Das Selbst und die Unendlichkeit

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Lama Anagarika Govinda, einer der bekanntesten deutschen Buddhisten, war zeit seines Lebens mit vergleichenden Studien zu den großen Weltreligionen befasst. Eine zentrale Frage im Dialog der monotheistischen Weltreligionen mit dem Buddhismus ist die nach dem Selbst. Kennt der Buddhismus tatsächlich keine Individualität, wie es die „Anatman-Lehre“ – die Lehre vom Nicht-Selbst – auszudrücken scheint?

Lama Anagarika Govinda widersprach sein Leben lang dieser Fehlinterpretation einer buddhistischen Grundidee, wobei sein Augenmerk auf der dynamischen Entwicklung von Bewusstsein lag, im Gegensatz zu einer statischen Seelenlehre, die ein einmal erlöstes und dann unwandelbar ‚seliges‘ Wesen postulierte. „Anatman bedeutet ja nicht, dass es nichts Ewiges in uns gäbe, sondern vielmehr, dass das ‚Ewige‘ in einem ununterbrochenen Fluss von Nehmen und Geben besteht.“

Das Missverstehen der Nicht-Selbst- Lehre sieht Lama Govinda eher aus einem historischen Irrtum heraus entstehen, da die upanishadische Vorstellung vom Atman, der Brahman (das Absolute) ist, zur Zeit Buddhas keine Rolle spielte. In dieser Bezogenheit auf den absoluten Geist hielt Lama Govinda den Atman- Gedanken für akzeptabel. Eine Atmanoder Seelen-Lehre war für Lama Govinda dann annehmbar, wenn man darunter „etwas im Laufe der Zeit Wachsendes, sich Entwickelndes und Wandelndes versteht, das uns zu tieferem Erleben befähigt“. Dieses Konzept stand nach Govindas Überzeugung auch hinter den ursprünglichen Ideen von Atman oder Seele.

Alle späteren, mehr statischen Vorstellungen müssen bereits als Entstellungen der Grundidee betrachtet werden. Von daher gab Lama Govinda der alten Weisheit der Upanishaden vom „Tat tvam asi“ (Das bist Du) eine andere Auslegung als die gebräuchliche. „Wenn die Upanishaden sagen ‚Das bist Du‘, dann liegt die Betonung nicht auf dem Wort ‚bist‘ – in dem Sinne, dass ‚Du‘ und ‚Das‘, nämlich das Individuum und seine Umwelt, identisch seien, sondern dass beide untrennbar miteinander verbunden sind, so wie der positive und negative Pol der gleichen Kraft oder der gleichen Wirklichkeit.“

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Lama Anagarika Govinda und seine indische Frau Li Gotami unter einem alten Feigenbaum

Bereits in seinen ersten Werken legt Lama Govinda großes Gewicht darauf, die Bezogenheit von Individualität und Universalität klar herauszuarbeiten. Es zählte zu seinen Herzensanliegen, deutlich zu machen, inwiefern beide Aspekte wesenhaft zum buddhistischen Menschenbild gehörten. „Es ist daher nicht das Bestreben des Buddhisten, „im Grenzenlosen aufzugehen“, sein endliches Bewusstsein mit dem Allbewusstsein zu verschmelzen oder seine Seele mit der Allseele zu vereinen, sein Ziel ist vielmehr: sich seiner seit je bestehenden, unteilbaren und ungeteilten Ganzheit bewusst zu werden.“

Er drehte das Gleichnis vom Tropfen (des Bewusstseins), der im Meer (im Absoluten) untergeht, genau um. Es ist das Meer, das sich in den Tropfen ergießt. Das Individuelle ist prinzipiell des Absoluten fähig! Das verdeutlicht er in einer anderen Analogie nochmals unter Bezugnahme auf die Unendlichkeit des Raumes. „Unser Bewusstsein bestimmt die Art des Raumes, in dem wir leben. Die Unendlichkeit des Raumes und die Unendlichkeit des Bewusstseins sind identisch. In dem Augenblick, in dem ein Wesen sich seines Bewusstseins bewusst wird, wird es sich des Raumes bewusst. In dem Augenblick, in dem es sich der Unendlichkeit des Raumes bewusst wird, wird es der Unendlichkeit des Bewusstseins inne.“

