Methoden zur Erkundung des Schicksals gibt es viele – von der Deutung des Vogelflugs bei den alten Römern bis hin zu Astrologie-Apps für das Smartphone. Offenbar haben wir Menschen aufgrund unseres Zeitbewusstseins einen inneren Drang, mehr über die Richtung des Schicksals und über unsere Zukunft zu erfahren. Anhand einer Betrachtung der gängigsten Orakelsysteme – Runen, Tarot und I Ging – möchten wir diese nicht nur kurz vorstellen, sondern auch auf die innere Struktur der Zeit eingehen, die sich in deren spezifischen Lege- und Auslegetechniken zeigt.
Beginnen wir bei unseren eigenen Wurzeln: Obgleich Runen lange aufgrund des Missbrauchs durch das NS-Regime verpönt waren, sind sie inzwischen wieder zum beliebten Weissagungsinstrument geworden. Dabei kommen verschiedene Runenreihen zur Anwendung wie etwa das ältere Futhark, das mit seinen 24 Zeichen auch als gemeingermanisches Runensystem bekannt ist. Es war bereits im 1. Jahrhundert n. Chr. über weite Teile Nord- und Mitteleuropas verbreitet und war offenbar kein germanisiertes Alphabet, also keine Schrift im eigentlichen Sinne, sondern ein für magische und mantische Zwecke ersonnenes System von Symbolen. Verwendung finden heute auch andere, aus späterer Zeit stammende Reihen wie etwa die aus 16 Zeichen bestehende Nordische Runenreihe oder daraus abgeleitete Systeme wie die 18 Zeichen umfassenden Wikinger-Runen.
Runen-Orakel und die drei Nornen
Schon der römische Geschichtsschreiber Tacitus beschreibt das Runen-Orakel der Germanen: »Das Verfahren beim Losorakel ist recht einfach: Sie schneiden von fruchttragenden Bäumen einen Ast ab, schneiden ihn in Scheiben, versehen diese mit Zeichen und streuen sie planlos über ein weißes Tuch.« Weiter schreibt er, dass dann der Stammespriester oder Familienälteste nach Gebeten und Beschwörungen nacheinander drei der Scheiben aufhebt und sie gemäß der eingeritzten Runen deutet. Runen-Orakel blicken also auf eine lange Geschichte zurück und werden auch heute noch ähnlich gezogen, obgleich meist auf das Handritzen der sprichwörtlichen »Buchstaben« auf die Scheiben von Buchen-, Birken-, oder Eschenästen verzichtet wird.
Dabei gibt es einen engen Bezug zwischen den drei gezogenen Runen und den Schicksalsgöttinen, den drei Nornen Urd, Werdandi und Skuld, die in der nordischen Mythologie am Fuße des Weltenbaums Yggdrasil sitzen und von dort aus die Geschicke aller Wesen lenken: Sie bestimmen nicht nur über das Schicksal von Tieren und Menschen, sondern auch über das der Götter. Ähnlich wie die römischen Parzen oder die griechischen Moiren werden die Nornen als drei unterschiedlich alte Frauen dargestellt: Urd, deren Name »Ursprung« oder »Schicksal« bedeutet, ist ein altes Weib, Werdandi (»das Werdende«) eine Frau mittleren Alters und Skuld (»das Geschuldete«) eine jugendliche Schönheit.
Die Plätze der drei gezogenen Runen beim Orakel entsprechen den Nornen. Die erste Rune zeigt Urd, den Ursprung des gegenwärtigen Problems bzw. der Frage, die man den Runen gestellt hat. Sie ist die Rune der Vergangenheit. Die zweite Rune gehört Werdandi, der sich im Fluss befindlichen Gegenwart. Sie zeigt, was man jetzt tun kann, um sein Schicksal zu wenden. Die dritte Rune entspricht Skuld und wirft einen Blick in die unmittelbare Zukunft: Welche Schuld, welches Karma laden wir mit unseren Handlungen auf unsere Schultern?
Hier zeigt sich, dass Runen keineswegs irgendeine fest determinierte Zukunft aufzeigen, sondern wie alle anderen seriösen Orakel eine ausgeklügelte Methode der Selbstreflexion darstellen. Sie helfen uns, verschiedene Aspekte unserer jeweiligen Frage im Spektrum der Zeit und im Rahmen ihrer eigenen Dynamik zu untersuchen und dann zu einer Entscheidung zu gelangen. Ist man sich der eigenen Motive (Urd) bewusst? Ist man sich darüber im Klaren, wie man sein Schicksal in der Gegenwart (Werdandi) wenden kann? Ist man bereit, den Preis dafür (Skuld) zu bezahlen und die Folgen in Kauf zu nehmen?
Tarot-Legesysteme
Das Tarot ist ein wesentlich jüngeres Orakel und basiert auf mittelalterlichen Spielkarten, wenn auch manche Esoteriker behaupten, die Wurzeln des meist 78 Karten umfassenden Sets lägen im alten Ägypten. Kabbalistische und astrologische Bezüge wurden erst im 19. Jahrhundert durch Éliphas Lévi, Oswald Wirth, Arthur Edward Waite, Aleister Crowley und andere Mitglieder des Golden Dawn in das Kartensystem eingeführt. Die ältesten Karten sind zweifelsfrei die der »Kleinen Arkana«, 4 x 14 = 56 Karten, die mit Zahlenkarten von 1 bis 10 und jeweils 4 Hofkarten weitgehend einem normalen Kartenspiel entsprechen. Hinzu kommen die 22 Karten der erst im Spätmittelalter aufkommenden »Großen Arkana«, die zunächst als Trümpfe fungierten und später als Stationen einer spirituellen Heldenreise gedeutet wurden. Auf dieser durchschreitet der Narr (die Karte 0 der Großen Arkana) 21 Etappen seiner archetypischen Odyssee und begegnet dem Magier (1), der Hohepriesterin (2), dem Herrscher (3), Tod (13) und Teufel (15) etc., bis er auf Station 21 (Die Welt) ganz Herr seines eigenen Lebens wird und im Sinne von C.G. Jung den Prozess der Individuation abschließt.
