit wir den Tag der Abrechnung aufschieben und dessen Auswirkungen schlussendlich intensivieren«, schreibt Eisenstein treffend. Ein bedeutsamer Grund für die Mensch-Natur-Trennung ist gerade die Technologie. Indem wir die Natur durch Technologie beherrschen, entkoppeln wir uns vom Rest des Lebens.
Indessen haben sich die einstigen Versprechen des technologischen Fortschritts nicht erfüllt. Die etablierte Medizin hat immer mehr Probleme, die Tatsache zu verbergen, dass 40 Jahre »Fortschritt« die Krankheiten nicht eingedämmt, sondern nur verändert haben. Genauso wenig konnte die Technologie das Versprechen vom »Zeitalter der Muße« einlösen, und sie hat es auch nicht geschafft, dass alle Menschen in Fülle leben.
Wissenschaftler und Wissenschaftsgläubige müssen langsam erkennen, dass es trügerisch ist, zu glauben, es gäbe je eine absolute Gewissheit – die nötig wäre, damit eine absolute Kontrolle funktionierte. Dafür haben neueste Erkenntnisse der Physik, Mathematik etc. zu deutlich gezeigt, dass unsere Gedanken, Worte und Handlungen über ihre klassischen physikalischen Beschreibungen hinaus Macht und Wirkung haben. Die Vorstellung einer energetisch formbaren Realität, die nicht getrennt und absolut ist, sondern durch unsere Beziehungen zu ihr definiert und von unserem Glauben geformt wird, nimmt immer mehr Gestalt an.
Eisenstein geht es nicht darum, die wissenschaftlichen Methoden, die er ausführlich untersucht, abzuschaffen. Vielmehr möchte er die ihr innewohnenden Begrenzungen wie auch die Art von Wissen, die sie definitionsgemäß hervorbringen, erhellen. »Die umfangreichen wissenschaftlichen Kapitel sollen Sie überzeugen, dass die mechanistische, objektive Welt des eigenständigen Selbst keine Realität ist, sondern lediglich eine Projektion, ein bloßes Bild unserer eigenen Verwirrung«, so der Amerikaner.
»Ohne Gewissheit wird die Logik ihre Vorrangstellung als Königsweg zur Wahrheit verlieren. Sie wird ihren rechtmäßigen Platz als eine von mehreren Arten des Wissens, jede passend zu ihrem eigenen Bereich, wieder einnehmen«,
ergänzt er.
Mit der wissenschaftlichen Revolution, der Aufklärung, mit Galileo, Newton, Bacon und Descartes, begann bereits das Manko einer nur noch auf das Materielle fixierten Weltanschauung. Die Ideologie der Separation erhielt damit ihren vollen Ausdruck. Doch Eisenstein zufolge liegen die Ursachen unserer zerstörerischen Tendenzen noch weiter zurück. Bereits der Gebrauch von Steinwerkzeugen vor über zwei Millionen Jahren stellt seiner Ansicht nach eine Abkehr von der Natur dar. Mit dieser Fähigkeit entwickelte sich der Menschen zu einem Wesen, das stetig nach Verbesserung und mehr Sicherheit suchte.
Auch die Sprache, die unsere Art des Denkens und Handelns hervorgebracht hat, stellt eine Ursache für unseren ego-zentrierten Umgang mit der Welt dar. Aus Sprache entstand die rationale Herangehensweise an das Leben und damit bildeten sich die Begriffe »Zeit« und »Raum« heraus. Wissenschaft, Religion, Kunst und Technologie wurden so erst möglich. Im Übergang von den Jäger-und-Sammler-Gesellschaften zu den Agrikulturen spiegelt sich die zunehmende Rationalisierung des Menschen, der begann, die Zeit zu messen und das Jetzt zu vergessen. Von nun an wurde für die Zukunft aufbewahrt, um Sicherheit vor der Ungewissheit zu erlangen.