So wie im mathematischen Denken jede Dimension mit Notwendigkeit eine nächste höhere Dimension erfordert, die letztlich in der Idee einer unendlichen Reihe von Dimensionen gipfelt, sah Lama Govinda auch in jeder höheren Bewusstseinsstufe nur die Vorstufe zur nächsten, noch höheren Ebene – in einem unendlichen Wachstumsprozess. Selbst die erleuchteten Buddhas der Vergangenheit lösten sich nicht in einem formlosen All auf, sondern behielten ihre individuellen Bewusstseinsbrennpunkte. „Was ein Individuum vom anderen unterscheidet, sind seine relative Position im Raum und in der Zeit und die daraus sich ergebenden Beziehungen innerer und äußerer Art. Selbst wenn sein Bewusstsein durch Vernichtung aller Begrenzungen (oder durch ein Sich-nichtmehr- Identifizieren mit individuellen Begrenzungen) sich zum allumfassenden Bewusstsein ausgeweitet hat, behält es den Charakter seiner Position oder seines Ausgangspunktes als eines gesonderten Erfahrungszentrums. Dieses erklärt, warum jeder Buddha, trotz der essenziellen Gleichheit der Buddhaschaft, seinen eigenen Charakter behält.“

Die Individualität war nicht nur der Gegenpol zur Universalität, sondern vielmehr der entscheidende „Brennpunkt“, durch den Universalität allein sich offenbaren konnte. Eine Leugnung der Bedeutung von Individualität käme einem Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Dasein überhaupt gleich. „Die bloße Tatsache unserer individuellen Existenz muss einen sinnvollen Platz in der Ordnung des Universums einnehmen.“ Und der Buddhist Lama Govinda war von dieser Sinnhaftigkeit zutiefst überzeugt.

In seiner großen Studie über das Bewusstsein („Schöpferische Meditation und multi-dimensionales Bewusstsein“) widmet Lama Govinda der Problematik von Individualität und Universalität ausführlich Raum. Er beleuchtet das Problem von allen Seiten, immer jedoch in der Sinnhaftigkeit einer Bezogenheit beider Aspekte endend. „Es ist das Endliche, das dem Unendlichen Sinn verleiht, denn das Unendliche kann sich nur in endlicher Form ausdrücken. … Es ist die Kostbarkeit des Augenblicks, in der die zeitlose Ewigkeit gegenwärtig ist. Es ist die Kostbarkeit der individuellen Form, in der das Unendliche sich offenbart.“ Das entscheidende Missverständnis beim Studium des Buddhismus liegt daher darin, die Überwindung des „Ich“ mit dem Verlust von Individualität gleichzusetzen. Der Überwindung dieses Irrtums widmete Lama Govinda viel Zeit und Gedankenkraft.

„Unsere abstrakten Denker wollen jedoch eine Einheit ohne Verschiedenheit haben und Unendlichkeit ohne etwas Endliches oder Ewigkeit ohne Wechsel, Universalität ohne Individualität, Leere ohne Form, Substanz ohne Qualität, Energie ohne Materie, Geist ohne Körper und dergleichen mehr. Sie sehen nicht ein, dass Einheit ohne Verschiedenheit sinnlos ist oder dass es keine Unendlichkeit geben kann ohne Endliches, dass Universalität nur im Individuum erlebt werden kann und dass das Individuum andererseits seinen Sinn und Wert nur aus der Erkenntnis seines universellen Hintergrundes schöpft. Mit anderen Worten, Universalität und Individualität sind nicht zwei sich gegenseitig ausschließende, unvereinbare Gegensätze. Wir können zu keiner Universalität gelangen, wenn wir unsere Individualität zerstören oder verachten. Wir alle sind Individuen, aber wir sind nicht notwendigerweise Egoisten. Individualität ist nicht identisch mit Egozentrik. Indem wir unser Ich überwinden, verlieren wir nicht unsere Individualität, sondern im Gegenteil, wir bereichern und erweitern unsere Persönlichkeit, welche auf diese Weise ein Ausdruck eines größeren und universaleren Lebens wird.“

