Außergewöhnliche Bewusstseinszustände können nicht nur durch Drogen, schamanische Rituale oder Grenzerfahrungen hervorgerufen werden: Man kann sie auch gezielt durch Atemtechniken wie das von Stan Grof entwickelte Holotrope Atmen auslösen. Dabei werden z.B. verdrängte Kindheits-Traumata wiedererlebt und können bewusst aufgelöst und integriert werden. Doch diese Atemarbeit führt weiter und begleitet den Anwender oft in perinatale (zur Geburt gehörende) oder in transpersonale (nicht-persönliche) Erfahrungen hinein und bietet so einen Weg zur Selbsterforschung sowie zur Ganzwerdung und Heilung durch die Integration verdrängter und unbewusster Teile unseres Selbst.
»Woher weißt du das alles?«, fragte mich meine Mutter mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination, nachdem ich ihr Erinnerungen an meine Geburt schilderte, zu denen ich nun drängende Fragen hatte. »Aber Mama, ich war doch dabei«, war meine Antwort. Ich hatte damals einen Workshop bei Rich Yensen besucht, einem ehemaligen Kollegen von Stan Grof, der auch mithilfe des Holotropen Atmens veränderte Bewusstseinszustände hervorrief, bei denen ich u.a. meine Geburt wiedererlebt hatte. Da war neben der erstickenden Erfahrung des Feststeckens im Geburtskanal stets die Stimme einer betenden Frau gewesen, die Sätze wie »Lieber Gott, nur noch das eine …« murmelte. Meine Mutter bestätigte, dass dies die Worte der todkranken Hebamme waren, die mich als letztes Kind zur Welt gebracht hatte, bevor sie wenige Tage darauf einem Krebsleiden erlag. Ein Damm war gebrochen und meine Mutter und ich redeten stundenlang über Details meiner Geburt, aber auch über die Geburten meiner Geschwister, was mir zu einem neuen Verständnis meiner selbst und meiner Angehörigen verhalf.
Die Entdeckung der perinatalen Matrizen, d.h. verschiedener typischer Traumata vor und während der Geburt, sind eines der großen Verdienste von Stan Grof: Unsere Urerfahrungen prägen uns oft mehr als spätere Kindheitserlebnisse, sprich die perinatalen Erfahrungen bilden meist den Kern unserer Charakterstrukturen und Neurosen, weil sich um sie, wie beim Sandkorn, um das in einer Muschel eine Perle wächst, Schicht für Schicht weitere Erfahrungen anlagern, um letztlich zu unserer »Persönlichkeit« heranzuwachsen – ohne dass wir wissen, welche Kernerfahrung darin steckt.
Die vier Matrizen
Grof unterscheidet vier perinatale Matrizen: Während die erste um die Einheit mit Mutter und Welt kreist und nicht umsonst als »ozeanische Phase« bezeichnet wird, ist die zweite Matrix an den Kollaps gekoppelt, der beim Einsetzen der Wehen und dem Platzen der Fruchtblase auftritt, wobei für den Säugling buchstäblich die Welt einstürzt und (noch) kein Ausweg in Sicht ist. Störungen in der ersten Matrix können dann z.B. ein fehlendes Urvertrauen zur Folge haben, während Störungen der zweiten ein Grundgefühl der Ausweglosigkeit und Depression auslösen können. Die dritte Matrix ist die eigentliche Geburt, in der es laut Grof um den aktiven Kampf ums Überleben auf dem Weg durch den Geburtskanal geht; steht dieser im Vordergrund, kann der betreffende Mensch später auch oft eine kämpferische »Du oder ich«-Mentalität entwickeln. Die vierte Matrix handelt vom »Hinausgeworfen-Werden« in eine (für den Säugling) kalte Welt, von Trennung, aber auch von Entspannung – mit ebenso typische Störungsmustern, die unser Leben bestimmen können.
Im Prozess des Atmens
Erleben wir diese Urerfahrung in unserem jetzigen Bewusstsein wieder, können wir die traumatische Urerfahrung integrieren und so unsere Störungen im Kern heilen, vorausgesetzt, es findet eine entsprechende therapeutische Nacharbeit statt. Darüber hinaus kann das Holotrope Atmen auch zu transpersonalen Erfahrungen führen, die sowohl spiritueller, mythologischer oder fantastischer Natur sein können. Hier betritt der Atmende das Reich des kollektiven Unbewussten, ein transzendentes Feld, in dem ein Kampf mit dem Drachen genauso erlebt werden kann wie ein Erlebnis der Erleuchtung, oft geknüpft an Erinnerungen an unsere Geburt oder spätere Traumata. Tatsächlich ist es einer der großen Vorteile der Methode, dass beim Holotropen Atmen, anders als bei herkömmlichen psychotherapeutischen Ansätzen, kein Thema »gesetzt« wird, sondern im Prozess des Atmens genau das zum Vorschein kommt, was gerade unter der Oberfläche lauert und darauf wartet, erinnert bzw. erfahren zu werden. Unterstützt wird dies durch Trance induzierende Musik und manchmal auch durch begleitende Körperarbeit während des Atmens.
Während Stan Grof in der Vergangenheit schon viel über die Transpersonale Psychologie und die perinatalen Matrizen geschrieben hat, hat er nun endlich zusammen mit seiner Frau Christina ein Werk verfasst, das sich primär dem Holotropen Atmen widmet und das in Kürze auch in deutscher Sprache erscheinen wird. Ein verständlich geschriebenes Kompendium, das die Erkenntnisse moderner Bewusstseinsforschung, Tiefenpsychologie und Anthropologie genauso mit einschließt wie spirituelle Praktiken und Traditionen aus aller Welt. Viele praktische Beispiele geben sowohl dem interessierten Leser wie auch dem Fachmann Einblick in die ungewöhnliche Methode. Und doch ist es kein Aufruf zum leichtfertigen Selbstversuch: Das Holotrope Atmen ist ein überaus mächtiges Werkzeug, das man nur im geschützten Rahmen einer durch einen Fachmann geleiteten Gruppe oder in der professionellen Therapie einsetzen sollte. Hier kann es allerdings Unglaubliches leisten und zeigt zugleich, welch großes Heilungs- und Transformationspotenzial in den Tiefen unseres Bewusstseins verborgen liegt.
Stanislav Grof ist ein Medizinphilosoph, Psychotherapeut und Psychiater. Er rief 1978 zusammen mit den Gründern des Esalen-Instituts, Michael Murphy und Dick Price die ITA (International Transpersonal Association) ins Leben und gilt als einer der Begründer der transpersonalen Psychologie. In ihr werden neben humanistischen Aspekten auch religiöse und spirituelle Erfahrungen der Psyche berücksichtigt. Christina Grof ist Autorin, Lehrerin, Künstlerin, Psychotherapeutin, Gründerin des Spiritual Emergence Network (SEN) und Mitbegründerin von Holotropic Breathwork TM ( Holotropes Atmen).
Holotropes Atmen
350 Seiten, € 29,90
ISBN: 978-03788-280-1
Erscheint im Winter 2013/14
Nachtschatten Verlag