Blick in die Zukunft

Der Blick in die Zukunft

Orakeln, Mantik, Zukunftsdeutung, Divination, Prophezeien, Wahrsagen – es gibt viele Begriffe für eine Kunst, die seit Menschengedenken betrieben wird. Seitdem die Spezies Mensch erste Kulturzeugnisse hinterlassen hat, wurden auch Spuren ihrer Versuche entdeckt, die zeigen: Das Vorhersehen von Ereignissen war ein zentrales Bedürfnis.

Blick in die Zukunft

Der griechische Gott Prometheus (gr.: der Vorausdenkende) lehrte die Menschen die Kunst der Vorhersage. Doch ganz so einfach hat er es uns nicht gemacht. Die meisten Mantiker brauchen einige Hilfsmittel, um den Blick in die Zukunft zu bewerkstelligen. Was einst simple Naturbeobachtung war, entwickelte sich in Jahrtausenden zu einer Kunst mit vielen Facetten. Doch woher kam der Wunsch, in der Zeit vorauszuschauen?

Wenn man bedenkt, dass Zeit doch eigentlich ein Konstrukt unseres Verstandes ist, stellt sich diese Frage umso mehr. Erst wenn wir anfangen nachzudenken, teilen wir jegliches Geschehen in Zeiteinheiten ein. Ansonsten ist einfach alles – mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als untrennbarer Einheit. Im zeitlosen Seinszustand ergibt sich kaum das Bedürfnis, über die Vergangenheit zu sinnieren oder einen Blick in die Zukunft zu werfen. Hat der Wunsch vorauszusehen also mit zunehmendem Bewusstsein eingesetzt?

Alles weiß ich, Odin, wo du dein Auge bargst:
In der vielbekannten Quelle Mimirs.
Völuspa 21

Dem Schauen in die Zukunft liegt der Gedanke zugrunde, dass das menschliche Bewusstsein Zeit und Raum transzendieren kann. Dies ist in veränderten Bewusstseinszuständen möglich. Vielleicht kam das Experimentieren mit veränderten Bewusstseinszuständen also zuerst … Fest steht, dass der Wunsch, das Ungewisse zu erforschen, schon ziemlich alt ist. In seinem Leben sieht der Mensch sich mit den Launen der Natur konfrontiert und versucht diese kontrollieren. Bei den Naturvölkern ist dies noch eine weniger ausgefeilte Angelegenheit als bei den klassischen Hochkulturen, die mit der Zeit immer aufwendigere Rituale und Zeremonien für die Divination ersonnen haben.

In diesem Zug sind auch Kalendersysteme entstanden: Man wollte eine Regelmäßigkeit in den Geschehnissen des Lebens finden. Zyklen waren dabei die Ankerpunkte, die diese Regelmäßigkeit aufzeigten. Aus dem Beobachten der Natur und dem Erkennen zyklischer Ereignisse ergaben sich Muster, die man im Laufe der Jahre wiedererkannte. Besonders das Geschehen der Mondzyklen und der weiblichen Mens (lat.: mens = Monat) spielten anfangs eine wichtige Rolle. In Höhlen der Jungsteinzeit hat man Zeichnungen gefunden, die nahelegen, dass die Tage der Mondzyklen abgezählt wurden.

Zahlen haben schon immer eine enge Beziehung zum Orakeln gehabt. Zala bedeutet im Altdeutschen »eingekerbtes Merkzeichen«. Die Verbindung zu den Runen, die bis heute zum Orakeln verwendet werden, lässt sich damit leicht nachvollziehen. In den meisten Schriften sind die Zahlen von 1 bis 4 noch heute durch Striche und Punkte wiedergegeben – Relikte aus Zeiten, wo man mit Stöckchen und Steinchen zu zählen begann. Viele alte Orakelformen, die sich bis in unsere Zeit erhalten haben, beinhalten das Abzählen von kleinen Gegenständen – beim I-Ging waren es anfangs Schafgarbenstängel; das heute bekanntere Werfen von Münzen ist erst zu Kriegszeiten entstanden.

Aus diesen Zähl-Zeichen entwickelte sich schließlich die Schrift. Die chinesischen Schriftzeichen, die ägyptischen Hieroglyphen, die Keilschrift der Sumerer sowie die griechische Schrift, die sich aus dem Phönizischen entwickelte, waren ursprünglich in Piktogrammen geschrieben. Anfangs ging es beim Aufschreiben hauptsächlich um das Abzählen und Festhalten von Ist-Zuständen. Damit wuchs das Bewusstsein für Erinnerung, für Zeit – und somit auch für die Zukunft.