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Govinda wurde 1898 als Ernst Lothar Hoffmann in Sachsen geboren, ging aber früh ins Ausland, wo er als Maler, Schriftsteller und Lehrer arbeitete. Zu seinen Schülern zählte u. a. Indira Gandhi.

Mit dieser brillanten Synthese wurde Lama Govinda zum entscheidenden Brückenbauer zwischen Ost und West. Er erkannte die Stärken und Schwächen der jeweiligen Systeme und trachtete danach, sie zu einer höheren Einheit zu führen. „Die Gefahr des Westens ist die Überbetonung des diesseitigen Poles der Individualität, der ichhaften Bestätigung, der Selbstbehauptung und Willenskraft. Die Gefahr des Ostens ist die Überbetonung des universellen Poles, des Jenseitigen und die Negierung des Wertes der Individualität, die zu einem passiven Aufgehen, zu einer Auflösung in einer gestaltlosen Einheit führt.

Beide Haltungen widersprechen dem innersten Gesetz des Daseins, die eine, indem sie die Universalität verneint, die andere, indem sie die Individualität ihres Wertes beraubt. Letzteres würde geradezu der Idee eines göttlichen Universums (das dem Osten so am Herzen liegt) widersprechen, denn es würde darauf hinauslaufen, die Gottheit einer sinnlosen Schöpfung individueller Formen und Wesen anzuklagen.“ In allem Wandel lag daher auch Beständigkeit. Der Vierzigjährige ist ein anderer als der Sechsjährige, er hat sich erheblich „verwandelt“, auf der physischen wie auf der seelischen Ebene. Doch trotz dieser Prozesse besteht eine Kontinuität, die in jedem Fall dazu berechtigt, die betreffende Person als „Individualität“ zu betrachten.

Das gleiche Schema gilt auch für den Reinkarnationsprozess. Bei allen Verwandlungen und Transformationen bleibt doch die Individualität bewahrt, die Lama Govinda auch als „Bewusstseinskraft“ verstanden wissen wollte. „Individuelle Fortdauer ist jedoch nicht als das Fortbestehen einer sich ewig gleichbleibenden Seelensubstanz einer für sich bestehenden, einmaligen Persönlichkeit zu verstehen, sondern als die Kontinuität einer ständig wachsenden und im Wachstum sich verwandelnden Bewusstseinskraft, in der jede neue Erfahrung zur Erweiterung des geistigen Horizontes und zur Bereicherung des inneren Lebens und seiner Beziehungen zur Umwelt beiträgt, bis der Zustand des vollen Erwachens zur Universalität, zum Erlebnis der Ganzheit verwirklicht ist.“ Daher bevorzugte Govinda im Zusammenhang mit der Reinkarnationsfrage eher den Ausdruck „Seelenwandlung“ anstatt „Seelenwanderung“. Die neue Persönlichkeit war dieselbe – und doch eine andere. Diese Dynamik des Wachsens durch Wandel war es, die Lama Govinda zutiefst mit dem Buddhismus verband, da ihm die Seelen-Lehren der anderen Weltreligionen diesen Gedanken gar nicht oder nicht genügend zu berücksichtigen schienen. Ob der Prozess der Verwandlung einmal zu einem absoluten Ende kam oder nicht, spielte dabei keine entscheidende Rolle. An seinem „Ende“ stand auf alle Fälle das erleuchtete Individuum.

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Buddhistische Wege in die Stille
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