Aus diesem Szenario heraus entstand wiederum das Geldsystem, das den Tauschhandel ablöste. Die enormen Konsequenzen, die aus der Umwandlung des Gemeinwohls – soziales, kulturelles, seelisches und natürliches – in Geld resultieren, sind dabei immens. Im kapitalistischen System wurde der Wert des Geldes schließlich derart überhöht, dass immer weniger real existierende Waren die in Umlauf gebrachten Geldmengen deckten. Mit Spekulationen auf immer virtuellere Szenarien nahm der Höhenflug des Geldes in immaterielle Gefilde dann seinen gefährlichen Lauf, der heute zum Platzen von etlichen Finanz-Traumblasen führt.
Interessanterweise beruht das kapitalistische System bereits auf einem veralteten Konzept, das evolutionären Fortschritt als einzig auf Konkurrenz und der Macht des Stärkeren beruhend ansieht. Dabei schrieb Darwin noch zu Lebzeiten: »Meiner Meinung nach war der größte von mir begangene Fehler, nicht genügend Gewicht auf die direkten Einflüsse der Umwelt … unabhängig von der natürlichen Auslese gelegt zu haben … Als ich ,Ursprung‘ geschrieben habe, konnte ich wenig brauchbare Beweise für den direkten Einfluss der Umwelt finden; nun gibt es eine größere Menge Beweise.«
Heute formt sich ein Bild des Lebens, seiner Ursprünge und seiner Entwicklung, das nicht auf Wettbewerb zwischen getrennten genetischen Subjekten beruht. In der Biologie hat man erkannt, dass keine Lebensgemeinschaft autonom existieren kann. Alle Organismen und Mikrosysteme sind von der Gesundheit des Ökosystems abhängig, in dem sie leben, und jedes Ökosystem hängt von anderen Ökosystemen ab. Solange dieses Wissen jedoch nicht als Grundlage für jegliches Handeln genommen wird, besteht die akute Gefahr, dass die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen zu einem Kollaps unseres Systems führt.
Charles Eisenstein sieht einen solchen Kollaps als unvermeidlich und gleichzeitig unerlässlich an, damit die Menschheit für ein »Zeitalter der Wiedervereinigung« bereit ist. »Der Kollaps, dem wir entgegengehen, ist mehr als nur der Kollaps ‚unserer Zivilisation‘, sondern von Zivilisation überhaupt – von Zivilisation, wie wir sie kennen. Es ist der Kollaps einer gesamten Herangehensweise an die Welt und an das Sein und der gesamten Definition des Selbst«, erläutert der Autor. »Wenn wir unser Selbst von der Natur trennen, … wenn wir wechselseitige Abhängigkeit durch ‚Sicherheit‘ und Vertrauen durch Kontrolle ersetzen, dann trennen wir uns ebenso von einem Teil unseres Selbst ab. Die Natur, innerlich und äußerlich, ist kein kostenloses, aus praktischen Gründen notwendiges anderes, sondern ein untrennbarer Teil von uns.«
Die Schlagworte einer neuen Lebensweise sind für Charles Eisenstein Verbundenheit – mit sich, anderen und der Natur –, Kooperation als Währung, Ganzheitliche Medizin und Technologien, restaurative Ökonomie und eine Kultur des Gebens und Nehmens. Er wünscht sich eine Welt, in die wir uns wieder verlieben können, und eine menschliche Gesinnung, die in Natürlichkeit und Naturverbundenheit begründet ist. Für ihn ist dies kein Utopie, sondern eine konkrete Möglichkeit, für die er sich tagtäglich einsetzt.
Die Renaissance der Menschheit. Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
784 Seiten, € 22,95
ISBN: 978-3-942166-94-2
Scorpio Verlag
Ein sehr guter Artikel, hebt sich sehr wohltuend vom überwiegenden (abgehobenen) Esoterik-Blablabla ab.
Auch ich denke, dass der „Kollaps“ unserer ganzen bisherigen Strukturen unvermeindlich ist, damit endlich etwas Neues hervortreten kann. Ich glaube, die aktuelle Schuldenkrise ist der Beginn dieses Kollapses. Aber leider geht das ganze (wie ich finde) viel zu langsam voran, denn immer wieder werden Maßnahmen des Herauszögerns gefunden und auch ergriffen. Doch früher oder später wird es soweit sein. Und ich muss ehrlich zugeben: Ich hoffe es kommt bald!