Odin wird häufig zusammen mit den Raben Hugin (»der Gedanke«) und Munin (»die Erinnerung«) dargestellt.

Das Abrufen von Botschaften aus der Zukunft war in komplexen Hochkulturen ein Privileg der Herrscher und ihres Stabes. Propheten und Seher erlangten hohes Ansehen – und mussten um ihr Leben fürchten, wenn ihre Voraussagen nicht zutrafen. Während die Divination bis zum Beginn des Mittelalters eine große Rolle im Leben der Menschen spielte, ist es in den heutigen rational geprägten Kulturen so, dass Prophezeiungen kaum noch ernst genommen werden. Zu komplex scheinen die Dinge geworden zu sein, um vorausgesagt zu werden, und zu wenig beweisbar die Behauptung, der Blick ins Ungewisse sei überhaupt möglich.

Dennoch haben SeherInnen in der ganzen Welt immer wieder für Furore gesorgt, wenn sie Wahres voraussagten, so z.B. Nostradamus, Marie Anne A. Lenormand, Madame Blavatsky oder Edgar Cayce. Es scheint also doch etwas dran zu sein an der Kunst des Wahrsagens. Neueste Erkenntnisse der Chaosforschung, Psychologie, Physik und Mathematik liefern zumindest einige wichtige Puzzleteile im großen Bild der Zukunftsdeutung. Je mehr auf der Grundlage von Energie gedacht wird, desto mehr macht Wahrsagerei Sinn. Wir sind auf energetischer Ebene mit allem verbunden, so dass uns auch das Wissen aus jeglichen Bereichen zur Verfügung steht. Auf energetischer Ebene ist Zeit zudem relativ, so dass längst Vergangenes und Zukünftiges sich hier offenbaren können.

Meist wird von Zufall gesprochen, wenn jemand z.B. das Fallen einer Münze voraussagt. Schenken wir dem Fallen der Münze jedoch unsere ganze Aufmerksamkeit, wird aus Zufall ein Ereignis, das Bedeutung hat. Es geht nicht darum, dass die Münze etliche Male geworfen werden und dafür eine Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden kann. Es geht um diesen einen Augenblick. Und der ist eben nicht wiederholbar. Er ist genau so gemeint – vom Universum, der Natur, dem Spirit oder wie auch immer man es nennen will.

Doch absolute Weissagung ist selten möglich. Meist werden nur Tendenzen aufgezeigt, denn alles ist in stetem Wandel und beeinflusst sich gegenseitig. Es kommt auf jeden und alles an. Eine Weissagung ist wie eine Momentaufnahme, die unbewusste Ebenen »scannt« und für uns sichtbar macht. Wenn wir dann ein Geschehen als Zeichen verstehen, geschieht dies häufig intuitiv. Es erzeugt einen Widerhall in uns, der uns spontan an etwas erinnert.

Der Historiker Wolfgang Hingst, der ein ausführliches und unterhaltsames Kompendium zur Geschichte der Zukunftsdeutung geschrieben hat, unterscheidet zwischen deutenden und seherischen Methoden. Seher, wie sie z.B. im Schamanentum zu finden sind, relativieren Raum und Zeit und sehen konkrete Situationen auf anderen Ebenen. Deuter machen eher eine Analyse gegenwärtiger Situationen, die sie zu beeinflussen versuchen. Sie nehmen die Trends einer Entwicklung wahr. Zu diesen Methoden zählen die Astrologie und das I-Ging.

Hilfsmittel und Techniken zum Weissagen waren: Trance, Ekstase, halluzinogene Pflanzen, magische Gegenstände sowie tierische Überreste in Kombination mit Zahl und Formel. Bereits in der Steinzeit finden sich Hinweise auf die Zukunftsdeutung. So gab es in prähistorischer Zeit zahlreiche Orakelorte. In den urgeschichtlichen Felshöhlen Frankreichs fanden sich Felsgravuren mit geometrischen Mustern und Schälchen in regelmäßiger Anordnung, die als divinatorische Hilfsmittel gedeutet werden. Das Wort oraculum bezeichnet einen Ort, an dem die Stimmen der Götter vernehmbar werden.

Kuriose Orakeltechnik:
Zum Weissagungsrepertoire Schwarzafrikas gehört das Mäuseorakle der Baule und Guro an der Elfenbeinküste. Hier werden Fledermausknochen oder Palmrinden mit feinen Kerbmustern in einer bestimmten Weise angeordnet. Wenn sich die Mäuse auf der Nahrungssuche durch das Arrangement bewegen, verschieben sich die Plättchen oder Knochen und es entsteht ein Muster, welches interpretiert wird. Da Mäuse im Erdboden leben, wird ihnen nachgesagt, dass sie das Wissen der Erde in sich tragen.

