»Menschen, die im Hinblick auf Erotik frei sind, sind weniger leicht beherrschbar, aber sie können viel mehr beherrschen und auch sich selbst besser beherrschen« – Ruediger Dahlke möchte mit seinem Plädoyer für mehr Eros das unterdrückte Lebensprinzip, wie er es nennt, in unsere Lebenswelt zurückholen.
Es könnte sich eine Liebeskultur entwickeln, die neue Maßstäbe setzt und unser gesamtes Dasein auf eine höhere Ebene trägt.
Eros, der ewig junge geflügelte Gott, der die Verliebtheit in anderen mit seinen Pfeilen entfacht, übt eine zeitlose Faszination auf uns aus. Seine Energie ist kreativ, initiierend, überraschend, spielerisch, aber auch gefährlich und manchmal schmerzhaft. In manchen alten Genealogien wird Eros zu den Urgöttern gezählt, doch im alten Griechenland war er bereits »nur« noch einer unter vielen, das Kind von Aphrodite, der Liebesgöttin, und Ares, dem Kriegsgott. Eros kam und ging im Laufe der Jahrhunderte, verschwand aber nie ganz aus der Lebenswelt der Menschen. »Gegenwärtig ist er tief im gesellschaftlichen Schatten gelandet«, so Dahlke: »Von den erotischen Mysterien in den Tempeln der Antike bis zu den ›Eros‹-Centern der Moderne mit ihrer käuflichen ›Liebe‹ ist es ein langer Weg. Von Liebe bleibt da nichts, und die Lust ist einseitig«, schreibt er in seinem Buch »Mythos Erotik«.
Doch der Autor sieht heute den richtigen Zeitpunkt, den Schatz des Eros wieder zu heben, die dort gebundene Energie zu befreien und in erlöste Bereiche fließen zu lassen. Wir müssen Eros nur in unser Leben einladen. Früher war die »erotische Kultur« ein reines Oberschichtenthema. Heute stehen uns in großem Maß Informationen zum Thema zur Verfügung. Auch wenn Liebe weder an Schulen noch an Universitäten gelehrt wird, so können wir die Spielarten der Liebe sozusagen autodidaktisch erlernen.
Sinnlicher Genuss war zu allen Zeiten mit weiblichen Göttinnen verbunden. In einer archetypisch weiblichen Welt spielte Eros eine viel größere Rolle als in archetypisch männlichen Zeiten. Doch die weiblichen Göttinnen der Liebe umgeben auch Schattenseiten. Aphrodite wurde in einem Gewaltakt der blutigen Kastration des Himmelsgottes Uranus empfangen und aus dem schäumenden Meer geboren. »Da im Anfang alles liegt, mag hier schon dämmern, dass nicht alles nur schön sein kann, was mit Aphrodite zusammenhängt. So wird die Liebe trotzdem und gerade deswegen zur Hoffnung für Götter und Menschen«, schreibt der Arzt und Psychotherapeut.
Mangelnde Erotik
Heute ist vielerorts die Klage über eine mangelnde Erotik groß. Verantwortlich dafür macht Dahlke besonders den Turbo- Kapitalismus mit seiner Hektik und Oberflächlichkeit. »Die modernen Hauptfeinde der Seele, aber auch von Sinnenfreuden, Zärtlichkeit, Körperkontakt und Sex, also von Eros, sind Zeitmangel und Stress. Insofern sind frei gehaltene Zeit- Räume eine Voraussetzung der Entwicklung von Erotik wie auch der Entfaltung der Seele«, erläutert er.
Die Fixierung unserer Gesellschaft auf die Oberfläche spiegelt sich heute z.B. im ,,Cool«-Sein, und statt heißer Rhythmen geht es ums »Chillen«. Wird das, was sich unter der Oberfläche befindet, jedoch stetig ignoriert, laufen wir Gefahr, Opfer unserer verdrängten Schattenseiten zu werden. »Die oberflächliche, rein quantitative sexuelle Befriedigung bringt Eros wenig – ihr fehlt dafür die Brücke zur seelischen Liebe«, schreibt auch Dahlke. Stattdessen wächst die Gier. Daraus folgende Exzesse wiederum steigern die Lust nur noch mehr. Immer neue, stärkere Reize müssen her. Ein Teufelskreis.