Das einfachste Legesystem beim Tarot entspricht dem o.g. Prinzip der Runen: Drei Karten werden gezogen, wobei die erste der Vergangenheit entspricht, die zweite der Gegenwart und die dritte der Zukunft. Manche verbinden diese drei Karten zudem mit den Fragen: (1) Was spricht dafür? (2) Was spricht dagegen? (3) Was geschieht, wenn ich es tue? Wobei die letzte Frage wieder an die Norne Skuld erinnert.
Daneben gibt es viele komplexe Lege- und Deutungssysteme, in denen z.B. zwei weitere Karten gezogen werden, die über und unter die zentrale Karte (2) platziert werden – diese symbolisieren dann die bewussten (oben) und unbewussten (unten) Motive des Fragers und helfen so bei der Entscheidungsfindung. Daneben gibt es Systeme mit 10 Karten, bei denen u.a. die ferne Vergangenheit, die jüngere Vergangenheit, die unmittelbare Zukunft und das finale Ergebnis oder Ziel beleuchtet werden. Genaueres dazu findet man in der einschlägigen Literatur. Hier geht es uns darum zu zeigen, dass auch im Tarot ein Jetzt im Fluss angenommen wird und die Zukunft erst von unseren gegenwärtigen Entscheidungen und Handlungen geprägt wird. Es hilft uns hierbei, indem es innere Konflikte und Konstellationen spiegelt und thematisiert, so dass wir uns mit diesen auseinandersetzen und entsprechend agieren können.
Das Buch der Wandlungen
Das chinesische I Ging ist wohl das älteste erhaltene Orakel und zugleich eines der ältesten Bücher der Menschheit – es wurde schon 1000 Jahre vor unserer Zeitrechnung von Herrschern genutzt, um über Krieg und Frieden und andere wichtige Belange zu entscheiden. Auch bei uns hat es zahlreiche Anhänger, wobei die meisten die 6 Striche, die zusammen eines von 64 Zeichen im Buch der Wandlungen ergeben, durch das 6-malige Werfen von 3 Münzen bestimmen. Nur wenige Frager nutzen das ursprüngliche Schafgarbenorakel, bei dem 49 getrocknete Schafgarbenstängel in einer komplizierten Prozedur gezogen werden, um zu den 6 Strichen zu gelangen, die am Ende das Zeichen ergeben.
Aufgebaut werden die Zeichen von unten nach oben; zuerst zieht man die Stängel für die unterste Linie, die auch der erste Platz genannt wird. Jede Linie kann ein durchgezogener Strich (Yang) oder ein unterbrochener Strich (Yin) sein – eine positive oder negative Teilnachricht. Weiterhin bilden die ersten drei Linien ein Triplett, das einem von 8 Grundzeichen entspricht, ebenso die oberen drei Linien, die ein zweites Grundzeichen bilden. Das Zeichen Nr. 13, Die Gemeinschaft mit Menschen, zeigt z.B. Feuer (unteres Triplett) unter dem Himmel (oberes Triplett) und symbolisiert damit ein Lagerfeuer unter freiem Himmel, um das sich Leute in Harmonie zusammenfinden.
Das I Ging ist im Vergleich zu Runen oder Tarot ein überaus komplexes System, das mit seinen Strichen mehr an binäre Computercodes und seinen Tripletts an den genetischen DNS-Code erinnert – weitgehende Untersuchungen sind in dieser Hinsicht bereits angestellt worden. Auch die zeitliche Struktur innerhalb jedes einzelnen Zeichens ist komplex: So stellt die unterste, erste Linie die ferne Vergangenheit dar, der zweite Platz bezeichet die nicht ganz so ferne und der dritte Platz die unmittelbare Vergangenheit. Auf dem viertem Platz, dem untersten des zweiten Tripletts, findet man die unmittelbare Zukunft, auf dem fünften die etwas entferntere Zukunft und erst der sechste Platz weist auf den eigentlichen Ausgang des Unternehmens hin. Auch hier ist die Gegenwart selbst ein sich wandelndes Nichts zwischen den Zeichen, zu flüchtig, um dargestellt zu werden.
Darüber hinaus kennt das I Ging sich wandelnde Linien; eine durchgezogene Linie (Yang), die sich in eine unterbrochene (Yin) verwandelt, sowie eine geteilte Linie (Yin), die zur durchgezogenen (Yang) wird. So steht am Ende mancher Orakelbefragung nicht ein Zeichen, sondern eines, das sich in ein anderes verwandelt und somit einen zusätzlichen Zeit- und Deutungsaspekt enthält, der im Buch der Wandlungen für die einzelnen Striche von Konfuzius und anderen chinesischen Weisen im Laufe der Jahrtausende kommentiert wurde.
Für welches Orakel Sie sich auch entscheiden: Seien Sie sich der flüchtigen Gegenwart bewusst. Sie ist die einzige Zeit, die wir wirklich haben und in der wir etwas ändern können. Seien Sie sich aber auch der möglichen Konsequenzen jeder Handlung bewusst, um die Schuld an und in der Zukunft gering zu halten. Und vergessen Sie nicht zu leben – Orakel sind kein Lebensersatz, sondern lediglich ein hilfreicher Spiegel.
I Ging: Das Buch der Wandlungen
704 Seiten, € 9,90
ISBN: 978-3-423-34236-0
dtv