Die Grundlage der Weissagekunst stellt das Beobachten der Vorgänge in der Natur dar. Wind, Erde, Rauch, Wolken, Sand, Feuer, Wasser, Sterne – alles wurde registriert und in seinen Bewegungen und Rhythmen sinnvoll in einen Zusammenhang gestellt. Omen bedeutet ursprünglich »Vogelzeichen«. Aus dem Vogelflug lasen Seher etlicher Kulturen die Zukunft. Im Neolithikum deutete man die Zeichnungen und Formen der Knochen von verendeten Tieren. Später sengte man z. B. in China Knochen oder Schildkrötenpanzer an und interpretierte die Risse, die dadurch entstanden. In Kleinasien fand man in Höhlen kleine Tierknochen von Ziegen und Schweinen: Aus ihnen wurden Orakel-Würfel hergestellt.

Die vier Elemente waren grundlegend bei der Mantik. Für Orakel wurde aus dem Wasser geschöpft, wurden die Bewegungen des Windes im Rauch und auf dem Sand beobachtet. Besonders häufig finden sich Orakel, die auf dem Element Erde beruhen. Die ursprüngliche Geomantie (»Erdweissagung«) war dabei die »Wissenschaft des Sandes«. Sie war in der Antike im arabischen Raum und später in Nord-Afrika populär und wurde nur noch von der Astrologie überboten.

I-Ging
Im I-Ging gibt es 64 Zeichen. Die Ursprünge dieses archaischen Orakels werden der Shang-Dynastie (16. – 11. Jahrhundert v. Chr.) zugeordnet. Das Schrifzeichen für Wandlung yi in seiner ältesten Form wurde auf Orakel-knochen der Shang-Dynastie gefunden. Es soll den Halbmond und seinen Schatten darstellen. Beim I-Ging gibt es insgesamt 64 mal 64 verschiedenen Übergangszustände oder Wandlungen, also 4096 mögliche Antworten. Es bietet somit ein äußerst umfangreiches Repertoire an Antworten. Die erste vollständige Übersetzung (1924) des Orakelbuches, das aus etlichen Weisheitssprüchen besteht, stammt von Richard Wilhelm und machte das I-Ging auch bei uns bekannt.

Bei der Erdweissagung wurden z. B. die Linien und Muster im Treibsand gedeutet. In späteren Zeiten wurde ein mit Sand bestäubtes Brett verwendet, das mit Punkten oder Strichen versehen wurde. In Indien gab es ein Brettorakel mit 8 mal 8 Feldern, auf denen in bestimmter Reihenfolge Ziffern von 1 bis 64 angeordnet waren. Auf das Zahlen-Brett wurde vom Frager ein Reiskorn geworfen. Die beide letzten Methoden erinnern an das I-Ging, das aus 64 Trigrammen besteht, die in Punkten und Strichen dargestellt werden.

Es wird angenommen, dass das Orakeln dem neolithischen Schamanentum entsprungen ist. Der Anteil weiblicher Schamaninnen nimmt mit zunehmendem Alter archäologischer Funde deutlich zu. Schamanen waren in den Nomanden- und Jägerkulturen das Zentrum der Gemeinschaft, Vermittler zwischen Dies- und Jenseits. Bekannte alte Schamanenkulturen waren die keltischen Druiden oder die Priester des tibetischen vorbuddhistischen Bön. Das Eintauchen in Zustände, die Verborgenes sichtbar machen, wurde mittels archaischer Ekstasetechniken und Trance, aber auch durch die Verwendung halluzinogener Pflanzen bewerkstelligt. Noch heute verwenden z.B. Indigene in Mittel- und Südamerika die Koka-Pflanze, den Stechapfel, Zauberpilze sowie den San Pedro- und den Peyote-
Kaktus.

Der germanische Ur-Seher:
Odin suchte nach Weisheit und gab ein Auge als Pfand gegen einen Schluck aus Mimirs Brunnen der Weisheit, der unter dem Lebensbaum Yggdrasil sprudelte. Damit wurde Odin Vater aller Seher. Von da an konnte er die Gestalt wechseln und auf seinem achtbeinigen Pferd Sleipnir (»der Dahingleitende«) fliegen (beides erinnert an das Schamanentum). Dem Mythos zufolge hängte er sich 9 Tage an die Weltesche Yggdrasil und ersann dort die Runen, die auch heute noch als Orakel benutzt werden.