Die Werbung überreizt besonders Männer mit erotischen Signalen, während Frauen ihre körperlichen Bedürfnisse häufig mittels exzessiven Essensgenusses kompensieren. Auf dem Gegenpol findet sich zunehmend Magersucht, die Weigerung, ins weibliche Reich hineinzuwachsen. Viele Männer und Frauen scheinen sich dem dauerhaft präsenten Sexangebot inzwischen zu entziehen. Die Vorbilder sind zu künstlich, die Ansprüche zu hoch. Das Ergebnis seien, so Ruediger Dahlke, »Männer, die nicht mehr können, und Frauen, die nicht mehr wollen«. Und leider redeten sie auch nicht oder zu wenig miteinander über ihre Gefühle. In 30 Jahren therapeutischer Praxis hat er die Erfahrung gemacht, dass statt des Gesprächs meist die Projektion als Ausweg gewählt wird.
Aber auch in früheren Zeiten hat Eros es nicht leicht gehabt. Bereits der griechische Philosoph Platon entwarf mit seiner »platonischen Liebe« einen gewichtigen Gegenentwurf zum körperbetonten Eros. Und die Kirche versuchte stets ihre Körperfeindlichkeit in Verboten und Bestrafungen durchzusetzen. Dahlke sieht sogar in der kirchlichen Institution »Heirat« eine problematische Grundlage für Eros. Der Anspruch auf lebenslange Haltbarkeit monogamer Ehen fördere die Diskrepanz zwischen Moral und Seelenbedürfnissen. Das Unterdrücken der starken Gefühle, die Eros entfacht, kann jedoch weitreichende Folgen haben. Ebenso ist das heimliche Frönen außerehelicher Lust dem Psychotherapeuten zufolge nicht die beste Lösung. Beides könne letztendlich zu Krankheit führen. Der lehrreichste, aber auch der anspruchsvollste Weg wäre, allen Beteiligten reinen Wein einzuschenken und gemeinsam und damit in Beziehung und Bezogenheit zueinander die Erfahrung zu durchleben.
Die Geschlechterrollen
Ruediger Dahlke erkennt zudem in der gegenwärtigen Angleichung der Geschlechterrollen einen mächtigen Gegenspieler für Eros. »Beziehungen kranken heute am Fehlen von Erotik, weil die Polarität zwischen Mann und Frau übersehen wird«, erklärt er. Die Gleichstellung zahlten wir mit Vitalität und »Seeleninfarkten«. Das Übernehmen männlicher Attribute durch Frauen und umgekehrt bekomme beiden Geschlechtern nicht gut, da das Verwischen der Polarität die erotische Spannung reduziere. Im Sinne der Krankheitsbilder-Deutung erkennt Dahlke in der zunehmenden Rate an Prostata- und Brustkrebserkrankungen, dass viele auf der tieferen Seelenebene mit der Rollenangleichung nicht zurechtkommen.
Dahlke wünscht sich eine Welt, in der die Rollen wieder »klassischer« verteilt sind. »Könnte es sein, dass sich immer mehr Frauen immer weniger für die Ambitionen und Aktionen der ›Emanzipationsbewegung‹ interessieren? Dass sie, deren politische Früchte lässig-nebenbei mitnehmend, es wagen, wieder von ›richtigen‹ Männern zu träumen?«, fragt er. Durch den großen Erfolg des Buches »Fifty Shades of Grey« sieht er seine These bestätigt. Das Buch erzählt die Liebesgeschichte zwischen einer schüchternen Studentin und einem erfolgreichen, aber emotional gebrochenen Manager, der die junge Frau mit seinen SM-mäßigen Begierden in ungeahnte Tiefen reißt, die sie letztendlich zu genießen weiß – soweit, dass sie den Mann am Ende sogar zu einer Art Heilung alter Wunden führt.