Auch die Sumerer (ab ca. 3000 v. Chr.) beherrschten die Orakel-Kunde. Die Astrologie war hier von zentraler Bedeutung. Das große astronomische Wissen der alten Kulturen Mesopotamiens ist unumstritten. Hier kannte man bereits die exakte Dauer des synodischen Monats und besaß ein ausführliches Wissen über die Venus-Phasen. Gleiches gilt für die Maya-Kultur Mesoamerikas, deren Wissen über die Geschehnisse am Himmel in den Maya-Kalender mündeten, der noch heute zum Vorhersagen und Deuten verwendet wird.

Das divinatorische Wissen aus dem alten Orient breitete sich aus und ging auf die Ägypter und die alten Griechen über. Ein Zeugnis davon ist die große Amun-Orakelstätte in der Oase Siwa in der libyschen Wüste. Sie bestand über viele Jahrhunderte und ist ein Ort, an dem gleich mehrere Quellen entspringen. Ein steinernes Idol, beschrieben als ein mit Smaragden und anderen Edelsteinen geschmücktes Ei, ähnlich dem »Omphalos« des Orakels in Delphi, war dort errichtet. Das Fundstück ist heute im Boston Museum of Fine Arts zu bestaunen. Bevor Alexander der Große seinen Feldzug gegen Persien antrat, besuchte er 332 die Oase, um das Urteil der Götter zu erhalten.

Mitte des 1. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung hatten die Griechen ein ausgefeiltes System der Zukunftsdeutung entwickelt. Auch hier versetzten sich Medien in Trance und Ekstase oder man beobachtete den Vogelflug und las aus den Eingeweiden geopferter Tiere das Schicksal, wozu in der griechischen Kunst eine Reihe von Darstellungen existieren. Mehr als 40 überregionale Orakelstätten gab es in der altgriechischen Hemisphäre. Die bekannteste davon dürfte Delphi sein, in der die Pythia weissagte. Weniger bekannt ist, dass außerhalb des Orakels der »Fels der Sibylle« steht, der ein Relikt eines archaischen Vorgänger-Heiligtums darstellt.

Tarot
Das Tarot taucht mit den ersten Spielkarten im 14. Jahrhundert auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde es durch esoterische Gesellschaften wie den britischen Hermetic Order of the Golden Dawn entdeckt. Die Ordensmitglieder Arthur E. Waite und Pamela Colman Smith kreierten ebenso wie Aleister Crowley und Frieda Harris beliebte Versionen des Tarot-Kartensets. Das Tarot enthält Symbole aus der Kabbala, der Alchemie, der Astrologie, der Mythologie und der vier Elemente-Lehre. Es dient als Spiegel innerer Prozesse und stellt damit ein Werkzeug zur Selbsterkenntnis, zum Aufspüren unbewusster Inhalte dar. Die großen Arkana bilden in ihrer Reihenfolge zudem eine archetypische Heldenreise ab.

Dass die Kunst des Deutens in der Antike eine gängige Sache war, lässt sich in der Literatur antiker Schriftsteller ablesen, die in ihren Werken das Deuten von Zeichen, Orakeln, Traumvisionen und den Gestirnen als alltäglichen Usus darstellen. Verewigt sind auf diese Weise der blinde Seher Te-reisias, der aus dem Flug der Vögel deutete, oder Kassandra, die herannahendes Unheil sehen konnte. Auch der Philosophie ist zu entnehmen, dass der mythologische Zusammenhang zwischen Sternenhimmel und Erdenschicksal fest in der Mentalität verankert war. Die antike Welt war erfüllt von Zeichen und Omen, von verborgenem Sinn und dem ewigen Mysterium.

Leider verlor die Kunst des Weissagens nach der Antike langsam an Bedeutung. Zur Zeit Goethes war sie fast vergessen. Die Kirche hatte mit Erfolg dagegen angekämpft. Scheinbar stellten Menschen, die nicht als Gottes Diener fungierten und dennoch Wahrheiten verkündeten, eine Konkurrenz dar. Seit dem letzten Jahrhundert erfreuen sich Orakeltechniken jedoch wieder vermehrter Beliebtheit – ob mittels Pendel oder Glaskugel, Spielkarten wie dem Tarot oder den Münzen des I-Ging u.v.m. Die menschliche Neugier wird wahrscheinlich nie versiegen und somit immer neue Methoden für den Blick hinter den Schleier der Realität hervorbringen.

Buch-TIPP
Botschaften aus der Zukunft
Wolfgang Hingst
Botschaften aus der Zukunft
Kulturgeschichte der Weissagungen
von der Antike bis zur Gegenwart

442 Seiten, € 19,95
ISBN: 978-3-86616-203-7
Verlag Via Nova