»Eine Geschichte, die sich so beeindruckend ihren Weg bahnt, muss einen Archetyp, ein Urmuster bedienen, nach dem viele Menschen und hier wohl vor allem Frauen eine große Sehnsucht haben«, schreibt Dahlke. Hier werde eine tiefe, immer noch vielfach unbefriedigte Sehnsucht vieler Frauen nach einem starken, männlichen Partner angesprochen, der durchaus seine Macht demonstrieren und ausüben kann. Viele, wenn nicht alle Frauen, auch erfolgreiche Powerfrauen, die ganzen Firmen voller verhuschter moderner Männer vorstünden, seien betroffen. Selbst die emanzipiertesten sehnten sich insgeheim danach, im Reich von Eros genommen und für diesen Moment entmachtet zu werden – aber nur im Bett, weiß Dahlke zu berichten.
Die Rolle der Frau wird dabei aber noch ausgeweitet. Durch ihre Hingabe und Liebe kann die Frau diejenige sein, die Heilung in eine zu sehr auf das Äußere ausgerichtete Sexualität bringt. »Schon seit dem Froschkönig sind neurotisch verzauberte Männer im Angebot, die auf den erlösenden Kuss beziehungsweise die richtige Liebestherapie warten und deren wundervolle Liebe frau sich durch entsprechend selbstlosen erlösenden Liebes-Einsatz verdienen kann«, so Dahlke.
Ohne Liebe ist Eros kein Eros
Bei aller Polarität und Spannung bleibt aber zu erkennen: Ohne Liebe ist Eros kein Eros. Zusammen mit Sexualität und geistig-seelischer Liebe ist Erotik jener Bereich, der als einziger an den beiden anderen Anteil haben muss. Physisches und Psychisches zu trennen hat sich in erotischen Fragen nie auf Dauer bewährt. Beide Ebenen sind unverzichtbar, damit eine Beziehung ihr ganzes Potenzial entfalten kann. Das Herz ist bei der Erotik immer mit im Spiel. Dorthin zielen Eros’ Pfeile, und dort liegt der Schlüssel zur Wiedervereinigung des Männlichen und Weiblichen in jedem von uns. Ohne Liebeserfahrung kommen wir nicht in die Tiefe, in der auch unsere Schattenseiten beleuchtet und befreit werden können. Zur Unterstreichung führt Dahlke ein Beispiel seiner Erfahrungen als Osho-Anhänger an. Im Osho-Zentrum im indischen Poona kamen ihm zufolge echte Anhänger von Eros nicht auf ihre Kosten, obwohl das Angebot an tantrischen Seminaren und freier Sexualität groß war. Dem Gesamtkunstwerk Liebe wurde das uneingeschränkte Angebot an sexuellen Erfahrungen nicht gerecht. Stattdessen konnte er eine um sich greifende Leere feststellen. »Sex ohne Erotik führt nicht zu Liebe, auch nicht bei Männern«, so sein Fazit.
In letzter Instanz, geht es bei der menschlichen geistig-seelischen Entwicklung darum, über Eros und Filia (Freundschaftsliebe) zu Agape zu gelangen – Agape, der göttlichen Liebe, die bedingungslos ist. Über die erotische und freundschaftliche Liebe entwickelt man sich höher zur Gottesliebe, was seine Analogie im Aufstieg der Kundalinienergie findet, die beim untersten Chakra, das für den reinen Überlebens- und Geschlechtstrieb steht, beginnt und bis zum obersten göttlichen Kronenchakra reicht.
Um zu dieser Ganzheit zu gelangen, ist es wichtig, die Polarität anzuerkennen, zu feiern, aber letztendlich auch zu überwinden. In der Erotik finden wir die vielleicht beste Gelegenheit, die Vereinigung der Gegensätze zu üben und damit dem Schicksalsgesetz der Polarität gerecht zu werden. Eros trägt schließlich die kämpferische Natur seines Vaters Ares in sich, aber auch die Liebeskultur seiner Mutter Aphrodite. Die Erkenntnis, dass wir – ganz nach dem Resonanzprinzip – Ähnliches in uns tragen wie der Partner, ist dabei von großer Wichtigkeit. Liebe ist dann die alles verbindende Kraft, die heilen kann. Sie steht über jeglichem Dualismus und macht den Weg frei für Agape.
Infos unter: www.dahlke.at